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Am 17. Januar 1910 jtarb nach kurzer Krankheit
Kgl. Geheimer Kommerzienrat und Vertagsbuchhändler,
Typograph; des Heil. Äpoßolifd)en Stuhles.
Schwer ift der Verlust, den die Musica sacra
durch das Hinßheiden dtefes hervorragenden Mannes
erlitten hat. Mit weitausfdjauendem Blick ßand er an
der Wiege der kirchenmupkalifchen Reform und ver¬
wirklichte mit opferfreudigem Herzen die hohen Ideale
eines. Proske und Witt durch Verlagsübernahme ihrer
literarifdjen Unternehmungen. Außer der „Musica di-
vina“, den „Fliegenden Blättern für katbol. Kirchen-
mupk“ und der „Musica sacra“ verdankt ihm auch
das aus dem „Cäcilienkalender“ hervorgegangene
„RfrcbenmufiiHjilf&e jabrbueb“ feine Entßehung
und Unterftütjung; der glückliche Fortbeßand desfelben
iß eine Frucht feines energifchen Willens. Was er als
Chef der Weltfirma Puftet, befonders auf liturgifchem
Gebiete, in den langen fahren feines raßlofen Schaffens
und Wirkens geleiftet, hat wiederholt die Anerken¬
nung von Kirche und Staat gefunden; die fdjönfte Gabe
aber für den Edelmann im watjrßen Sinne des Wortes
ßnd die Blumen der Dankbarkeit, mit denen die Armen
und Hilfsbedürftigen das Grab ihres Wohltäters
fd)mücken. Mit der Gefehkbte der katbolißhen Kirchen-
muflk wird fein Name dauernd verknüpft bleiben.
R. T. P,
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Vorwort
D ie wiffenßhaftlichen Auffätje des I. Teils berückßd)tigen diesmal
Bayern, Frankreich und Böhmen. 3 war bat der italienifche Prießer
und fpätere Bifdjof Steffani verfchiedenen Ländern die Spuren feiner
diplomatißhen und künßlerißhen Tätigkeit aufgedrüdct, aber dennoch darf
die Zeit feines Münchener Aufenthalts (Idjer mit zu der intereffanteften
feines reichbewegten Lebens gerechnet werden, wie die vom Verfaffer
forgfältig erforfdjten bayerifchen und römifchen Quellen aufweifen. Nicht
minder wichtig ift für Deutfdjland die Bekanntßhaft mit dem fchon faft
vergeffenen Mei|ter des franzöpßhen klafpßhen Orgelfpiels, JeanTitelouze;
und was von Böhmens liturgißh - mupkalißhen Schäden der verdiente
t fjymnenforßher Dreves in feinen Cantus bohoem. in den Kreis der
Betrachtung gezogen, wird nach größtenteils unbekannten Handfchriften
erweitert und vertieft.
Die Erfchließung und Verwertung der koßbaren Proskefchen Mupk-
Bibliothek in Regensburg durch die Munipzenz Sr. Exzellenz des H. H.
Bißhofs Dr. Antonius von Henle, und des H. H. Domkapitels iß in der
mußkwiffenßhaftlichen Welt überall mit Freude und Dank begrüßt worden.
Leider ließ pch die beabßd)tigte Publikation des Katalogs der fog. „Antiqui-
tates Ratisbonenses“ für diefen Jahrgang nicht mehr bewältigen und mußte
daher nebß einer Beßhreibung der Bibliothek für den 24. Jahrgang zurück-
geßellt werden; ebenfo wegen Raumüberßhreitung eine ßilkritißhe Studie
über „Messe und Madrigal bei Palestrina“.
Im II. Teilpnden pd) auch diesmal eine Reihe von „Kleinen Beiträgen“
niedergelegt, die den praktißhen Kirchenmupkern befonders des Allgemeinen
Cäcilienvereins dienen follen. Der III. Ceil endlich unterrichtet in Referaten
und Kritiken, die manchen neuen Baußein zu den befprod>enen Werken
liefern.
Mit warmem Dank darf die Redaktion auch heuer wieder der edel¬
mütigen Unterßütjung der Görres-Gefellßhaft gedenken.
Regensburg, am Feße Gregors des Großen
Der Herausgeber
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EI
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flgostino Steffani
Biographische Skizze von Dr. Alfred Einstein—München
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I. Münchener Zeit. 1654—1688.
Quellen
D ie archivalischen Quellen für die Biographie Agostino Steffanis sind, ent¬
sprechend seinem wechselvollen Leben und der weiten Verzweigung
seiner Beziehungen, lückenhaft und weit zerstreut. In München verwahrt
das Kgl. Hausarchiv, das Kgl. Allgemeine Reichsarchiv, und in dem Personal¬
akt Steffanis das Kgl. Kreisarchiv einige wertvolle Aktenstücke. Daneben ent¬
halten die ebenfalls im Kreisarchiv aufbewahrten Hofzahlamtsrechnungen
einige karge Eintragungen, die durch Zahlbücher und andere Belege im Kgl.
Kreisarchiv in Landshut ergänzt werden. Eine weit ergiebigere Fundgrube
ist das Kgl. Geheime Staatsarchiv, dessen schwarze Abteilung manchen Bei¬
trag zu Steffanis Münchener Zeit liefert, während die blaue Abteilung vornehm¬
lich einen sehr umfangreichen, jedoch nicht vollständig erhaltenen Briefwechsel
Steffanis mit Kurfürst Johann Wilhelm von der Pfalz bewahrt, der für diesen
Teil der Lebensgeschichte Steffanis jedoch geringe Ausbeute liefert.
Unter den römischen Fundorten nimmt die erste Stelle das Archiv der
Congregazione de Propaganda fide ein, das nicht nur die regelmäßigen Berichte
Steffanis an die Propaganda, sondern auch einen großen Teil seiner Nachla߬
papiere birgt Wie diese bändereiche Korrespondenz sich von den in den
hannoveranischen Archiven — Staats- und katholisches Pfarrarchiv — ver¬
wahrten Akten getrennt hat und nach Rom gewandert ist, habe ich an an¬
derer Stelle berichtet') Neben dieser Quelle kommt das vatikanische Archiv
und die vatikanische Bibliothek kaum in Betracht
Diese Münchener und römischen Akten sind es, die für die vorliegende
Skizze benützt worden sind. Weder die hannoveranischen Akten, die nach
einigen von Woker gebotenen Proben*) manches, auch die künstlerische
Wirksamkeit Steffanis erhellende Material darbieten müsse*), noch die in einer
großen Zahl von deutschen und ausländischen Archiven und Bibliotheken
zerstreuten Korrespondenzen Steffanis habe ich gesehen. Danach bedarf es
nicht der Betonung, wie sehr diese biographische Skizze der Ergänzung und
Verbesserung bedürftig ist Dennoch hielt ich es für nützlich, wenigstens
einen Teil meiner Arbeit einmal zum Abschluß zu bringen, die über Steffanis
frühere Lebenszeit bekannten Tatsachen mit einigen neuen zu einem Ganzen
zu vereinigen, und, zumeist durch Wiedergabe der Dokumente, das Gerüst
für eine umfassendere Lebensbeschreibung des Künstlers zu liefern, die fast
') Zeitschrift der Internationalen Musik-Gesellschaft X, 6.
*) In einer kurzen Lebensbeschreibung Steffanis in der Zeitschrift „Der Katho¬
lik“, 1887.
Klrchcanoalk. Jahrbuch. 23. Jahrg. 1
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Agostino Steffani
die ganze Zeit- und Kunstgeschichte jener Jahre in ihren Rahmen hineinziehen
könnte und müßte. Auf Steffanis künstlerische Tätigkeit fällt dabei nur hin
und wieder ein Seitenblick: seine Stellung als Künstler ist zu weitläufig ge¬
gründet, als daß sie in dieser knappen Skizze erörtert werden könnte. Ins¬
besondere habe ich sein Schaffen als Duettkomponist, das ich gerne einmal
zusammenfassend behandeln möchte, kaum berührt.
Es drängt mich, auch an dieser Stelle für die meiner Arbeit gewordene
Unterstützung meinen herzlichen Dank abzustatten, mag auch die folgende
lange Liste in groteskem Mißverhältnis zu den bescheidenen Ergebnissen der
Skizze stehen: den Vorständen und Beamten des Kgl. Haus- und Staatsarchivs,
des Allgemeinen Reichs- und des Kreisarchivs, ferner der Kgl. Hof- und Staats¬
bibliothek zu München; des Kgl. Kreisarchivs zu Landshut; Herrn Geheimrat
Prof. Paul Kehr, Prof. Karl Schellhaß, wie überhaupt den hilfsbereiten Mit¬
gliedern des Istituto Storico Prussiano zu Rom, insbesondere Herrn Dr. Phi¬
lipp Hiltebrandt; dem Präfekten der vatikanischen Bibliothek, R. P. Franz
Ehrle; den verehrungswürdigen Vorständen und Beamten des Archivs der
Congregazione de Propaganda fide; vor allem aber Monsignore Andreas
Frühwirth, päpstlichen Nuntius, dessen persönlicher Fürsprache ich die libe¬
rale Benützung dieser Akten eigentlich verdankte; endlich Monsignore Luigi
D™ Camavitto, apostolischer Protonotar und Arciprete von Castelfranco. —
Unter den Biographien Steffanis hat, nächst dem Artikel in Walthers
Lexikon,*) den Vorrang des Alters eine anonyme Lebensbeschreibung, die man
vielen um die Mitte des 18. Jahrhunderts in London entstandenen handschrift¬
lichen Duettsammlungen vorgebunden finden kann. Derartige Kopien wurden
damals in solchen Massen angefertigt, daß sich offenbar verlohnte, diese
„Memoirs of the Life of the Author of the following Compositions“ im passen¬
den Format — querfolio, acht Seiten — zu drucken. Sie müssen von Sir
John Hawkins herrühren, und vor 1752 verfaßt sein;*) Hawkins hat sie in seine
„General History of the Science and Practice of Music“ (IV, 287 f., 1776) fast
wortgetreu herübergenommen, und nur durch eine Reihe von Zusätzen ver¬
mehrt, die den wertvollsten Teil seiner Bemühungen um Steffani bilden. Denn
die Zuverlässigkeit der „Memoirs“ ist sehr gering. Auch nicht ein einziges
Datum hält Stich, und alle Erzählungen, mögen sie auch einen wahren Kern
bergen, haben eine gefährliche Wendung ins Anekdotische bekommen. Haw-
*) Seine Kürze erlaubt die Wiedergabe: „Steffani (A.J ein Abt von Lepsing,
und des Päpstlichen Stuhls Protonotarius, hat ein Sendschreiben in Italiänischer
Sprache, unter dem Titel: Quanta certezza habbia da suoi Principij la Musica, ediret,
welche der seel. Werckmeister ins Teutsche übersetzet, und mit einigen Anmerckungen
an. 1700 zu Quedlinburg und Aschersleben in -8vo herausgegeben hat. ln des Roger
Music-Gata/ogo stehen p. 40 auch Sonate da Camera, ä due Violini, Alto Viola e
Continuo von seiner Arbeit allegiret. Daß er an. 1695 Capellmeister zu Hannover ge¬
wesen, verschiedene Italiänische Opern in die Musik gebracht habe, so auf dem Ham-
burgischen Theatro verteutscht aufgeführt worden, als: an. 1695 der hochmüthige Ale¬
xander; an. 1696 der Roland; Heinrich der Löwe; und Alcides; an. i6g~j der Alcibiades;
an. 1698 die Atalanta; und an. 1699 il Trionfo del Fato; hernach Abt, und endlich
Bischoff geworden, lieset man in Matthesonii Musical. Patr. in der 22ten Betracht,
p. 182 sqq. Ist nach dem Tode des Churfürstens zu Hannover, Emesti Augusti, als
Geheimder Rath nach Düsseldorf vociret, und vom Pabste zum Bischoff zu Spiga
gemacht worden.“
*) Gedruckt wurden sie zuerst in „The Gentleman’s Magazine“ 1761, S. 489.
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Agostino Steffani
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kins behauptet, er danke den größten Teil seiner Angaben Mr. Händel, dem
grundgelehrten Dr. Pepusch, und ihrem »preiswürdigen Interesse an dem An¬
denken eines so großen Genies, wie Steffani war.“ Ist diese Behauptung,
soweit sie Händel betrifft, wahr, so kann ich nicht glauben, daß auf seinen
Anteil an diesen Memoirs mehr fällt als etwa die, den Stempel der Wahrheit
tragende Beschreibung der äußeren Persönlichkeit Steffanis, und vielleicht
die Erzählung von Steffanis Mißbehagen über Sängerwillkür gegenüber seinen
Werken. Daß Händel im Jahre 1708 als Kapellmeister nach Hannover ge¬
kommen sei, und sein Amt aus den Händen Steffanis empfangen habe, —
Steffanis, der seit 1703 in kurpfälzischen Diensten stand, und erst Ende 1709 als
Bischof und apostolischer Vikar nach Hannover zurückkehrte 1 — das hat
Hawkins sicherlich nicht aus Handels Mund erfahren; mag er auch später,
in seiner Musikgeschichte (V, 267) die Erzählung mit Handels eigenen Worten,
ja Gesten wiedergeben. Selbst in dieser, schwerlich treuen Fassung berechtigte
sie Hawkins nicht zu seinen Folgerungen. 1 ) In der Tat ist das persönliche
Verhältnis von Händel zu Steffani ein bei weitem loseres gewesen, als es
noch Chrysander dargestellt hat. Ob sich ihre Wege in Italien gekreuzt haben
(Steffani war vom November 1708 bis Ende April 1709 in Rom; am 5. Mai
in Florenz, vom Abend des 12. Mai an einige Tage in Venedig, in welche
Zeit also die angebliche Einladung Handels nach Hannover fallen müßte),
wird sich erst entscheiden lassen, wenn wir zuverlässige Nachrichten über
den Aufenthalt Handels in Italien besitzen. Wie kurz bemessen die Möglich¬
keit eines persönlichen Verkehrs in Hannover in den Jahren 1710/1711 war,
lehrt die äußerlichste Berechnung: so bleiben zum Beispiel für den Zeitraum
vom 20. Juni bis 15. November 1711, während dessen Händel in Hannover
weilte, für ein persönliches Zusammensein der beiden großen Musiker keine
vier Wochen, auf seiten Steffanis ausgefüllt durch Krankheit jeder Art, und
eine Fülle drängender Geschäfte. Die angeblich gemeinsame Reise nach Italien
im Jahre 1728, über die so hübsche Anekdoten erzählt werden, scheitert an
der grausamen Tatsache, daß Steffani am 12. Februar 1728 zu Frankfurt am
Main starb. Nach Rom, wo er in seinen letzten Lebensjahren noch gesungen
haben soll, ist Steffani nach 1709 niemals mehr gekommen. Aus den Doku¬
menten über die Beziehungen Steffanis zu London schließlich geht aufs deut¬
lichste hervor, daß Steffani an Händel keinen sympathischen Anteil nahm. Wenn
Steffani der Royal Academy einen Sänger empfiehlt — so (Padua, 10. August
1724) den Altisten Angelo Poli; im Jahr darauf die Sorosina, deren Schicksal
ihm sehr am Herzen liegt — so wendet er sich nie an Händel, wogegen in
diesen nach London gerichteten Briefen ein Gruß „al nostro amabilissimo
Signor Bononcini“ selten fehlt. — Auch Pepusch hatte in seinem Leben kaum
‘) „When I first arrived at Hanover I was a young man, under twenty [1]; 1
was acquainted with the merits of Steffani, and he had heard of me. 1 understood
somewhat of music, and,“ putting forth both his broad hands, and extending his fin¬
gere, „Could play pretty well on the organ; he received me with great kindneß, and
took an early opportunity to introduce me to the princeß Sophia and the elector’s
son, giving them to underetand that I was what he was pleased to call a virtuoso
in music; he obliged me with instructions for my conduct and behaviour during my
residence at Hanover; and being called from the city to attend to mattere of a public
concern, he left me in possession of that favour and patronage which himself had
enjoyed for a series of years.“
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Agostino Steffani
Gelegenheit, mit Steffani in persönliche Berührung zu kommen; auch seine
Wissenschaft stammt wie die Hawkins’ selbst aus zweiter Hand.
Dennoch hat diese Biographie die Grundlage für die Mehrzahl der spä¬
teren Lebensbeschreibungen Steffanis geliefert. Bumey hat sie stark gekürzt
in seine Musikgeschichte (III. 534) aufgenommen. In deutscher Übersetzung
erschien sie 1763 in der Nürnberger Wochenschrift „Der Zufriedene“ [mir
nicht zu Gesicht gekommen]; 1764 im „Hamburgischen Journal“ S. 79 f.,
aus dem sie Forkel in seinen Musikalischen Almanach für Deutschland auf
das Jahr 1784 (S. 170 f.) aufgenommen hat. Gerber hat dann für den Artikel
Steffani in seinem alten Lexikon wieder aus Forkel geschöpft, aber einen
Bericht über Steffanis Oper „Servio Tullio“ hinzugefügt; und Gerbers Artikel
wurde von F. J. Lipowsky (Bayerisches Musik-Lexikon, 1811, S. 337 f.) aus¬
geschrieben. So geht es weiter durchs 19. Jahrhundert Auch Fetis schöpft
im Biographischen aus keiner andern Quelle; nur daß er es war, wenn'ich
nicht irre, der die bibliographische Fabel von einem Druck Steffanischer
Duette (München 1683!) in die Welt gesetzt hat Noch Chrysander hat für
seine Lebensbeschreibung Händels mit der Darstellung Hawkins’ all ihre
Fehler in Kauf nehmen müssen.
Von weit größerer Zuverlässigkeit ist die Lebensbeschreibung, die Stef¬
fanis Landsmann, Graf Giordano Riccati im 33. Bändchen der Nuova Rac-
colta d’Opuscoli Scientifici e Filologici (Venezia 1779) veröffentlichte; dank
der Bequemlichkeit, mit der Riccati sich über die Familienverhältnisse Stef¬
fanis unterrichten konnte, und dank der Kenntnis, die er von jener reichsten
Quelle für das Leben ^teffanis hatte, der obenerwähnten Briefsammlung im
Propaganda-Archiv. Riccati hat sie freilich nicht persönlich benützt, sondern
sich mit Angaben und Auszügen begnügt, die ihm durch Cristofano Ama-
duzzi, von 1770—1792 Soprintendente della Stamperia di Propaganda, ge¬
liefert wurden. Auch seine Arbeit ist nicht frei von Irrtümern; doch ist zu
bedauern, daß sie keinem der späteren Biographen Steffanis bekannt gewesen,
Caffi vielleicht ausgenommen. Nur in einer lokalen Enzyklopädie ( Nuovo
Dizionario storico, tom. IX., Bassano 1796) ist sie verwertet; während der
Artikel in der Nouvelle Biographie Generale, tom. 44, p. 459 f., 1865 sie nur
zitiert, ohne sie zu kennen.
Seit Chrysander hat die biographische Forschung über Steffani einen
neuen Aufschwung genommen. Ich nenne hier mit Dank die Werke von
Fr. M. Rudhart, 1 ) Franz Wilh. Woker,*) Jul. Jos. Maier—Haberl,*) W. C. Cu-
sins,*) Adolf Sandberger. ,*) A. Neißer,*) G. Fischer, 1 ) Alfr. Untersteiner ,*) u. a.
') Geschichte der Oper am Hofe zu München. Freising. 1865.
®) a. Aus den Papieren des kurpfälzischen Ministers Ag. Steffani. Köln 1885.
b. Agostino Steffani ... apostolischer Vikar von Norddeutschland. Köln 1886.
c. Geschichte der katholischen Kirche und Gemeinde in Hannover und Celle.
Paderborn. 1889.
d. Der Tondichter Ag. Steffani, in „Der Katholik“, Mainz 1887; S. 312 ff.
’) Archivalische Excerpte über die herzogl. bayer. Hofkapelle. Kirchenm. Jahrb.
1891, 1894, 1896.
4 ) Artikel in Grove’s Dictionary. s ) Denkmäler der Tonkunst in Bayern, Werke
Dall’Abacos, und Joh. Kasp. Kerlls. [Die als Quellen dort erwähnten litterarischen Do¬
kumente habe ich leider nicht ausfindig machen können.] “) Servio Tullio . . von Ag.
Steffani. Leipz. 1902. 7 ) Musik in Hannover, 2. Aufl. 1903. ") Ag. Steffani. Rivista mus.
ital., Anno XIV, 509. f. ______
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Agostino Steffani
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Als nach dem Tode Agostino Steffanis — man verzeihe, daß ich
seine Lebensbeschreibung mit seinem Lebensende beginne — sein Vetter
Antonio ScapineUi, Arciprete von Castelfranco, seine Erbansprüche auf
die Hinterlassenschaft Steffanis bei der Congregazione de Propaganda
fide begründen mußte, legte er einen Stammbaum vor, der bis auf den
Großvater Agostinos zurückgeht Nach einer alten Nachricht, nämlich
einer Notiz in einem kompilatorischen Werke des Malers Natale Melchiori
von Castelfranco, „stammt die Familie Stefani, in verdorbener Mundart
Stievani genannt, aus Padua, woher sie vor Zeiten, etwa um 1570, nach
Castelfranco kam.“ ’) Andere Vorfahren der Familie sind in Venedig zu
suchen. Eine Giulia Fermana, oder Perina da Ponte hinterließ im Jahre
1545 als Stammgut der Familie einige Häuser in Conträ di S. Marcuola,
in der Nähe des Ghetto, die später in die Hände der Familie Labia fielen,
und in deren Wiederbesitz zu gelangen, Steffani sich im Verein mit
seinen Verwandten im Jahre 1724 bemühte.
Der erwähnte Großvater Agostinos hieß Gasparo Steffani [dies
die richtige Betonung], und war vermählt mit Paolina Terzago, von
der er zwei Söhne hatte: Giacomo, und Camillo, und eine Tochter
Angela, die am 26. November 1640 Messer Bartolommeo Scapinelli
heiratete, und die Mutter des erwähnten Erzpriesters und Erben
Agostinos wurde. Der zweite Sohn, Camillo, ist der Vater unseres
Agostino. Er verheiratete sich in erster Ehe mit einer Helena . . .,
deren Familiennamen ich nicht kenne; aus dieser Ehe entsprang
am 29. Juni 1645 eine Tochter Helena Perina, deren Geburt wahr¬
scheinlich der Mutter das Leben kostete. Kurz nach dem Tode
seiner Frau ging Camillo eine zweite Ehe ein, mit Paolina Terzago, wohl
einer Base. Aus dieser Ehe gingen hervor: Ventura Giacomo,*) geboren
am 2. Januar 1648; Pietro Giovanni, am 11. August 1649; Francesco
Innocente, am 28. Dezember 1650; Agostino Francesco, am 3. Dezember
*) Zwei Handschriften im Besitz von Monsignor Camavitto in Castelfranco. Der
Titel der einen lautet: „Famiglie che compongono il piü puigato Cons = della
Communitä di Castel Franco . . . Raccolte, et descritte nell’ anno 1719 da Nadal Mel¬
chiori Pittore di detto locco ... Dedicate al ... Sig: Co: Carlo Riccati ... MDCCXX.“
— Der der andern: „Catalogo Historico Cronologico . . . Origine di Castelfranco . . .
Laboriosa diligenza di me Nadal Melchiori Pittore." Melchiori fügt der oben über¬
setzten Notiz hinzu: „Di nostri giomi questa Famiglia hä prodotto Agostino Stefani
hora vivente; et dimorante in Padova .... Al presente la predetta Famiglia £ quasi
estinta.“ Dennoch nennt Lorenzo Puppati in einem Schriftchen „Degli Uomini Illustri
di Castelfranco . . (Castelf. 1860) unsern Steffani seinen „proeio*. Wie dies Ver-
wandtschaftsverhflltnis begründet ist, weiß ich nicht
*) Taufbücher von Castelfranco; 3. Jan. 1648. — „Ventura Giacomo figlio di
M. Camillo de Stievani e di Madama Paulina sua consorte £ stato battezato da me
Francesco Mantovano Capelano compadre l’Ills Signor Alessandro Languidis Medico
di questa magnifica Communitä Commadre Madama Paolina Moglie di M. Zuanne
Mechieleti. naque a di 2 detto.“
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Agostino Steffani
1652; Agostino /) am 25. Juli 1654; Ippolita, am 19. Juli 1656; Francesco
Domenico, am 2. September 1657. Von diesen sieben Geschwistern
Agostinos blieben nur der älteste Bruder und die Schwestern am Leben.
Agostino selbst bezeugt, daß die vier andern Brüder, augenscheinlich in
zartem Alter, starben, in einem Briefe an Conte Fede vom 11. Juli 1706:
„ . . . Jo hö havuto un Fratello, che Dio benedetto, di molti, m’haveva
lasciato unico al Mondo.“ Dieser Bruder Ventura Terzago — er wurde
von seinem Oheim Marc’ Antonio Terzago adoptiert und nahm dessen
Namen an — ist der Textdichter einer Anzahl von Agostinos Münchener.
Opern. Sein Schicksal ist wie das der ganzen Familie so eng mit der
Laufbahn Steffanis am Münchener Hofe verknüpft, daß es sich nur im
Zusammenhang mit dieser darstellen läßt.
Im Widerspruch zu der Behauptung von Hawkins, daß Agostinos
Eltern „were not distinguished for their rank in life“, nennt Riccati seine
Herkunft „di onesta conditione“; und auch in der Proposizione Conci-
storiale bei seiner Ernennung zum Bischof heißt es: „ex Catholicis hone-
stisque parentibus.“ Melchiori führt in den erwähnten Handschriften
die Familie nicht unter den ersten von Castelfranco an; doch erscheint
aus den Gevatterschaften mit den Gherardini und andern alten und vor¬
nehmen Familien klar, daß ihr Rang wenn nicht die erste Stelle, so
doch die zweite behauptete; und daß sie ihn durch die Verbindung mit
den Terzago und Scapinelli, alten Familien, noch befestigte. Wenn wahr
ist, was die Erben Agostinos behaupteten: sie hätten „nella sua partenza
per Baviera . . . sostenuto il peso de suoi Genitori nel somministrarli
il suo vivere“, so wäre es mit den Glücksgütern Camillos übel bestellt
gewesen. Auch Woker meint:*) „Begütert war die Familie jedenfalls
nicht; jedoch besaß Steffani einige Familienrenten. Im Jahre 1716 bat
er den Reichsvizekanzler v. Schönbom, daß er durch den kaiserlichen
*) „a di 26. Luglio 1654. Agostino figlio del Signor Camilo de Stievani, et della
Signora Paolina sua consorte ö stato battezato da me sopradetto [Pre Iseppo Breso-
lato Capellano] compadre Al tonte Messer Ghirardo Gherardini et alli essorcismi il
Signor Domenego Rubini, naque li 25 detto." [die Abkürzungen aufgelöst.] — Ric¬
cati verwechselt den Tag der Taufe mit dem Geburtstag. Das richtige Geburtsdatum
hat zuerst A. Untersteiner veröffentlicht, in einer Besprechung von Neissers „Servio
Tüll io“, Gazzetta musicale di Milano LVII (1902), S. 644. Ohne davon zu wissen,
habe ich später die Geburtsurkunde aus den Kirchenbüchern von Castelfranco noch
einmal abgeschrieben. Diese Kirchenbücher sind bis zum Anfang des Seicento wohl
erhalten, sowohl für die Geburten und Todesfälle, wie Eheschließungen. Eine sorgfältige
Durchsicht würde viel reichere und exaktere Ergebnisse liefern, als ich in der Eile
eines Nachmittags in dem Registro Nati erraffen konnte. — Übrigens findet sich unter
den Familien von Castelfranco auch eine Familie Piva. Drei Söhne eines Agnolo
Piva: Liberale, Agnolo und Giovanni werden von 1656—1683 verzeichnet; und
ich zweifle nicht, daß auch Gregorio Piva, Steffanis späterer Kopist, sein engerer
Landsmann war.
*) „Katholik“ 1887, S. 313.
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Agostino Steffani
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Gesandten in Venedig seinen Agenten in Padua unterstützen möge, um
diese Renten aus den Händen von Freunden de mammotia iniquitatis zu
retten, welche ihn fortwährend bestöhlen.“ Wir werden später von diesen
Familienrenten, die wirklich aus der Erbschaft des reichen Schwagers von
Camillo, Marc’ Antonio Terzagos stammten, hören; die Freigebigkeit Marc'
Antonios setzte Camillo in den Stand, Agostino, als er in den geistlichen
Stand trat, ein Haus im Ghetto zu Venedig als Stammgut zu verschreiben.
Agostino Steffani kam als dreizehnjähriger Knabe nach München.
Über die Art seines Eintreffens am kurbayrischen Hofe stellt Riccati
eine Vermutung auf, die im Widerspruch steht zu den Angaben aller
übrigen Quellen.
Hawkins versetzt den Knaben als Sänger in den Chor einer benach¬
barten Kathedralkirche; „er hatte nicht länger als zwei Jahre im Chor
gedient, als ein deutscher Edelmann, der in Venedig den Kamevalsver-
gnügungen beigewohnt hatte, bei einer öffentlichen Gelegenheit ihn singen
hörte, und soviel Vergnügen fand an seiner Stimme, seinem Anstand
und den Merkmalen sich entfaltender Genialität, daß er durch Verwen¬
dung bei dem Kapellmeister seine Entlassung aus dem Chor erwirkte
und ihn nach Bayern, seinem Wohnsitz, mitführte.“ Ich weiß nicht,
was später Veranlassung gab, aus Hawkins' „Kathedralkirche in der Nach¬
barschaft“ von Castelfranco San Marco in Venedig zu machen. Jeden¬
falls hat Cqffi x ) vergebens nach einem Dokument gesucht, das diese
Angabe bestätigte.
Nach Riccati dagegen ist Agostino nach Vollendung seiner ersten
Lernübungen in der Gemeindeschule seiner Vaterstadt jung nach Bayern
gekommen, vermutlich gerufen von einem Oheim mütterlicherseits, der
im Dienst des bayerischen Kurfürsten gestanden haben soll.*)
Daß keine dieser Darstellungen richtig ist; daß Agostino vor seiner
Berufung nach München schwerlich Sängerknabe in einem Kirchenchor,
sicher aber nicht in Venedig gewesen ist, und keinen Verwandten am
bayerischen Hofe besaß, 8 ) lehrt eine kleine Autobiographie Steffanis, die
') Fr. Caffi, Storia della musica sacra nella giä Cappella ducale di San Marco
in Venezia. I. 146.
*) „Fatti in patria i suoi primi studj sotto que’ Precettori, che il Comune man-
teneva a beneficio della gioventü, passö giovinetto in Baviera. Jo conghietturo, che
fosse ivi chiamato da un suo Zio matemo impiegato al servizio di quell’ Elettore,
e dä vigore alla mia conghiettura, che un suo tnaggior fratello per nome Ventura,
nato li 3. Gennaio 1648, che fu molf anni alla Corte di Monaco, si chiatnö sempre
Terzago probabilmente per disposizione testamentaria del Zio.“
*) Die Hofzahlamtsrechnungen müßten einen solchen nennen: sie enthalten aber
vor 1668 weder den Namen Steffani noch Terzago. Am 23. Juni 1665 gibt Ferdinand
Maria dem Maler Paolo Antonio Steffani, der sich in Venedig in seiner Kunst weiter¬
bilden wollte, ein Empfehlungsschreiben an seinen Agenten Bartoli mit auf den Weg
[St A., K. schw. 266/2]: dieser Paul Anton hat jedoch mit unserer Familie Steffani
sicherlich nichts zu schaffen.
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Agostino Steffani
er am 11. Juli 1706 an Conte Fede, den Residenten des pfälzischen Kur¬
fürsten in Rom, schickte, um seine Tauglichkeit zur Bischofswürde zu
erweisen. Steffanis eigene Erzählung, der wir wohl die größte Glaub¬
würdigkeit werden gönnen müssen, lautet also: „An den bayerischen
Hof wurde ich in zartem Alter von dem verstorbenen Kurfürsten Ferdi¬
nand Maria geführt, dem ich in Padua — wo ich mit einer Menge an¬
drer Buben auf der Schulbank saß — vorgeführt wurde. Er fand —
ich weiß nicht kraft welcher Fügung — solch ein Gefallen an mir, daß
er mich mit sich nach München brachte, und mich dem Grafen von
Tattenbach, damals seinem Obristen Stallmeister anvertraute.“ 1 ) Nach
Padua also kam der Knabe von Castelfranco aus. Wahrscheinlich über¬
nahm der Oheim Marc’ Antonio, der ja Collaterale in Padua war, die
Sorge auch um seine Ausbildung, wie um die des älteren Bruders. Als
am 9. März 1723 Steffani aus Venedig, wo die Luft ihm nicht zusagte,
nach Padua übersiedelte, nannte er in einem Brief an einen Freund,
Marquis Nomis, (11. März 1723) Padua „die Stadt, die ich mit gutem
Recht meine Heimatstadt nennen kann; denn hier bin ich erzogen wor¬
den, und hier ruhen die Gebeine fast all derer, die mir angehört haben.“
In jener letzten Lebenszeit, wo er wieder in der Heimat weilt, vom
Sommer 1722 bis zum Herbst 1725, knüpft er mit dem Erwachen der
Erinnerung an seine Kinderjahre alte Beziehungen wieder an: so mit
dem Grafen Girolamo Frigimelica , damals in Modena, einem Jugendfreund,
„in dem 58 volle Jahre der Abwesenheit eines Mitschülers, der peregre
prqfectus est in regionem longinquam, nicht im mindesten die Gestalten
aus der zartesten Jugendzeit haben verwirren noch verblassen lassen“
(Brief vom 9. April 1723). Ein anderer Mitschüler Agostinos war sein
Landsmann Scipione Barbarelli, ein weiterer der spätere Kanonikus an
der Kathedrale von Padua Abbate Lazsara, „giovinetto di 79 anni,
e mio confidentissimo Amico dal tempo delle nostre prime scuole,“
wie Steffani am 11. April 1727 von ihm schreibt. Auch Hortensio
Mauro, Steffanis späterer Textdichter, mag zu eben jener Zeit den Bo
besucht haben.
Steffani selbst hat mit großer Konsequenz behauptet, er sei schon
1665 oder 1666, als elf- oder zwölfjähriger Knabe nach München gekom¬
men. Aus der großen Zahl der Belege seien nur einige angeführt. Am
30. Januar 1707 schreibt er an Fede: „una Caravana di 42 Anni di
Corte . . .“; am 29. Juli 1708: „(la mia costanza . . .) appresa in 44
*)„... Trt Corti hö servito; Quella di Baviera 22 anni; Quella di Hannovera
15; e questa [den Kurpfälzischen] dal 1703 in quä. Alla prima fui condotto giovinetto
dai defonto Elettore Ferdinando Maria, al quäle presentato in Padova ove Studio frä
molti altri ragazzi, s’lnvogliö d’una certa tal quäl di me non sö per quäl destino, e
condottomi seco ä Monaco mi diede in cura al Conte di Tattembach allora suo Ca-
vallerizzo Maggiore.“
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Agostino Steffani
9
anni di Corte, e 25. di scabrosissimo Ministero . . am 26. August
1712: „. . . welcher Gesundheit kann ein Mensch sich erfreuen, der auf
sein 59. Jahr zusteuert, und davon 47 Jahre Hofdienst auf den Schultern
hat?“ 1714 spricht er von seinem 49jährigen Hofleben, am 3. Juli 1716,
er lebe „giä da piü di 50 anni in Germania“; 1723 sagt er, er habe
58 Jahre in Deutschland verbracht.
Doch liegt kein Zeugnis dafür vor, daß der Kurfürst im Jahre 1665
im Venezianischen war, dagegen sehr viele, die einer solchen Tatsache
widersprechen. Der Bruder des Kurfürsten, Herzog Max Philipp, machte
im Jahre 1665/66 eine italienische Reise, und berührte im März 1666
auch Padua; im April 1665 kam der kurfürstliche Geheimsekretär Carlo
Begnudelli ins Veneto; von einer Reise Ferdinand Marias selbst aber
wissen wir nichts. Als der Kurfürst für das Frühjahr 1666 einen Auf¬
enthalt in Padua plante, traf er, trotzdem sein Inkognito ausdrücklich
gewahrt bleiben sollte, die “umständlichsten Vorbereitungen von der Miete
eines Palastes in Padua und Venedig an, bis zur Auswahl des Tischweins.
Die Sommerhitze und die nahende Entbindung der Kurfürstin verhinder¬
ten denn auch die Reise: sie wurde aufs folgende Jahr verschoben. Am
18. April 1667 verließ das Kurfürstenpaar mit seinem Töchterchen Mari¬
anne München; am 29. kam man in Trient, am 2. Mai in Verona, am
11. in Padua an, und traf nach kurzem Aufenthalt auf Schloß Cattajo
am 17. in Venedig ein, um Freitag den 3. Juni nach Padua und Cattajo
zurückzukehren, ln die folgenden Wochen fällt also die entscheidende
Wendung in Steffanis Leben; 1 ) es ist nicht anders möglich, als daß ihn
später, trotz des ostinaten Verharrens auf dem Jahre 1665, sein Gedächtnis
getäuscht hat. Am 9. Juli brach die kurfürstliche Familie wieder von Pa¬
dua auf, zog, diesmal über Castelfranco und Bassano, am 11. in Trient,
am 16. in Brixen, am 20. in Innsbruck, am 24. in Tegernsee ein, und
landete Montag den 25. Juni nachts wieder in München. Graf Tatten-
bach hatte in diesen Tagen eine Reise nach Turin zu unternehmen, um
dem Herzog Carlo Emanuele den schwesterlichen Dank der Kurfürstin
für seinen Besuch in Padua abzustatten;*) somit war es wirklich Ferdi¬
nand Maria selbst, der Agostino mit sich führte. Da der Knabe in dem
ersten Dekret, das sich mit ihm befaßt, Musicant genannt wird, so haben
*) Im Reichsarchiv (Fürstens. LXIII. 646) ein „Protocoll der Tagraisen nach
Padua und wider zurückh.“ Der zweite Aufenthalt in Padua wurde danach unge¬
fähr folgendermaßen ausgefallt: am 4. Juni drei Messen beim Santo, abends drei
Vespern bei Santa Justina; die folgende „Wochen herumb hat man da und dort die
hl. Meß gehört“ Am 13. Fest des Santo; am 14. nach Cattajo; am 16. nach Padua
und zurück nach Cattajo; Andacht beim Santo. Am 20. Besuch des Herzogs von
Savoyen; Samstag den 25. Comedj; den 26. einen Bauemtanz. Am 29. geht der Kur¬
fürst ins Camaldulenser-Kloster, zwei Stunden von Cattajo; am 2. Juli Zusammen¬
treffen mit dem Herzog von Savoyen in Padua.
*) C. Merkel, Adelaide di Savoia. Torino. 1892, p. 114 f.
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10 Agostino Steffani
doch wohl seine musikalischen Gaben ihm das Herz des Kurfürsten
gewonnen.
Wir wissen nicht, was Ferdinand Maria veranlagte, gerade dem
Grafen von Tattenbach den Knaben in Obhut zu geben. Der Hof be¬
hielt seinen Schützling jedenfalls im Auge: die erste Eintragung, die
in den Zahlbüchern von 1668 sich über Steffani findet, ist ein Zeugnis
dieses Wohlwollens: „Augustin Stephani Hof Musico zum neuen Jahr
und anders laut Ordinam f. 36.—* „Und anders“ — ist darunter viel¬
leicht Stelfanis Mitwirkung in Gisberti-Kerlls am 6. November aufge¬
führtem Turniervorspiel „Le pretensioni del Sole“ verstanden, in dem die
Rolle der Aurora von dem „gratissimo et gratiosissimo Soprano“ Ago¬
stino gesungen wurde'? 1 ) Ich wüßte wenigstens keinen Agostino der
Hofkapelle, der für die Rolle gepaßt hätte. So hervorragende musikalische
Fähigkeiten konnten bald in der Hofmusik nutzbar gemacht werden.
Laut Dekret vom 18. Juli 1668*) wird Steffani vom 9. Juli an — es ist
der Jahrestag der Abreise des Kurfürsten von Padua — als Hof- und
Kammermusikus aufgenommen, und ihm täglich „anderthalbe maß wein
sambt zway brot“ verwilligt. Ein weiterer Befehl vom 26. Juli gibt dem
Hofzahlamt auf, dem Grafen von Rheinstein und Tattenbach „wegen des
auf ein Jar bei ihme gehabten welschen Musicanten Augustin Stephano“
150 Gulden zu vergüten. Aus der Obhut des Grafen ging Steffani in
die des Hofkapellmeisters Johann Kaspar Kerll über, der für Kost und
Lehrgeld jährlich 432 Gulden erhält, wie aus folgendem Dekret vom
20. Dezember 1668 zu ersehen: 8 )
Demnach die Churfürstliche Durchlaucht in Bayrn . . . dero Rhat vnd
Hof Capellmaister Johann Caspar Kerl für dero Camer: vnd Hof Musico Au-
gustino Steffani, dene Er die Orgl schlagen zu lehmen: vnd zugleich in die
Cost angenommen (neben ihme Steffani beraiths vorhin angeschafften Wein
vnd brodt) vor Cost: vnd Lehrngelt Quartaliter Ainhundert Acht Gulden gne-
digst verwilliget. Alß beuelchen Sye dero HofCammer Directori vnd Rhäten
hiemit, die behörige verfiegung zuthuen, daß ihme Capellmaister solche qua-
temberliche 108. f: fürterhin so lange er gedachten Steffani gemeltermassen
instruirt n vnd bei sich in der Cost haben würdet, von dero Hofzahl-
Ambt außgefolgt, vnd darmit vom Neünten July diß Jahres der Anfang ge¬
macht werde . . .
Die Kosten, die Steffani in diesen Jahren verursachte, waren nicht
gering, wenn man bedenkt, daß das Gehalt der Musici di prima classe
am bayrischen Hof selten 1000 Gulden erreichte. Im Kreisarchiv findet
sich eine unmutige „Specification, Waß der Hof : vnnd Cammer Musicus
Augustin Stephani iehrlich costet“ — an Kost- und Lehrgeld, für Brot
l ) Die Stelle beginnt Seite 9 des Textbuchs: „Si freni il corso, il Calpestio s’arresti.“
*) R.-A. Füretens. LX1I* 645».
*) R.-A. Fflrstens. LX1I» 645»; Konzept im K. A.
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Agostino Steffani
U
und Wein, für Kleidung und Wäsche im Jahre 1669 903 fl. 12 kr.; und
im Jahre 1670 an die 997 Gulden. Den Anstoß zu diesen Berechnungen
gab eine ungenierte Liste, in der Agostino seine Toiletten-Bedürfnisse
aufzählt. 1 ) Solche Unkosten waren dem Kurfürsten zu groß: ein Dekret
vom 15. Januar 1671*) bestimmt, dem Steffani vom 1. Oktober 1670 an
300 Gulden jährlich zu verreichen, „darumb ihme die NotturfFt an Klay-
dung vnd Leingewandt selbsten zu verschaffen.*®)
Dekrete vom 1. Oktober 4 ) und vom 20. Oktober 5 ) 1671 belehren
uns, daß um diese Zeit die Pflegschaft bei Kerll, wie das Lehrverhältnis
ihr Ende nahmen.
Demnach die Churfr. Dhr. in Bayrn . . . entschlossen, wegen dero Hof:
vnd Camzr-Musici Augustin Steffani, welcher sich biß anhero bei dero Rhat
vnd Hof Capellmaister, Johann Caspar Kerl in der Cost- vnd erlehmung des
Orglschlagens befunden, dißfahls eine Änderung vorzunemmen; Als ist dero
gnedigster beuelch hiemit, daß gedachtem Capellmaister hinfüran alles, was
ihme für ermelten Steffani biß dato ausgevolgt worden, mit außgang des
aniezt abgescheinten Monats Septembris, aufgehebt, vnd hingegen dero Camer-
diener Augustin Sayler für ihne Steffani Quatemberlich Neun vnd dreißig
gülden Costgelt verraicht: vnd darmit der anfang von heintigem dato ge¬
macht werde . . .
(Der Befehl an den Hofzahlmeister Hans Christoph Cammerloher vom
20. Oktober fast gleichlautend).
Aus den Dekreten geht also der Anlaß der Trennung Steffanis von
Kerll nicht hervor. Kerll war kein sorgsamer Haushalter, und ein selbst¬
bewußter Charakter; und Agostino sicherlich ein verwöhnter, anspruchs¬
voller und vielleicht respektloser Bursche: wer weiß, welche Disharmo¬
nien sich in jenen drei Jahren im Hause Kerlls ergeben haben! Einen
Fingerzeig gibt allein eine Supplik Steffanis vom Jahre 1674, „dem ge¬
westen chrfl. Rath und Hofkapellmeister Casparn Kherl“ beim Hofzahl¬
amt verfallene Zinsungen aus seinem Lehen von 6000 Gulden zu sperren.
Erst am 30. Dezember 1678 wurde der Arrest aufgehoben, auf Anzeige
des Steffani beim kurfürstlichen Hofrat, daß er von Kerll Satisfaktion
bekommen habe. 6 ) Kerll hatte also Schulden an seinen Schüler. Die
Jahre 1674 bis 1678 waren für Kerll eine schwere Zeit, in der der Ver¬
lust dieser Zinsen ihm doppelt empfindlich sein mußte, und Steffanis
>) Vgl. Kirchenmusikal. Jahrb. 1891, S. 11 ff.
*) R.-A. Fflrstens. LX1I» 645»; Konzepte im K. A.
*) Das Besoldungsbuch de anno 1610 im Kgl. Kreisarchiv Landshut, das die
Lücke der Hofzahlamtsrechnungen für dieses Jahr ausfüllt, besagt auf S. 86»: Augu¬
stin Stephani Curfr: Hof vnd Camer Musicus ist laut Ordinanz vom 1. 8bris A° 1610
angeschafft worden, mit Jerlichen f. 300. —.
*) R.-A., a. a. O.
») Kreis-A.
*) Kirchenmusikal. Jahrb. 1891, S. 11. — Sandberger, Denkm. der Tonkunst in
Bayern U. 2. S. XXV.
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Agostino Steffani
Vorgehen in einem um so übleren Licht erscheint. Hatte Steffani doch
schon in der Vorrede zu seinem gedruckten Erstlingswerke den Namen
seines ersten Lehrers vollständig verschwiegen, ja absichtlich den An¬
schein erweckt, als ob er Ercole Bernabei sein ganzes Können ausschlie߬
lich verdankeI ln Wahrheit schuldet Steffani dem Lehrer, dem jeder
Schüler sonst das dankbarste Gedenken bewahrt, sehr viel. Mögen auch
manche, Kerll und Steffani gemeinsamen Züge in ihrer gemeinsamen
Schule ihre Begründung haben, so finden sich doch in Steffanis Werken
Erinnerungen und Wendungen, die ihm z. B. aus den geistlichen Kan¬
taten Kerlls, die ja während seiner Lehrzeit erschienen, in Ohr und Sinn
geblieben sein müssen. Sicherlich aber hat Steffani sich die Beherrschung
der Tasteninstrumente, die ihm am bayrischen Hofe den Titel gab (Musi-
cus-Organista, Kammerorganist) und ihm auf einer späteren Kunstreise
Ehre und Lob eintrug, nicht in Bernabeis, sondern in Kerlls Lehre er¬
worben. Erst später, nach der Rückkehr Kerlls nach München, scheinen
die beiden Musiker sich wieder einander genähert zu haben. Im Som¬
mer 1686 lag Kerll daran, eines seiner Werke, sechsstimmige Litaneien,
durch die Lobsprüche römischer Musiker zu empfehlen. Er scheint
Steffani um die Gefälligkeit ersucht zu haben, diese Lobsprüche zu be¬
glaubigen. 1 ) Auch in diesem Falle muß Kerlls naive Versöhnlichkeit
unsere Sympathie erwecken.
Augustin Sayler, „Kammerdiener und Schatzverwalter“, war ein alter
und erprobter Diener, der bei Hof das größte Vertrauen besonders in
Geldsachen genoß. Auch bei ihm blieb Steffani nur ein Jahr lang in
Kost. Anfang Oktober 1672 reiste er zur Vollendung seiner musikalischen
Ausbildung*) nach Rom, mit 200 fl. „abgeferttigt.“ Die Auszahlung von
Sold und Kostgeld unterblieb während seiner Abwesenheit; an Stelle
seiner Besoldung erhielt er im Jahre 1673 dreimal 154,5 fl., einmal „ver-
mög Conto “ 248 fl. Übermacht, im Jahre 1674 noch 154,5 und 154,6 fl.;
ferner 20,50 fl. „vmb willen Er zu Rom vnderschidliche Musicalische Sa¬
chen [Kirchenmusik?] abgeschriben.“ Ein Bericht an die Hofkammer¬
kanzlei bezeugt, daß seine Abreise einige Konfusion verursachte: 8 )
19. Juli 1673. Es ist vonn dem Churfürstl. Hofzallambt im Monat Martj
Verwichen berichtet worden, daß-dem Hof- vnnd Cammer Musico Augustin
Stephani sein ierlich cosstgelt der 156 f. sambt 300 f. besoldtung, biß auf denn
Ersten November anno 1672 bezalt wordten, Demnach aber auch anderwerttig
bericht einkhommen, daß er Stephani vor ainem Jar zu anfang des october
nach Rom Verraißt, vnnd also ihme an cosstgelt vnnd besoldtung vmb ain
‘) Sammelb. der JMG. VH, 635. H. Botstiber, Ein Beitrag zu J. K. Kerlls
Biographie.
*) „— daselbs dero [des Kurfürsten] gnedigsten disposition vnd beuelch gemeß
sich in seiner Kunsst mehrere zu perfectioniem.“
*) K.-A. Landshut, Fase. 334. Auch im K.-A. München.
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Agostino Steffani
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Monat zuuil were Verraicht wordten, Alß hat das ChurfQrst. Hofzallambt
ferer zu berichten, wer solch cosstgelt vnd besoldtung für den Monat october
an des Stephani stat empfangen, oder ob ihme selbiger Vorhinein zegeben,
befolchen wordten, allerma&en auch auf gedachten Stephani bis auf weittere
resolution weder an cosstgelt noch besoldtung nichts mer hinauszegeben,
oder in Ausgab zu verrechnen . . .
Rom war in jener Zeit, wie früher Venedig, und später Neapel, der
Ort, wo ein junger Musiker hoffen durfte, für höchstes Kunststreben die
geeigneten Lehrer und Vorbilder zu finden. Man pflegte neben der vir¬
tuos gesteigerten vielchörigen Komposition noch immer den strengen
a-cappella-Stil; auf dem Gebiete der Kantate und des Oratoriums war
Rom schöpferisch und vorbildlich, und die römische Sängerschulung galt
als höchste Empfehlung. Nur in der Oper war es von Venedig über¬
flügelt worden, wenn schon auch hier die rigorosen Zeiten des „Papa
Minga“ noch nicht gekommen waren. War schon der künstlerische Ver¬
kehr des bayrischen Hofes mit Rom sehr lebhaft — die Mitglieder der
Kapelle wurden vorzüglich aus Rom ersetzt, und Ferdinand Maria unter¬
hielt als Agenten seinen ehemaligen Hofkaplan, Harfenisten, Komponisten,
und Poeten, nunmehr Cavaliere Gio. Battista Maccioni —; und hatte die
Lehrzeit bei Kerll Steffani einzig auf Rom für seine weitere Ausbildung hin¬
gewiesen, so war es wohl insbesondere der Name Carissimis, der ihn in die
ewige Stadt lockte: Carissimi war der berühmteste Meister in der Kompo¬
sition für Kirche, Oratorium und Kammer, und St. Apollinare der auszeich-
nendste und empfehlendste Ort für den Ehrgeiz eines Sängers. Auch die
Erinnerung an Cesti war um jene Zeit noch lebendig; Agostino hatte
ihn in seiner Kindheit in Venedig auf der Höhe seines Ruhms in un¬
mittelbarer Nähe, und hat ihm später seine Reverenz gemacht, indem er
einen Kantatentext Cestis, den er wohl in Rom zu Gesicht bekam, als
Duett komponierte. Ebenso hat er einer Kantate des Luigi Rossi, eines
der Mitschöpfer der römischen Kantate, den Text zu einem seiner ersten
Kammerduette entnommen. Das musikalische Leben, das sich damals in
den vielen Kirchen Roms, in den Oratorien, in den Prachtsälen der Vor¬
nehmen entfaltete, war ein außerordentlich reiches; dazu kommt der Ein¬
druck, den die „unvergeßliche Stadt“ auf jeden empfänglichen Sinn aus¬
üben muß, und der,. wenn man aus dem Titel seines „Sacer Janus
quadrifrons“ schließen darf, auch bei Agostino ein tiefer und nachhal¬
tiger war.
Steffani reiste vielleicht in Gesellschaft des berühmten Kanzelredners
und Theatinerpaters Agostino Bozzomo, oder eines abgehenden Hof¬
musikers Matteo Salvieti: dem Pater wenigstens dankt der Kurfürst (s. d.):
„ich freue mich, daß Euer Ehrwürden glücklich in Rom angelangt ist...
gleichermaßen angenehm ist mir die Nachricht von den Fortschritten
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Agostino Steffani
und dem Wohlverhalten [? unleserlich] von Agostino Steffani . . .“*) Die
Reise ging über die Heimat, wie ein Dankbrief des Vaters Camillo Stef¬
fani an den Kurfürsten, für die seinem Sohne erwiesene Güte bezeugt:*)
„Capita Agostino mio Figlio accompagnato con munificenze riguarde-
voli da V. A. S. E. proprie perö della di lei innata, et immortale generositä,
M’aggionge pur anco altro segno de piu sublimi con la memoria, di cui V.
A. S. E. s’£ degnata gratiarmi per maggiormente accrescere il cumulo di
quell’ obligationi, che non possono da me padre di Figlio si fortunato esser
annullate, senon con la vita, e col sangue di me, e di tutta la mia Casa....
Confesso intanto per tante gratie consacrando di nuovo eternamente il mio
Figlio agF alti cenni dell* A. V. S. E. . . . Castelfranco li 27. Ottobre 1672.“
In Rom wurde Agostino Schüler von Ercole Bemabei, der seit dem
20. Juni 1672 an San Pietro, früher an S. Giovanni und an S. Luigi
de’Francesi Kapellmeister war.*) Wahrscheinlich war der Adept in Sant’
Apollinare nicht angekommen, und ist von Maccioni bei Bemabei unterge¬
bracht worden; von früheren Beziehungen des bayrischen Hofes zu Bernabei
ist nichts bekannt. In Bernabeis Schule hat sich Steffani sicherlich in
allen Stilen versuchen müssen: erhalten haben sich mit genauerer Da¬
tierung freilich nur Kirchenstücke, die nicht verleugnen, daß Ercole Berna¬
bei selber aus der Schule des Orazio Benevoli herkam. Es ist ein hand¬
schriftlich überliefertes, zweichöriges Laudate pueri für 9 Stimmen, da¬
tiert November 1673, ein zweichöriges 8 stimmiges Laudate Dominum
vom Dezember 1673 (ob identisch mit dem gedruckten Stück?); und ein
Tribuamus Deo für dieselbe Stimmenzahl aus dem gleichen Jahr, ohne
Angabe des Monats. Aus dem Jahre 1674 ein Sperate in Deo für zwei
Soprane, Alt, Tenor und Baß; 4 ) endlich das erste gedruckte Werk Stef-
fanis, die „Psalmodia vespertina volans octo plenis vocibus concinenda“
(Rom, Mutij 1674), dem Kurfürstenpaar mit dem Datum Rom, 1. Januar
1674 gewidmet. Die Baßstimme des zweiten Chors enthalt eine Bemer¬
kung an den Leser: Nicht aus Ruhmbegier, oder Nachgiebigkeit gegen
das Drangen der Freunde, oder aus anderen Ursachen habe er sein
Werk dem Druck übergeben, sondern aus Dankbarkeit gegen Ferdinand
Maria und seine Gemahlin: eine Dankbarkeit, die sich nur im Eifer der
(nur einjährigen!) Arbeit 8 ) erweisen konnte. „Der Ruhm eines solchen
Erfolges ist einzig des Wissens des Meisters, und der Stärke des Herkules,
dessen Stil nicht teilweise, sondern völlig nachzuahmen ich mir zum
■) St. A. K. schw. 261. 11.
*) ib. 514. 2.
*) Cametti, in Riv. mus. it. 1908, S. 732.
4 ) Ein undatierter Psalm, Beatus vir, für zwei Soprane und Baß mit zwei Vio¬
linen und B. c., den Cusins, dem ich hier folge, anführt, gehört in eine spätere Zeit.
5 ) Obendrein durch Krankheit unterbrochener Arbeit. Am 15. September 1673
verwilligt der Kurfürst ihm „funfeig Cronnen extra hillf ... Zu abzalung der in
seiner ausgestandtenen Krankheit gemachten schulden.“ (Kreis-A.)
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Agostino Steffani
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Ruhme rechne! Suche also diese eilige Psalmodiezu haschen, die in der
Eile der eilenden Zeit mit eilender Feder entstand, und bei der ich es
nicht auf Wohlklang und Kunst, sondern auf Kürze und Annehmlichkeit
anlegte.* Das Werk enthält vierzehn Stücke: dreizehn Psalmen (Psalm
110, 111, 112, 113, 114+115, 116 [Vers 10 f.], 126, 139, 117, 132, 122,
127, 147 [Vers 12 f.] und den Lobgesang Marias. Der llOte Psalm,
Dixit Dominus, hat ihn noch in seiner reifsten Zeit zu einer großartigen
Komposition für fünfstimmigen Chor und Orchester angeregt.
In diesem seinem Erstlingswerk ist das Hauptausdrucksmittel in
der Tat eine rapide Chordeklamation, in der die durch Achtstimmigkeit,
langsame Bewegung und gewählte Harmonisierung hervorgehobenen
Stellen um so tiefer wirken: im allgemeinen aber hat der eine Chor einen
Psalmvers noch nicht beendet, als schon der andere in der Mitte des
nächsten steht. Werke dieser Art sind häufig im 17. Jahrhundert; man
weiß überdies, daß die langen Münchener Andachten die Kurfürstin Ade¬
laide zur Verzweiflung brachten. 1 ) Die „Psalmodia “ ist das Zeugnis einer
genialen Begabung. Ich möchte, neben dem Magnificat, dessen Schluß
schon Padre Martini einen ehrenvollen Platz in seinem „Saggio fonda-
mentale pratico di Contrappunto“ gönnte, auf den Psalm In exitu hin-
weisen, der durch Kraft der Anschauung und Wucht der Behandlung
hervorragt. Eine Stelle besonders verrät eine unglaubliche Reife der
formenden Hand. Es ist jene, wo mit den Worten „Domus Israel spe-
ravit in Domino“ das rhythmische Sprechen des Chors in eine strenger
gefügte melodische Sprache übergeht: ein überraschender Reichtum der
Phantasie wird plötzlich offenbar; der Parallelismus der poetischen Form
ist musikalisch aufs feinste gemeistert. — Von Kerll schon hatte Steffani eine
reine und kräftige Überlieferung römischer Kunst empfangen; in Kerlls
geistlichen Kantaten z. B. herrscht ganz jene weiche ariose Melodik, in
die sich unter den Händen der römischen Meister das Rezitativ aufge¬
löst hatte: ein biegsames Material, das sich leicht zu geschlossenen Ariosi
verdichten konnte, aber auch gerne zarte Motive für die imitatorische
Behandlung hergab. Die römische Kunst war zu jener Zeit schon wieder
einige Schritte weiter; in diesen Lehrjahren hat Steffani sie an der Quelle
sich völlig angeeignet. Zeugnis dafür ist nicht so sehr seine Kirchen¬
musik: wir besitzen kein Werk strengen Stils von Steffani, und es scheint
fast eine Nachwirkung aus seinen Knabenjahren, wo die traditionslosere
venezianische Musik in seine Ohren klang, daß seine Kirchen- und geist¬
liche Kammermusik durchaus der „modernen“ Gattung angehört — als
die Werke, mit denen sein Ruhm sich hauptsächlich verknüpft hat, seine
Kammerduette. Carissimi ist es, den er sich dabei im Pathetischen und
Elegischen, wie im witzig Graziösen zum Muster genommen hat; und
') Merkel, a. a. O. 134.
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Agostino Steffani
fast möchte ich glauben, daß er schon in Rom die Duettkomposition zu
einer „Spezialität“ ausgebildet hat, die seinen Namen verbreitete.
Ercole Bemabei wurde in dieser Zeit der Nachfolger Kerlls als
Münchener Hofkapellmeister. Bei seiner Berufung hat Steffani eine Rolle
gespielt, bei der wir ein wenig verweilen müssen.
Maccioni dachte zuerst an Giuseppe Corsi, detto Celani, der nächst
Carissimi als der bedeutendste Kapellmeister Roms galt. Wir wissen
nicht, welche Umstände ihn abhielten, dem Ruf nach München zu folgen;
doch fanden seine Gründe die volle Billigung des Kurfürsten: „Le deli-
berationi del Celani sono si ben fondate, che dobbiamo non solo restarne
sodisfatti, ma etiandio commendarle come facciamo.“ 1 ) Maccioni empfahl
nun (19. August 1673) mit großer Wärme Giuseppe Spoglia, „essendo
giovane ben nato quieto timorato di Dio, e docile ä tal segno che es¬
sendo egli habile ad esser maestro di cappella conforme k stato della
Chiesa del Giesü ..." — doch war er dem Kurfürsten weniger genehm:
„. . sein jugendliches Alter läßt uns befürchten, er könne das Amt des
Kapellmeisters nicht mit Autorität führen in einer Kapelle, in der es
Launen gibt, die einer festen Aufsicht und Leitung gar sehr bedürfen;
weshalb es sich empfehlen wird, daß Jhr in vorsichtige Verhandlungen
eintretet mit einem Subjekt von reiferem Alter ..." Die Berufung Spo-
glias zerschlug sich Anfang 1674 daran, daß er nach dem Tode Caris-
simis zu seinem Nachfolger an S. Apollinare gewählt wurde, wie er ihn
bei Lebzeiten schon einige Male vertreten hatte.*) Nunmehr kam allein
Ercole Bernabei in Frage. Maccioni mußte in den Unterhandlungen mit
ihm höchste Vorsicht und Schweigsamkeit walten lassen „ . . . damit
nicht unser Ansehen Schaden leide im Falle einer ablehnenden Haltung
Bernabeis, und damit man kein Geschwätz davon mache; aus diesem
Grunde muß diese Angelegenheit sogar ohne Wissen des Agostino ab¬
gemacht werden, denn es könnte leicht sein, daß er in seinem jugend¬
lichen Selbstgefühl sich ein solches Amt in den Kopf gesetzt hätte, und
deshalb durch irgendeinen Kunstgriff seinen Lehrmeister [von der An¬
nahme der Münchener Stellung] abbrächte.“ 3 ) Wenn die Psalmodia
vespertina ein Zeugnis ist für die künstlerische Reife von Steffani, so
ist diese Bemerkung sicherlich ein ebenso überzeugendes für die nur
’) An Maccioni, s. d., etwa Juli 1673. St A., K. schw. 515. 26.
*) Sein Opus I, dem Kurfürsten Max Emanuel gewidmet, erschien erst 1681:
Vesperpsalmen, wie die Steffanis in rapidem Tempo geschrieben. (Vgl. Bologn. Ca*
tal. 0, 313.) Spoglia hat später offenbar die Versprechungen einer talentvollen Jugend
nicht gehalten.
*) Ferd. Maria an Maccioni, ohne Datum, Herbst 1673. (St A., K. schw. 515. 26.)
„ ... per tal cagione doverasi portar questa nego [tiatione] etiandio senza saputa
d'Agostino, perche non sarebbe gran cosa, che la di lui gioventü gli havesse posto
in pensiere simil caricha; e che perciö con qualche arte ne divertisse il suo Maestro.“
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Agostino Steffani
n
allzugroße Frühreife seines Charakters. Der zwanzigjährige Jüngling war
eine Persönlichkeit, mit der zu rechnen war; und sein intriganter Cha¬
rakter war offenbar in dem Zerwürfnis mit Kerll am Münchener Hofe
in scharfe Beleuchtung getreten. Es zeigte sich auch wirklich, daß die
Vorsicht des Kurfürsten am Platze war; denn als die langwierigen, durch
Bemabeis wunderliche Bedächtigkeit noch verzögerten, Verhandlungen
sich endlich ihrem Abschluß näherten (10. März 1674‘), verursachte Stef¬
fani ein weiteres Hemmnis, indem er seinem Lehrer versicherte, das ihm
vom Kurfürsten zugesicherte Gehalt stehe dem von Kerll bezogenen bei
weitem nach: 1180 gegen 1500 Gulden. Maccioni fiel es nicht schwer,
diesen Argwohn bei Bernabei zu zerstreuen; auch der Kurfürst be¬
kräftigte der Wahrheit gemäß (23. März 1674), Agostino habe „confuso
il sallario con altri utili, che gode il Mastro di Capelia.“
Am 15. April 1674 endlich resignierte Bernabei auf sein Amt an
der Peterskirche; „er bereitet sich schon auf die Reise vor“ schreibt
Maccioni am 14., „und sagt mir, daß er etwa am 8. Mai sich auf
den Weg machen wird, voll Verlangen, E. Hoheit zufriedenzustellen, die,
glaube ich, nichts dagegen haben wird, daß ihn auch Agostino Steffani
begleite, der gar gerne seinem Lehrer folgen und ihm beim Betreten
Deutschlands als Dolmetsch dienen möchte.“ Der Kurfürst war es denn
auch zufrieden: „procurerete di levar ogni dimora alla partenza d’esso
Bernabei, Contentandoci che seco se ne venga Agostino Steffani . . .“
Maccioni lieh Agostino zur Reise 50 Scudi, die er Mühe hatte, wiederzu-
erhalten.*) Die Reise ging wieder über Venedig, wohin Steffani noch
357 Gulden „Übermacht“ wurden; am 7. Juli — nach Steffanis Angabe
am 8. — trafen die Musiker in München ein. Vom Tag seiner Ankunft
an wurden Steffani laut Dekret vom 1. März 1675 „Jehrlich Sechshundert
gülden Sold vnd für Wein vnd Bier Ainhundert sibenzig gülden 20 kr.
also zusamben Sibenhundert Sibenzig gülden 20 kr. sambt täglich an
Brot zwo Semel vnd ein par laibl gnedigst verwilliget.“ 8 ) Bei diesem
Gehalt blieb Steffani bis zum 1. Januar 1681 stehen.
*) St. A., K. schw. 489/4.
*) Rom, 2. März 1675, Maccioni an den Kurfürsten: „Apprendo qualche timore
che VAE. non habbia pienamente approvato che io habbia somministrato ad Ago¬
stino Stefani li scudi 50. per il suo viaggio, che perciö supplichevole ne chiedo a
VAE humilissimo perdono se havessi errato; supplicandola ad attribuire questa mia
prontezza al zelo grande che tengo di ben servire VAE. E certo che ii Bernabei
con la sua famiglia non poteva far questo viaggio in paese dove nfe intende il par-
lare, ne puö essere inteso senza interprete, 6 altra persona che intendesse la lingua
tedesca, e se ne dichiarö meco apertamente; ciofe che senza Agostino, 6 pure
altra persona che intendesse la lingua egli non poteva viaggiare ..." (St A. K.
schw. 489. 4.)
*) R.-A. FOrstens. LXU» 645e.
Kir ch e nmu sik. Jthrboch. 23. Jthrg. 2
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Agostino Steffani
Vor den erwähnten 1. März 1675 fällt eine im Münchener Kreis-
Archiv aufbewahrte, undatierte Supplik Steffanis 1 ) — „da der Kurfürst
ohnehin geneigt sei, sein Gehalt zu verbessern, so bitte er die Erhöhung
vom 8. Juli an, dem Tag seines zweiten und letztmaligen Eintreffens in
München, rechnen zu lassen. Von dieser Gunst habe er persönlich keinen
Vorteil. Denn da er, um sich unlöslich an den kurfürstlichen Hof zu
binden, seine Angehörigen kommen lassen solle — er habe sie bereits
dazu aufgefordert — erwüchsen ihm viele Ausgaben. Er wolle sein
Mögliches tun, dieser Gnade nicht unwürdig zu sein, indem er sein
ganzes, ziemlich brachliegendes Talent in den Dienst des Kurfürsten
stelle.“ Im Herbst dieses Jahres scheint er wirklich zur Ordnung der
Angelegenheit in die Heimat gereist zu sein; denn am 20. September
empfängt an seiner Statt Augustin Sayler „die ienige Ainhundert gülden,
welche Se. Churfr. Drt. ihme Steffani zu ainem rais Pfennig gnedigst
verwilligt;“ des weiteren enthalten die Zahlbücher für 1675 unter „Ab¬
fertigungen und Gnadengeschenken“ den Eintrag: „Joseph Barberio Mu -
sico vnd H. Stephano aufi Gn: crafft Ordinanz vnd schein f. 400.—“
Im folgenden Jahre kam Camillo Steffani nach München, um die Über¬
siedelung vorzubereiten; der Kurfürst verwilligte ihm 90 Gulden „zu
ainer Raiß Zöhrung.“ Doch verzögerte sich die Ankunft der Familie
bis zum Frühjahr 1677.
Nur die eine der Schwestern, wohl die ältere, kam nicht mit nach
München. Sie wurde im Monastero delle Zitelle in Padua untergebracht,
aus dem sie später in das Haus der Familie Franchini übersiedelte: dort
starb sie Ende Januar 1716.*) Die jüngere Schwester, Ippolita, verhei¬
ratete sich nicht in München, wie Woker angibt, 8 ) sondern trat in das
Kloster der Schwestern Mariä Heimsuchung, mit dessen ersten vier In-
sassinen ja Agostino selber dereinst von Padua nach München über die
') Kirchentn. Jahrb. 1891, S. 72.
*) Steffani hatte nach ihrem Tode gegen ihr, unter dem Einfluß der Familie
Franchini geschriebenes Testament zu protestieren. Er schreibt, Neuhaus den 29. Fe¬
bruar 1716 an ihren Beichtvater, P. D. Raffaello Savonarola in Padua, nachdem er
ihm gedankt hat für „. . . la Christiana Caritä, con la quäle ella hä aßistita la mia
povera defunta sorella negl’ vltimi periodi della sua vita“: „Ella t morta in vna Casa,
ove V. R. havrebbe facilmente potuto restar informata, che in tutto il tempo che hä
vißuto, nulla hä havuto, che quello che io gli hö dato, particolarmente doppo la morte
di mio Fratello di f. m. Havrebbe V. R. potuto sapere, che io la posi vicino ä 40: an-
ni fä in cotesto Monastero delle Zittelle con 500: Ducati di Dote, e 12: Ducati di
Livello cavati dalla mia sola borsa; che doppo molti anni d’vna tale spesa a persua-
sione della Signora Paola Emilia Franchini mi convenne perdere la Dote, et il Li¬
vello, e farla vscir dal Monastero per alimentarla nella Casa ove ä morta, e dove ella
hä consumati sempre gl’ interessi di un Capitale di piü di 5000: Ducati, che fä l’unica
hereditä, che io conservo del predetto mio Fratello . . . ä stravaganza il far Testa¬
mente di quel che non si hä . .
*) Gesch. der kath. Kirche ... in Hannover, etc. S. 164.
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Agostino Steffani
Id
Alpen gezogen war. 1 * * ) Ihr Klostemame war Teresa Magdalena. Im
Jahre 1703 und 1704 erbittet Steffani för diese „wälschen Nonnen“ von
Kurfürst Johann Wilhelm Vermittelung beim Kaiser, zum Schutz für ihre
Güter in der Oberpfalz (Gnadenberg); am 10. März 1713 empfiehlt er
seine Schwester dem Beichtvater dieses Kurfürsten, P. Ferdinand Orban,
und läbt ihr durch ihn eine Geldsumme zustellen: „Est Monachii notum
Ccenobium Sancti monialium Visitationis B. M. V., quae vulgo Italae di-
cuntur, etsi non nisi una ex Ula Transalpina regione, haecque mea Soror,
quam mihi tot ammissis carioribus conjunctis superstitem Superi reli-
querunt, ln eo adhuc vivat.“ Im September 1716 erhielt sie Besuch von
Steffanis Kirchenbau-Kollekteur, dem Hofkaplan Feckler, im Jahre 1719
von dem Münsterschen Prälaten Baron von Plettenberg. Am 27. Sep¬
tember 1719 nennt sie Abbate Alessandro Clemente Scarlatti „la Reve-
rendissima Madre degnissima Superiora, e sorella di V. S. Illma“ — in
der Tat wurde sie Äbtissin des Klosters: das geh. Hausarchiv bewahrt
zwei Einladungsschreiben von ihr an die Kurfürstin Therese Kunigunde
zum Gottesdienst und Festmahl am Tage des Herzens Christi; das spä¬
tere 1720 datiert. Wann sie starb, konnte ich nicht ermitteln.
Ventura Terzago wurde laut Dekret vom 6. Juni 1677*) zur Ver¬
wendung »in gewissen Compositionen u vom 1. April an auf ein Jahr,
nach dessen „Verfließung . . des weiteren Verhalts willen wider“ ange¬
fragt werden sollte, mit 400 Gulden, zu denen ihm am 5. April des fol¬
genden Jahres noch 200 zugelegt wurden, in den Hofstaat aufgenommen.
Ersetzte er anfänglich als »Komponist“ den Hofpoeten Domenico Gis¬
berti, der 1675 nach Venedig zurückgekehrt war, so erhielt er später,
am 1. Juli 1679, nachdem er auf einer Reise in die Heimat noch seine
Angelegenheiten endgültig geordnet, 8 ) die Stelle des Geheimsekretärs
Carlo Begnudelli Basso, mit jährlich 800 fl. Gehalt und dem Ratstitel.
Eine Supplik 4 * ) aus dem Jahre 1683 belehrt uns, daß ihm sein Doppel¬
amt damit gering bezahlt schien. Er bittet darin um das Futter für zwei
Wagenpferde, „die ich zu meiner größten Belastung unterhalten muß,
denn meine Mutter ist alt und gichtbrüchig und kann nicht gehen ...“
Er habe um so mehr Anrecht auf Erfüllung seines Ansuchens, „als ich
außer dem Dienst des Begnudelli auch den des Gisberti mache, der mit
Gehalt, einer Pfründe, Brot, Wein und Bier mehr als 1000 fl. hatte,
während ich mit 800 fl. Gehalt zwei Ämter versehe, die die kurfürstliche
Kammer früher mehr als 2200 fl. gekostet haben.“ Terzago hatte Unrecht
l ) L. Muggenthaler. Der Schulorden der Salesianerinnen in Bayern von 1667
bis 1831. Jahrb. f. Münchener Gesch. V (1894), 61 ff.
*) R.-A. Fürstens. LXU» 645«.
*) K.-A. Hofzahlamtsrechnungen. „VenturaZerzago Componisten, pr: zu ainem
Raiscossten inhalt Ordonanz verwilligite f. 100—.“
4 ) ebenda, Personalakt.
2 *
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Agostino Steffani
sich zu beklagen: sein Gehalt erhielt, wie der seines Bruders Agostino,
durch Gnadengeschenke oder reichliche Reiseentschädigungen einen an¬
sehnlichen Zuwachs. Denn seine Tätigkeit als Sekretär wurde durch
häufige Reisen unterbrochen: außer der erwähnten vom Jahre 1679, zu
der ihm 100 Gulden verwilligt wurden, wissen wir von einer weiteren
im Frühjahr 1682, die ihn nach Rom führte, von wo ihn der Kurfürst
mit Ungeduld heim verlangte;') von einer weiteren nach Venedig im fol¬
genden Jahr,*) und im Jahre 1684, wo ihm „wegen einer mit dem herrn
Scarlati an den kayserlichen Hoff verrichten Commission “ 246. 21 fl.
ersetzt werden; endlich von einer mehrmonatlichen im Sommer 1687.
Daneben hat er eine große Rührigkeit als Dichter entfaltet, und acht
Jahre lang den beiden Bemabei und seinem Bruder eine Anzahl von
Operntexten geliefert:
1 .
2 .
3.
4.
5.
6 .
7.
8 .
9.
10 .
10. Febr. 1678 Alvilda in Abo . . . Melo-drama (G. A. Bernabei);
— vorher muß er ein lyrisches Poem dem Kurfürsten gewidmet
haben, denn er sagt in der Vorrede „. . Eccomi sü le Scene di
questa Reggia cangiar la Cetra in Coturno, e stancare per la seconda
volta la Clemenza di V. A. S. E. . .*
Jan. 1679 Erna in Italia. Drama per Musica (G. A. Bernabei)
28. Jan. 1680 II litigio del Cielo, e della Terra Torneamento . .
(Ercole Bernabei)*)
11. Juli 1680 L'Ermione, Drama per Musica .. (G. A. Bernabei)
1681
1685
Carneval 1685
30. Dez. 1685
1686
Giulio Cesare . . Torneamento
Marco Aurelio
Solone
Audacia e Rispetto . . Torneo
Servio Tullio
Erote ed Ante rote, Torneo
( . * )
(Steffani)
( w )
( * )
( * )
(Erc. Bernabei).
Giuseppe Antonio Bemabei wurde im Jahre 1677 als Vizekapell¬
meister von Rom, wo er das Amt des Kapellmeisters an S. Luigi de’
Francesi innehatte, nach München berufen. Maccioni beglückwünschte
den Kurfürsten zu seiner Wahl: „er zählt hier unter die ersten Virtuosen,
sowohl im Klavierspiel, wie auch in der Komposition für Kirche, Kam¬
mer und die Bühne, und vereinigt seine Künstlerschaft mit der Furcht
•) St. A., K. schw. 314. 9.
*) ib., 266. 7. Terzago an Sig* Marx Maier, al Campo, Venedig 21. Juni 1683:
„Non so se sia noto a V. S. 111“* che mentre ch’ella fa la sua campagna d’ Vngheria
io fo la mia in Venezia dove sono per qualche ordine di Sua A. E. ma anche per
qualche importantissimo mio interesse . .
*) Rudhart und ReinhardstOttner, Jahrb. f. Münchener Gesch. I, 135 f. führen
nach Lipowsky für den 12. März 1680 eine Oper Venturas, La Dort an. (G. A. Ber¬
nabei.)
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Agostino Steffani
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Gottes; denn er ist ein wackerer Priester.“ Bernabei selbst übersendet
am 17. April voll Freude über seine Ernennung ein frisch komponiertes
Motett für vier Baßstimmen, und bittet, in München eine Handvoll mehr¬
stimmiger Motetten drucken lassen und dem Kurfürsten widmen zu
dürfen. 1 ) Am 24. Juni kam er in München an.
Es ist wie eine Fügung, daß Agostino sein Verhalten gegen Kerll
durch seine Unverträglichkeit mit dem Sohne von Kerlls Amtsnachfolger
sühnen sollte.*) Steffani mochte schon die Berufung, sicher aber den
höheren Gehalt und die höhere Stellung Giuseppe Antonios als eine Zu¬
rücksetzung seiner Person und Geringschätzung seines Talents auffassen:
der Kurfürst suchte diese Mißstimmung, die sich ja schon in der Sup¬
plik von 1675 ankündigt, durch außerordentliche Zuwendungen zu be¬
schwichtigen: so verwilligte er mit Dekret vom 4. Juli 1678 dem „Hof-
vnd Camer Organisten Augustino Steffani auf sein vnderthenigstes an-
halten vnd auß gnaden zu gewißem ende Vierhundert gülden.“*) Das
„gewisse Ende“ war eine offenbar weitausgedehnte Kunstreise, die den
jungen Künstler über Paris nach Turin führte. In Paris hat sich Steffani
sicherlich Lullys „Bellerophon“ angehört Wir haben leider nur vom
Ende der Reise in den Berichten des kurfürstlichen Residenten in Turin,
Johann Barth. Schalck, archivalische Kunde: 4 )
(Turin 20. Mai 1679) „Agostino Stephani Eur Churfrt. Dhl. Hoff Musicus
ist verwichner tagen in Turin ankommen. Ich hab ihn der Madama Reale
prcesentirt vund bey Ihr seine virtu hervorgestrichen, verlangt ihn derohalben
mit negstem Zuhören. Er hat die Ehr gehabt vor dem König in frankreich
zu spülen; göstert hat Er auch vor dem Cardinal [d’ Estr£e] gespilt dessen
habileti vnnd addresse von der gantzen Compagnie admirirt worden. Sobald
ihn nur Madama Reale wirdt gehört haben, wirdt er sich alsobalden auf die
reis begeben vmb sich mit ehistem wider in München einzufinden.“
(27. Mai) „ Agostino Stephani E. Churfrt Dhl. Hoff Musicus hat sich
göstert vor Madama Reale in der Camera di Parada hören lassen, vnd ist
sein zierliches vund delicates Spillen vom gantzen Hoff approbirt worden,
wie dan Madama Reale 2 in 3 mahl zu ihme gesagt Vous joues fort bien,
vous joues pcufaitement bien, wirdt also auffs ehiste seine reis antretten vnd
sich wider vnderthenigst zuhaus einstellen.“
■) St. A. K. schw. 290. 8.
*) Mit andern Musikern der Kapelle war das Verhältnis besser. So unterhielt
er mit dem Kammermusiker Giulio Rossoni nach dessen Abgang von München noch
einen Briefwechsel. Rossoni schreibt Mailand 15. Dez. 1677, an ein Mitglied der kur¬
fürstlichen Familie: „Mi consola non poco il Signor Agostino Stefani qualche volta
con sue lettere, mentre con quelle mi fä credere che PA. V. S. conservi ancora qualche
bontä verso di me, dicendomi che PA. V. si degni di quando in quando farli be¬
nignamente chiamare de Mie nove ..." [K. schw. 537. 29.]
•) R.-A. Fürstens. LXI1* 645». Im Kirchenmusikal. Jahrb. 1891, S. 72 trägt das
Dekret ein falsches Datum.
4 ) St. A., K. schw. 290. 8.
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Agostino Steffani
Am gleichen Tage; da Steffani am Turiner Hof spielte, erfolgte der
Tod des Kurfürsten Ferdinand Maria, und wird Steffani zur schleuni-
schen Heimkehr nach München veranlaßt haben.
Mit dem Regierungsantritt Max Emanuels neigte sich das Zünglein
der kurfürstlichen Gunst noch mehr als unter Ferdinand Maria und Ade¬
laide auf die Seite Agostinos: und nun mag es G. A. Bemabei gewesen
sein, der die Bevorzugung eines im Amt unter ihm stehenden Musikers
mit scheelen Augen angesehen hat Um ihm jeden Anlaß zu Beschwer¬
den zu nehmen, stellt der Kurfürst Steffani ihm zwar gleich, sichert aber
ihm, als dem 5 Jahre älteren, den Vorrang. Ein Dekret vom 15. Januar
1681 belehrt uns über das Verhältnis: 1 )
„Demnach die Churfr. Dhr. in Bayrn . . . den Ersamben Priester, dero
Hof Organisten, Augustin Steffani die gnad gethon vnd ihne zu dero Camer-
Music Directom gnedigst declariert, auch verwilliget, das er hinfüran dero
Vice Capellmaister Josephen Antonio Bamabej, sowol mit der besoldung,
als in all ander weeg, gleich gehalten werden: iedoch aber disem der Vor¬
gang femers Verbleiben solle; Alß beuelchen Sye . . . daß ihme Steffani für-
dershin für alles vnd alles, iehrlich Aintausend achtzig-gulden, gleich wie es
ermelter Vice Capelmaister dermahlen geniesset, zu Quartain eingethailter
verraicht: vnd darmit der anfang von eingang diß Jahrs gemacht werde ...“
Steffani blieb jedenfalls der bevorzugte Liebling des Hofes, dem von
jetzt an die meisten und ehrenvollsten Aufträge zu Opernkompositionen
zufielen, und dessen Stellung als Kammermusik-Direktor ihm den näheren
Platz an der Sonne der kurfürstlichen Gunst sicherte. Das hat G. A.
Bemabei wohl gefühlt. Er hört nicht auf, über Zurücksetzungen klein¬
liche Beschwerden zu führen,*) und ist bei der Vergleichung der seinem
Nebenbuhler gewährten Gnaden mit seiner Besoldung stets voll Bitterkeit
geblieben. Noch im Jahre 1693, fünf Jahre nach Steffanis Abgang, tut
er die charakteristische Äußerung: weder er noch sein armer Vater
sei je eines Gnadengeschenkes gewürdigt worden; er verdiene eine Ver¬
abschiedung mit eben den Gnaden und Vorteilen, die Don Agostino
Steffani erhalten habe, „perche mi par di meritarle ä par di lui si per
le fatiche fatte con la mia assidua servitü, come per il merito di mio
Padre.“ 8 ) Noch bis in die Jahre 1715 und 1716 hat die Rivalität der beiden
Musiker fortgedauert, und damals einen Zwiespalt in eine ganze Kapelle —
die Düsseldorfer — getragen.
l ) R.-A. Fürstens. LXVII1» 677«. Im St A., K. schw. 238. 2 ein Konzept in
charakteristischer Fassung: „. . . das Er hinfüran dero Fzae-Capellmaistem in dem
respect vnd anderm allerdings gleich gehalten werden: iedoch aber disem der Vor¬
gang femers verbleiben solle; Alß ist deroselben gnedigster befelch hiemit, daß Er
Steffani fürdershin [von meniglich, bevorab dero Camer Music] darfür erkhennet vnd
gehalten [vnd ihme in billichen dingen obedirt] werde . . .“
*) Vgl. Kirchenmusikal. Jahrb. 1891, S. 75.
•) K.-A., Personalakt
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Agostino Steffani
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Welch einflußreiche Stellung der Kammermusik-Direktor einnahm,
lehrt die Episode eines mißglückten Künstler-Engagements. Der treff¬
liche Gambist Augustin Kühnei, damals in Dienst des Herzogs von
Sachsen Zeitz, kam im Laufe des Jahres 1680 an den Münchener Hof,
wo er dem Kurfürsten ausnehmend gefiel, und wo ihm die Aufnahme
in die Kapelle selber höchst erwünscht erschienen sein muß: er wurde
auch, trotz seines lutherischen Glaubens, „inhalt ordonanz vom 28. Sep¬
tember ... für ainen Hof Musicum vf ain Jahr angeschafft“ mit 1000 fl.
Gehalt. Kurz nach seiner Anstellung scheint er nach Zeitz zurückgekehrt
zu sein, um seine Übersiedelung nach München mit Weib und Kind
vorzubereiten — da stellte man in München am 27. Februar 1681 die Zah¬
lung seines Gehalts ein, trotzdem ihm Steffani gute Hoffnung gemacht
hatte, „man werde ihn wegen der religion nicht forßiren.“ Auf eine
weitere Anfrage Kühneis antwortete Steffani nicht, wohl aus Unlust
deutsch zu schreiben, wie der gutmütige Kühnei vermutet. Als im De¬
zember 1681 Kühneis Herr, Herzog Moritz, starb, bot sich ihm eine neue
Gelegenheit, mit München anzuknüpfen: er schrieb am 6. September 1682
an Geheimsekretär Prielmair und legte einen Brief an Steffani bei, mit
der dringenden Bitte um Antwort. Die hat Steffani zwar versprochen,
aber wieder sein Wort nicht gehalten; und Kühneis dauernde Anstellung
zerschlug sich schließlich an der Intoleranz des bayrischen Hofes. 1 ) Beim
Vergleich mit der offnen und männlich festen Haltung Kühneis erscheint
Steffanis Rolle bei diesem Handel nicht eben würdig. Sie wird jedoch
erklärlich, wenn man sich erinnert, daß in jener Zeit der Ausgang des
Heiratsplans von Max Emanuel mit der Prinzessin Eleonore Erdmuthe
von Sachsen-Eisenach jede duldsame Regung am Münchener Hofe unter¬
drücken mußte. Wurde die lutherische Prinzessin die Gemahlin Max
Emanuels, so war die von Kühnei geforderte Glaubensfreiheit möglich,
und Steffani konnte sie mit Recht verbürgen: und er hat später vielleicht
nur deshalb die Schreiben Kühneis unbeantwortet gelassen, weil er eine
aussichtslose Sache nicht fördern mochte.
Die Vertraulichkeit, deren Max Emanuel den Künstler würdigte,
führte Steffani in jenen Jahren auf die Bahn des Diplomaten. Man sah
im 16. und 17. Jahrhundert den Künstler als besonders geeignet zum
Vermittler in Staatsgeschäften an*) — ich denke an Rubens, oder an die
Sendung des Atto Melani an den bayerischen Hof —für Steffani aber
ist dieser Schritt bedeutungsvoller geworden als für irgend einen andern
Diplomaten-Künstler: denn er hat den Schwerpunkt seines Lebens in
‘) Die Briefe Kahneis abgedruckt von Sandberger, D T B D, 2, S. LXXXI f.
*) Die Akten des Propaganda-Archivs sollten einmal zum Nutzen der Künstler¬
geschichte durchforscht werden. Nach einigen Proben sind sie eine Fundgrube für
die Geschichte italienischer Musiker an den ketzerischen deutschen Höfen.
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Agostino Steffani
seine geistliche und diplomatische Laufbahn verlegt, ohne schließlich die
hohen Ziele seines Ehrgeizes auch nur annähernd zu erreichen.
Mit dieser seiner neuen Tätigkeit im Zusammenhang stehen augen¬
scheinlich die mehrfachen Geldschenkungen, deren besonderen Anlaß wir
nur leider nicht mehr zu erkennen vermögen; eben weil der Kurfürst
ihn zu Sendungen persönlichster Art verwendete, über die die Akten fast
völliges Schweigen bewahren. So erhielt Steffani am 3. Nov. 1680 die
Summe von 1200 Gulden 1 ) „auß gewißen Ursachen vnd gnaden“; am
16. August 1681 1000 Gulden „zu gewißem Ende“. Für Reisen nach
Frankfurt und Köln im Jahre 1683 werden ihm 489 Gulden vergütet,
ohne daß wir den Zweck dieser Exkursionen weiter erfahren.*)
Nur von einer seiner Sendungen haben wir bestimmte Kunde, und
zwar von der für sein Schicksal folgenreichsten, da sie ihn in Verbin¬
dung mit dem Hofe brachte, der seine wahre geistige Heimat in Deutsch¬
land werden sollte, und wo er den fruchtbarsten Boden für seine Gaben:
die musikalische und diplomatische; später für seinen apostolischen Eifer
fand: — mit dem Hofe des Herzogs Ernst August von Hannover. Am Ende
des Jahres 1682, wie schon vorher mehrere Male, weilte der hannoverani-
sche Agent Abbate Lodovico Ballati in München. Er sollte unter dem
Deckmantel einer allgemeinen Religionsunion — ein solcher Vorwand
konnte allerdings die langwierigsten Verhandlungen unverdächtig machen!
— die von dem Weifenhofe lebhaft gewünschte, selbst vom Papst mit
Vorliebe erwogene Verbindung von Max Emanuel mit der Prinzessin
Sophie Charlotte betreiben. Der Unterhändler auf bayrischer Seite war
Steffani. Wir geben sein eigenes Zeugnis wieder aus der obenerwähnten
Autobiographie von 1706:
„Ganz Oberdeutschland weiß, daß ich am bayrischen Hof die Ehre der
allerinnigsten Vertraulichkeit mit dem noch lebenden so unseligen Fürsten
genossen habe. Um Ihnen einen Begriff vom Maße dieses Vertrauens zu
geben: — in der heiklen Angelegenheit seiner ersten Vermählung hat dieser
Herrscher sich einzig des Grafen Friedrich von Preising, Canonicus von Salz¬
burg bedient, um die Prinzessin von Eisenach, die später als Kurfürstin von
Sachsen starb, zu sehen; und meiner, um die Absichten der Prinzessin von
Hannover, die später als Königin von Preußen starb, zu erkunden. Mein
Stern hatte damals am bayrischen Hof so gewaltigen Einfluß, daß ich ganz
allein acht volle Monate dem ganzen Staatsrat des kaiserlichen Hofes die
Stirn bot, und dem ganzen des Kurfürsten, der vereint mit jenem die Erzher¬
zogin Maria Antonia ihm zur Gemahlin wünschte. Er heiratete sie denn
auch, weil die Prinzessin von Hannover, des Wartens auf den Münchner
*) Im Landshuter K.-A., fase. 347, seine eigenhändige Quittung darüber mit
seinem Siegel.
•) Die Hofzahlamtsrechnungen 1687 verzeichnen noch: „Stephann Augustin
Priestern, Vermög Ordinanz f. 30—.“
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Agostino Steffani
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Bescheid müde, dem jetzigen König von Preußen, damals verwitweten Kur¬
prinzen von Brandenburg gegeben wurde."
Wirklich hat sich der Vorgang nach dieser Darstellung abgespielt,
mit Beschränkung des übertriebenen: „ich ganz allein“: im Gegenteil
hatte die hannoveranische Partei „in der heiratssache einen gar zue gro¬
ßen, vnd starckhen anhalt ..." — so war dem erwähnten Grafen von
Preising im Falle ihres Gelingens eine jährliche Pension von 10000 Gul¬
den vom hannoveranischen Hof zugesagt. Steffani hatte damals einen
scharfen Beobachter in dem Pfalz-Neuburger Obristkanzler Joh. Ferd.
Frh. v. Yrsch, aus dessen Berichten wir erfahren, daß Steffani um die
Wende des Jahres 1682 in Hannover war, mit einer goldenen Kette „ad
anderthalb pfundt" beladen nach München zurückkehrte, und das Lob
der geistvollen Prinzessin begeistert verkündete. Dabei scheute er sich
nicht, ihre Nebenbuhlerinnen, die neuburgischen Prinzessinen Maria So¬
phia Elisabeth und Maria Anna, die er auf einer Reise um 1680 ohne
Erfolg zu Gesicht zu bekommen versucht hatte, gründlich herunterzu¬
machen. Er trägt denn auch von seiten Yrschs die Schmeichelnamen
eines „losen Gesellen" und leichtfertigen Lügners davon. 1 )
In dem Maße, als der Wiener Gesandte in München, Graf Kaunitz,
an Boden gewann, verlor das hannoveranische Projekt an Aussicht auf
Verwirklichung. Steffani versuchte, wie aus einem von der Herzogin Sophie
an jenen Ballati gerichteten Brief (15/25. Oktober 1683) hervorgeht, ver¬
geblich, die Angelegenheit wieder in Fluß zu bringen, nachdem Max
Emanuel weitere Verhandlungen mit dem Hinweis auf die Türkengefahr
bis auf seine Rückkehr aus dem Feldzug verschoben hatte.*) Auch Prei¬
sing bemühte sich umsonst, das Hoffnungsfeuerchen wieder anzufachen.
„Was die bewußte Frage anlangt,“ schreibt Sophie am 16/26. Nov. an
Ballati,*) „so will der Zehntausendthaler-Mann nicht locker lassen. Er
hat den Priester [Steffani] angestellt, uns zur Geduld zu verweisen; aber
man ist bei der Antwort geblieben, die Sie bereits gegeben haben. 4 ) Der
Wiener Hof trug den Sieg davon, und Steffani selbst hat die Vermählung
Max Emanuels mit der Erzherzogin durch seine Festoper „Servio Tullio“
*) Vgl. Sammelt), der JMG IX, 390 f.
*) „Le pauvre Steffani sollicite le Seigneur Hortance [Mauro] de faire agrter
cette rtponse. 11 peste que vous n’fttes plus ä Hanover et je crois que vous serez
de retour d’Espagne, avant qu’une autre rösolution soit prise." — Publ. aus preuß.
Staatsarchiven; Bd. 79, herausgeg. von Dcebner. S. 116.
») ebenda, S. 119.
4 ) Sophie gab übrigens nicht alle Hoffnungen auf, Max Emanuel wenn nicht
mit ihrer Tochter, so doch mit ihrer Nichte Charlotte Felicitas zu vermählen. Man
* vgl. ihren Brief an Ballati (a. a. O., S. 123) vom 8/18. Februar; auch den nächsten
Brief vom 12/22. Mai 1684. Auch diese Hoffnung war vielleicht ein Gegenstand der
Korrespondenz von Steffani mit Hannover.
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Agostino Steffani
verherrlicht. Mit ebenso schlechtem Erfolge wie im Jahre 1683 hat er
zehn Jahre später nochmals den Versuch gemacht, Max Emanuel der
Heirat mit einer hannoveranischen Prinzessin, diesmal einer der Töchter
der Pfalzgräfin Benedikta, geneigt zu machen: war ihm 1683 der Wiener
Hof entgegen, so 1693 der Madrider. Den einmal gebahnten Weg nach
Hannover aber hat der kluge Abbate nicht mehr verfallen lassen; wir
werden später, bei seinem Abschied von München, im Zusammenhang
darauf zurückkommen.
Zum Priester war Steffani im Lauf des Jahres 1680 geweiht wor¬
den. Damit erschloß sich ein neues Feld für die kurfürstlichen Gunst¬
bezeigungen.
Am 4. Dezember 1682 bestätigt Max Emanuel seinem Residenten
in Rom, Abbate Pompeo Scarlatti, den Empfang der päpstlichen Bolle,
betreffend die Pfarrpfründe „Leipsing:“*)
„Hö ricevute le bolle da lei inviate intorno al benefizio di Leipsing, e
trovato buono quanto m’ ha piü abondantemente rapresentato sopra questo
affare. Intanto non manchi ella di ringraziar nuovamente in mio nome
Monsignor Liberati, ed attestargli la stima distinta e la memoria che con-
serverö al suo singolar merito, ed alla prontezza obligante, con cui egli ha
avuto mira di compiacermi.“
Monsignor Liberati war Sottodatario der Kurie; und es bedurfte
in der Tat besonderer Vqrkehrungen bei der Übertragung der kleinen
Pfründe an Steffani.
„Der Pfarrort Lepsingen in der Grafschaft Öttingen-Wallerstein war
ganz protestantisch, die Pfarrpfründe jedoch in katholischem Besitze ge¬
blieben. Sie wurde Propstei genannt und als Sinekure abwechselnd vom
Augsburger Domkapitel und dem Grafen von öttingen vergeben. Meist
hatte ein Augsburger Domherr sie inne“*) Steffani erhielt die Pfründe
auf die Fürsprache Max Emanuels hin im Mai 1683 übertragen und zwar
weder durch das Kapitel, noch durch den Fürsten von öttingen — doch
mußte er sich diesem am 15. des Monats durch Revers verpflichten,
„daß er diese Pfarr künftighin niemand anders, dan unß“, und nur in
den sechs ungeraden Monaten alten Kalenders, „alß in welchen unserm
fürstlichen Hause die Collatur zustehet, resigniren wolle.“ Steffani hat in
einem Briefe an Conte Fede vom 22. Juni 1704 die Vorkehrungen der
Dataria bei dieser Übertragung selbst geschildert:*)
„Durch Verzicht des Grafen von Castel, später Bischof von Eichstätt,
war die kleine Abtei Lepsing bei der Kurie erledigt: der Besitzer beanspruchte
die Präpositur Augsburg, die er auch erhielt. Seine Heiligkeit Papst Inno-
*) St-A., K. schw. 314. 9.
*) Woker, a. a. O. 1885, 2. Vgl. Steichele, Das Bisthum Augsburg, S. 1244.
») St.-A., K. blau 85. 16.
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Agostino Steffani 21
zenz XI. gab sie mir, indem er für dieses eine Mal das Juspatronato des
Augsburger Domkapitels, und des Fürsten von öttingen aufhob. Das päpst¬
liche Diplom wurde mir geschickt; aber da man an der Willfährigkeit des
lutherischen Fürsten dem Heiligen Stuhl gegenüber zweifelte, so schickte mir
einige Wochen nach Empfang des erwähnten Diploms die päpstliche Kanzlei
ein anderes, und zwar mit einer Datierung, die mit dem Datum des Verzichts
meines Vorgängers durchaus nicht übereinstimmte. Dieser Akt kann . . .
nur von bemerkenswerter Vermessenheit als Unredlichkeit getadelt werden,
denn er hatte keinen anderen Zweck, als den unbequemen Einspruch des
Fürsten zu vermeiden.“
Aber auch von katholischer Seite ging die Übertragung des Benefi-
ziums nicht ohne Widerspruch vor sich. Das Augsburger Domkapitel erhob
lauten Protest bei Max Emanuel, daß es die „von ohnfürdenklichen Jahm
hero ohn underbrochnen Innen gehabten Pfarr Lepsingen durch deren
Ihrem Hoff Caplan vndt Directori Musices Herren Augustmo Steffani in
Curia Romana beschechene Collation“ verlieren solle, 1 ) und bat, daß
„zue abwendung obangezogener prceiudiciorum ernannter herr Augustin
Steffani Sich berührter Pfarr Lepsingen begeben, vndt etwan mit einer
anderweitigen Gnad oder beneficio aintweders in Ewer Churfürst. Drt.
Eignen Churfürstenthumb vndt landen, oder aber von Ihrer Päpst. Heyli-
keitt vermittelst Ihrer hohen Interceßion providiert werden möge.“ Und
der Bischof von Augsburg, Johann Christoph, hielt die Sache für wichtig
genug, den Deputierten des Kapitels eine Empfehlung an den Kurfürsten
mitzugeben.*) Auch später schützten alle Vorkehrungen — sie wurden
sogar in den Geheimratssitzungen besprochen 8 ) — Steffani nicht im un¬
gestörten Besitz der Pfründe. Im Jahre 1692 nahm der Baron von Au
Steffanis Abgang aus dem Dienst Max Emanuels zum Vorwand, sie ihm
streitig zu machen. Er sicherte sich in München den Beistand des Ge¬
heimrats Frh. v. Wampl, des bayrischen Vizekanzlers, sondierte in öttin¬
gen, ob man wider ihn nichts einzuwenden habe, und erhielt günstigen
Bescheid, im Falle der Fürst bei Max Emanuel durch die Ausschließung
Steffanis keinen Anstoß errege. Am 17. September ging auch schon an
Steffani ein Schreiben des Fürsten Albrecht Ernst von öttingen ab, mit
der Aufforderung seinem Revers gemäß zu resignieren, da „gedachte Pfarr
Löpsingen, vermög der alten jederweiligen Observanz und gewohnheit,
niemahls von einig anderer Person, oder Subjecto genoßen worden, als
welche ohnfern von hier einen fixam sedem gehabt;“ — man habe schon
lang auf seine Resignation gewartet, nachdem er die kurbayrischen
Dienste verlassen. — Steffani sträubte sich gegen den Verzicht mit Hän-
*) St-A., K. schw. 83. 14. Augsburg, s. d. (15. Dez. 1682.)
*) ibid., Dillingen, 24. März 1683.
*) K.-A. München, Fragmente von Geheimrats-Protokollen; H. R. Fase. 254.
12. April 1683. „ ... mit dem Steffani zu reden, damit Er den offertum [die Pfarr
Lepsing betreffend] annehme.* Vgl. auch die Protokolle von 1694.
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Agostino Steffani
den und Füßen: er schrieb einen fulminanten Brief an einen geistlichen
Gönner in München mit der Bitte, Max Emanuel zu erneuter dringender
Verwendung für ihn beim Fürsten von öttingen zu veranlassen, des
Kurfürsten Empfehlungen für Baron von Au einzuschränken, und dahin
zu wirken, daß er lebenslang im Genuß des Beneiiziums bleibe, usw. 1 )
Am 4. November 1693 ließ Max Emanuel in diesem Sinn an den Fürsten
schreiben; und wie es scheint mit Erfolg. Denn bis zum September
1706, seitdem er den Bischofstitel hinter seinen Namen setzen kann,
unterzeichnet Steffani nicht anders als Abbate di Lepsing. Ärger hat ihm
seine Abtei auch später noch verursacht. Am 1. September 1709 hat er
sich beim Fürsten von öttingen zu beklagen; 1713 schmälert ihm dieser
seine Einkünfte. 1 ) Am 21. März 1709 nennt er sie „rovinata dalla Guerra,
e dairintemperie“ — doch trug sie ihm in dem Quinquennium von
1718—1722 immer noch 7355 Reichstaler ein, wonach sich berechnen
läßt, daß ihr Ertrag in früheren Jahren nicht gering war.
Nicht daß Steffani seinen Abtstitel mit einem höheren noch unter
Max Emanuel nicht gerne vertauscht hätte. Er scheint eine Präbende
im Mailänder Gebiet begehrenswert gefunden zu haben: darauf erklärte
Scarlatti in Rom zwar seine Willfährigkeit:*)
„di promuovere il desiderio di Don Agostino Steffani, trottandosi d'un
Suggetto di merito, da me ottimamente conosciuto. Non lascierö per tanto
d’informarne il Pontefice, e questi Signori, che, con il credito de proprij offi-
zij, potranno Contribuire al buon esito del negozio, che io, per me, suppongo
sia per spuntarsi, mediante l’autorevole intercessione di V. A. E. subito, che
se n’offerisca qualche adequata apertura nel Dominio di Venezia, giä che i
benefizij del Milanese, non possono conferirsi, per concordato, che ä soli
nativi di quello stato, ä segno che la provisione se ne difficulta ä medesimi
Cardinali, che sono d’altra Patria. Fissandomi dunque di proposito su’l paese
Veneto, ne parlerö della prossima Settimana, con tutta l’efficacia possibile,
ä Monsignor Liberati per disporre le necessarie prevenzioni, in modo, che
venghino ad abbreviarsi le lunghezze solite di questa corte . . .“
Der Kurfürst antwortet darauf am 25. Januar 1686:
„. . . le repplico che mi sarä carissimo ch’egli [Steffani] n’ottenga uno
[benefizio] quanto prima, ma di buon accomodamento nel Dominio Ve¬
neto . . .“
und Prinz Joseph Klemens sekundiert, am 22. Februar:
„Da ich wie mein erlauchter Bruder den Wunsch hege, sobald als mög¬
lich Don Agostino Steffani wohl versorgt zu sehen, so empfehle ich ihn mit
der Beilage 4 ) an Kardinal Ottoboni, in der Gewißheit, Seine Eminenz könne
*) St-A., K. schw. 74. 5.
*) Woker, „Katholik“ S. 316.
*) St-A. K. schw. 314. 15.
4 ) nicht erhalten.
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Agostlno Steffani
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ihm höchlich nützen . . . und handeln Sie so, daß der arme Don Agostino
an Ostern die Heilmittel für seine Leiden aufsuchen kann, die ihn gegen¬
wärtig ans Bett fesseln.“
Scarlatti kann auch am 15. März zurückschreiben:
„Sono awisato che vachi nella Diocesi di Padova l’Arcipretato di Tri-
fano per morte del Gibellini, a cui fu conferito ad istanza del Signor Cardi¬
nal Ottoboni. E perche questa provista sarebbe propria per Don Agostino
Steffani, bramo perciö ch’ella impieghi tutti i piu pronti, e piu necessarij uffi-
cij ad effetto di conseguirla dal Signor Cardinal Barberigo a cui credo spetti
di conferirla. E perche potrebbe darsi che aH’arrivo delle istanze fosse il
detto benefizio giä dispensato vorrei perö che cosi il detto Vescovo, come
quello di Treviso, Vicenza, Verona, ed altri fossero preoccupati, ed impe-
gnati per la prima buona vacanza a fin che non dipendendo da Sua Santitä
possa ottenerla dal Vescovo quanto prima . .“
Trotz aller Empfehlungen 1 ) wurde Steffani nicht Erzpriester; „hier
schläft der Papst, und mit ihm schlafen alle Geschäfte der Kurie,“ schreibt
Scarlatti in jenen Jahren des öfteren. Als Innozenz starb, war Agostino
schon im Dienst eines reformierten Fürsten.
Im Jahre 1685 läßt Steffani, „auf Bitten von Freunden“, wieder ein
musikalisches Werk im Druck erscheinen. Am 13. März 1684 befiehlt
der Kurfürst dem Geheimsekretär Kaspar Huber, „dero Hof Buech Tru-
ckhem H. Johann Jäckhlin zu bedeutten, daß er dem Churfürstl. Camer
Music Directom Herrn Augustino Steffani Priestern, seine componierte
Muteten truckhen solle.“ Trotz diesem Befehl verzögerte sich das Er¬
scheinen des „Sacer Janus Quadrifrons tribus vocibus vel duabus quali-
bet praetermissa modulandus“ noch ziemlich lange: Steffani kann die
Widmung des Werkes an den Kurfürsten erst am 15. November 1685
unterzeichnen. Sie ist charakteristisch genug. Aus den klassischen Auto¬
ren und denen der Heiligen Schrift wird, wie üblich, die Würde der Musik
belegt, um durch die Hoheit der Gattung die Geringfügigkeit des Werks
und die Unzulänglichkeit des Schöpfers zu decken — eine Wendung,
die gegen die Geschmacklosigkeiten der Widmung der „Psalmodia“ sehr
absticht. Auch daß er es wage, den großen Türkensieger mit einem
kleinen musikalischen Werk zu bedenken, wird durch Zitate zur Bekräf¬
tigung der Behauptung: „non male Musica convenit armis“ entschuldigt.
Die Motetten, offenbar in einem längeren Zeitraum entstanden, haben
zum Teil „aktuelle“ Beziehungen; man findet in einer die Bitte um Ab¬
wehrung der Pest; eine andre (II) ist ein Aufruf zum Kampfe, die lOte
eine Bitte an die heilige Jungfrau um Frieden. Solche Battaglie und
Preghiere, auch viele instrumentale, hat der Türkenkrieg damals in großer
Anzahl gezeitigt. Ob außer der großen Regelmäßigkeit der Anlage:
3 mal 4 Motetten, und 48 Stücke, das Werk noch ' andere Analogien
■) Vgl. K. schw. 266/7.
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Agostino Steffani
mit dem antiken Bogen am Forum boarium in Rom hat, das zu erraten
reichen meine archäologischen Kenntnisse nicht aus. Steffani wollte
in seinen Motetten Kunststücke in jedem Sinne liefern. Das Obligo, in
den dreistimmigen Sätzen — zweistimmige kommen natürlich nicht vor —
jede der drei Stimmen entbehrlich zu machen, zwang ihn zur feinsten
und geistreichsten Arbeit, zur schärfsten Ziselierung der Motive, zum
Verzicht auf alles, was nach Füllstimme aussieht. In der Tat ist in
diesem Werke nur melodisches Gold von lauterstem Gehalt; die Eigen¬
tümlichkeit und Zartheit des Ausdrucks, die Einfachheit der Mittel bei
größtem harmonischen Reichtum, der Schwung der Melodik bei strenger
Führung der Stimmen ist unnachahmlich. Ich möchte hier auf das drei¬
stimmige Sätzchen „Salve virgo“, und auf das folgende Solo des II. So¬
prans in der ersten der in den „Denkmälern der Tonkunst in Bayern*
veröffentlichten Motetten hinweisen. Steffani gilt als Eklektiker, weil er
in der Oper venezianische Elemente mit französischen mischte — kein
Urteil ist falscher bei einer so starken, wenn auch feingearteten Persön¬
lichkeit. Er hatte recht, die Originalität seiner Leistung in der Vorrede
zu betonen, mag sich auch im allgemeinen durch viele Werke des 16.
und 17. Jahrhunderts mit einer oder mehreren Stimmen ad libitum be¬
legen lassen, daß sein technisches Verfahren nicht neu war.
Vor die Dedikation des Sacer Janus, in den Sommer 1685 fallt
eine weitere Reise Steffanis nach Italien. In einem undatierten Schreiben
— es muß in den Juni fallen — sagt er: da alle Heilmittel nicht an¬
schlagen wollten, die er seit acht vollen Monden gegen seine Unpäßlich¬
keit gebrauche, besonders gegen eine lästige Erkältung und unaufhör¬
lichen Schwindel, so bitte er um Urlaub, solange der Kurfürst im Felde
weile und seiner Dienste nicht bedürfe, um in der milden Luft und bei
den Ärzten Italiens Heilung zu suchen. Zur Bestreitung der Reisekosten
bitte er um Auszahlung des Geschenks, das ihm die kurfürstliche Gnade
für die Komposition der beiden letzten Opern — es müssen „Solone“
und der Torneo „Audacia e rispetto* sein — zugedacht habe. Er könne
bei der Ankunft „jener zwei Sängerinnen“ zurückkehren. Man sieht, der
„Servio Tullio* warf seinen Schatten schon voraus. Mit Dekret vom
27. Juni verehrte der Kurfürst auch dem Supplikanten „wegen seiner
gemachten Zwayen Operen vnd Zur beyhülfe seiner nach Italia Zu Ver¬
richtung einer Bad-Kur vorhabenden Raiß“ 750 Gulden. 1 )
Eine Erinnerung an diese Reise liegt vielleicht der seltsamen Behauptung
Riccatis zugrunde, „daß Steffani in diesem Jahr als Tenorsänger an der
Capella del Santo in Padua angestellt wurde. Diese Tatsache ist ganz sicher,
obschon der Akt der Anstellung sich nicht hat finden lassen, trotz sorgfältiger
Durchsicht der Zahlbacher unter Beihilfe des sehr gelehrten Herrn Grafen
') Kirchenm. Jahrb. 1891, S. 73, 74. Hofzahlamtsrechnungen.
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Agostino Steffani
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Domenico Polcastro. Man hat vielleicht die Eintragung unterlassen, weil die
Fürsten von Braunschweig und Hannover bei ihrer Durchreise durch Pa¬
dua ... ihn in ihren Dienst nahmen, und er die Kapelle nach wenigen
Monaten verliefe.“
Mit Ernst Augusts Besuch in Padua hat es seine Richtigkeit. Ich
weife freilich nicht, ob er sich solange in den Sommer ausgedehnt
hat, dafe Steffani den Herzog noch in Italien zu Gesicht bekam — im
folgenden Jahre 1686 z. B. traf der Fürst am 19. April in Rom ein und
kehrte erst Ende Mai nach Venedig zurück. 1 ) Jedenfalls erinnert Steffani
den Abbate Mauro an seinen Paduaner Aufenthalt vom Jahre 1685 noch
in einem Briefe von 1723: (Padua 15. Juli):
„. . . Padoue, oü Vous avez laissä un Souvenir qui doit Vous satis-
faire. II y a des gens, qui se souviennent encore de Vous avoir veu; et s’en
souviennent avec plaisir. Ils ne sont pourtant pas en grand nombre; puisque
moy mesme Je n’y trouve que peu d’Amys de ce temps lä. Le Comte Fran¬
cois Cittadela; le Comte Jerosme Frigimelica; L’Abbä Lazzara qui se sou-
vient Vous avoir veu l’an 1685 chez un Tiepolo, que Je ne connois pas; Les
Contes Zacco; et par lä les Litanies finissent . . .“
— und beklagt später die Veränderung, die mit der Stadt vorge¬
gangen (Padua, 10. Febr. 1724):
„ne Vous plaignez point de la solitude de Hannovre: si Vous aviez le
sort de voir celle de ce Pays cy, que n’en diriez Vous pas? Pour vous en
donner une Idäe, Je vous dirai que depuis prez d’un an que J’y suis, Je n’ay
Jamais encore renconträ deux Gentishommes ensemble par les rües. Vous,
qui l’avez veu dans le temps de nostre Jeunesse, serez frappä d’un si
terrible changement“
Ausgeschlossen ist, dafe Steffani seine Erholungsreise statt nach
Italien, nach Hannover angetreten habe, wie Rudhart,*) und nach ihm
Chrysander s ) will: sowohl seine Supplik, wie die Dekrete sprechen
dagegen. Sicher aber war er im Herbst wieder in München zur Vor¬
bereitung des „Servio Tullio“; und beim Einzug des Kurfürsten mit
seiner Gemahlin in München, am 9. Oktober, wird er schwerlich gefehlt
haben. Ob er im folgenden Jahre wieder nach Italien gegangen ist, wie
das obenerwähnte Schreiben des Prinzen Joseph Klemens nahelegt?
Für den Karneval 1687 und 1688 machte die häufige Abwesenheit
Terzagos nötig, ihn als Textdichter zu ersetzen: Luigi Orlandi schrieb für
Steffani den Text für seine beiden letzten Münchener Opern „Alarico
il Baltha“ und „Niobe, regina di Thebe“, wohl seinen reifsten der Mün¬
chener Zeit, wie auch Orlandi an Gewissenhaftigkeit der Mache, und
*) Gesandtschaftsberichte aus Rom, St. A. K. schw. 314, 15; K. blau 72. 1.
*) S. 82 f.
*) Jahrb. II, 333.
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Agostino Steffani
Sorgfalt der Charakteristik Terzago um einiges überragt 1 * * ) — soweit von
beidem bei venezianischen Operndichtern dieser Zeit die Rede sein kann!
Am Ende des Jahres 1687 starb Ercole Bernabei — er wurde am
6. Dezember in den Grabstätten der Theatiner beigesetzt — und am
16. Januar 1688 folgte ihm sein Sohn als Kapellmeister nach.
Agostinos Entschluß, München zu verlassen, steht mit der Ernennung
Giuseppe Antonio Bernabeis zum Kapellmeister sicherlich im Zusammen¬
hang, wenn er auch nicht allein darauf zurückzuführen ist, und es eines
Anstoßes bedurfte, ihn zur Reife zu bringen. Steffani konnte nicht selbst
auf die Kapellmeisterstelle gerechnet haben, da der Vorrang Bernabeis
vor ihm seit 1681 festgelegt war. Solange Ercole lebte, mochte das
Verhältnis erträglich sein; außerdem „bestand für die Kompetenz und
Stellung des Kammermusikdirektors gegenüber dem Hof- und Vizekapell¬
meister eine genaue Dienstinstruktion, welche ihre Entstehung der Riva¬
lität zwischen den beiden Bernabei und Agostino Steffani verdankte.“*)
Als Ercole starb, mußte die bisher latente Unterordnung Steffanis unter
Giuseppe Antonio sich tatsächlich vollziehen — das mag ihm denn doch
sauer angekommen sein. Außerdem hatte er Schulden, deren Höhe fast
der Summe zweier seiner Jahresbesoldungen gleichkam, und zu deren
Tilgung es einer außerordentlichen Finanzoperation bedurfte.
Er knüpfte mit dem hannoveranischen Hofe Verhandlungen an, die
im April oder Anfang Mai zum Abschluß gediehen sein müssen. Am
9./ 19. Mai 1688 wenigstens schreibt Kurfürstin (damals noch Herzogin)
Sophie an ihre Tochter Sophie Charlotte: „Herr Steffani gefällt sich nicht
mehr in München: er wird kommen den Herrn Herzog bedienen. Das ist
noch ein Geheimnis, denn er hat den Abschied von seinem Herrn noch
nicht erbeten.“*) Was seine Blicke hauptsächlich auf Hannover lenkte,
ist unschwer zu erraten. Der Neubau eines Opernhauses in Hannover
eröffnete ihm die Aussicht auf eine ruhmvolle Tätigkeit als Opemkom-
ponist; vielleicht haben auch Erwägungen oder Witterungen mitgespielt, die
in der politischen Haltung des bayrischen und welfischen Hofes ihr Funda¬
ment hatten. Endlich mußte der Vergleich des kultivierten Weifenhofes mit
der Crudität der Münchener Gesellschaft sehr zugunsten von Hannover
ausfallen. Für diese Crudität haben wir ein Zeugnis 4 ) von Gottfried Wil¬
helm Leibniz, und Steffani spielt eine Rolle dabei. Der große Polyhi¬
stor und Philosoph befand sich um Ostern 1688 am Beginn seiner großen
Forschungsreise zur Aufhellung des Ursprungs des Weifenhauses. In
l ) Rudhart, S. 80.
*) Sandberger, D T B I, S. XXII.
*) E. Berner. Aus dem Briefwechsel König Friedrichs I. von Preußen und seiner
Familie. Berlin 1901.
4 ) Leibniz, opp. I, 5, S. 331 f.
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Agostino Steffani
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der kurfürstlichen Bibliothek zu München hoffte er in den Handschriften
des Aventin wichtige Aufschlüsse darüber zu finden.
»Als ich aber“ — wir lassen ihn selbst reden — „alda angelanget, hat
man überauß grobe Schwührigkeit gemacht, die Bibliothec und darinn befindt-
liche Manuscripta zu zeigen; daher als ich solches euserlich vermercket, und
soviel vernommen, daß wenn ich mich bey den Ministris deswegen angeben
würde, wenig zu erhalten seyn dürffte, ... so hab ich mich zwar bey dem
Bibliothecario angemeldet, als aber solcher zu vernehmen geben, dab ohne
ausdrücklichen befehl seines gnädigsten Churfürsten und Herrn niemand
hinein gelassen würde, habe ich nicht gesäumet, ehe etwa vorgebauet werden
möchte, durch den Herrn Agostino Stephani, einen geistlichen und churfürst¬
lichen Ca/*//meister, so ehemahlen zu Hanover gewesen und grobe veneration
gegen unsere gnädigste Herrschaft bey allen gelegenheiten bezeiget, bei. .
Sr. Churfürstl. Durchlaucht die gnädigste Vergünstigung zu begehren, die
auch sofort erhalten . .“
Diese Vergünstigung wurde unter kleinlichen Vorwänden bald wider¬
rufen. Leibniz hat seinem gerechten Ärger darüber in einem Brief an
Steffani Luft gemacht, aus dem man alle Umstände leicht ersehen kann; 1 )
er hat gleichzeitig Steifanis Betragen volle Gerechtigkeit widerfahren
lassen, und nicht versäumt, es nach Hannover zu melden: so in einem
Brief an die Herzogin Sophie:*)
„Herr Agostino Steffani, der erfüllt ist von einer wahren Ergebenheit
gegen Eure Hoheit, und nur mit begeisterter Verehrung von ihr und meinem
erlauchten Herrn spricht, hat mich sehr unterstützt, und mir im Verein mit
seinem Bruder [Ventura Terzago] und Herrn Baron Scarlatti,*) dessen Bekannt¬
schaft sie mir vermittelt haben, alle Gefälligkeiten erwiesen.“
Zu den bemerkenswerten Dingen in dem Bericht Leibniz' gehört
das Wort „ehemahlen*, französisch „autrefois“. Es würde nicht passen,
wäre Steffani wenige Monate vorher oder auch nur 1686 und 1685 in
Hannover gewesen; während es sich mit dem weiter zurückliegenden
Besuch von 1682/83 sehr gut vereinigen läßt: es zeigt auch, daß es bei
diesem einen Besuch verblieben ist. Der Korrespondent Steffanis in
Hannover war Hortensio Mauro. Mit ihm pflegte Steffani seit langem
einen Briefwechsel über politische Dinge, wie uns ebenfalls Leibniz be¬
zeugt; 4 ) er wird auch die Mittelsperson bei den Verhandlungen von 1688
gewesen sein.
Den Anstoß zum Abzug der Familie Steffani — der beiden Brüder
und ihrer Mutter; der Vater ist wahrscheinlich Ende 1682 gestorben,
*) Vgl. Leibniz, opp. edd. Klopp I, 5, S. 379 ff., ferner den Reisebericht S. 331 f.
*) Leibniz, opp. edd. Klopp 1, 7, S. 12. Undatiert, Ostern 1688.
*) Gio. Battista Scarlatti. Ober die Scarlattis vgl. Heigel, Quellen und Abhand¬
lungen I, 69 und besonders 76.
*) Werke, I, V, S. 373.
KhrhanmmlV Jahrbuch. 23. Jahrj. 3
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Agostino StefFani
die Schwester blieb im Kloster der Salesianerinnen — aus München gab
eine Beleidigung, die Terzago durch den Grafen von Sanfrt erlitt Stef-
fani schreibt darüber (an Frigimelica, Neuhaus 21. 111. 1716):
„Jo ho havuta la sorte di servire. . 22 anni della mia prima Gioventü
la Corte di Baviera. 11 torto che vi ricevfc la b. m. del mio defonto Fratello
da chi riconosceva da me solo tutte le sue fortune, e tutte le sue grandezze,
mi costrinse ad abbandonarla . .“
und am 11. Juli 1706 an Fede:
„Partij da quella Corte di mala grazia per un aggravio fatto ad un
mio unico fratello dal Conte di Sanfrt che doveva a me solo tutte le sue
fortune.“
Anton Franz Maximilian Graf von Sanfrd war Gentilhuomo della
Camera und seit 1684 Tenente della Guardia de Trabanti, e Tenente
Colonello d’Infanteria Max Emanuels; 1692 wurde er Obristhofmarschall;
er starb in der Schlacht bei Höchstädt. In welcher Art er Terzago ver¬
letzte, weife ich nicht. Wir wollen Terzagos Schicksal gleich zu Ende
verfolgen, und zwar nach Agostinos eigener Darstellung. 1 ) Er schreibt:
„ . . mein Bruder hiefe Ventura Terzago, ein Name, den er durch die
Adoption eines Bruders meiner Mutter trug, der 60 Jahre in Oberflufe gelebt
hat, ohne sich je vermählen zu wollen, obwohl er der letzte Sprofe seiner
Linie war. Was er besaß, weife ich nicht: nur weife ich, dafe seine Freunde
ihn ohne Erfolg dazu bewegen wollten, zur Zeit des Krieges von Candia die
Venezianische Nobilitat zu kaufen. Dazu bedarf es bekanntlich 100000 vene¬
zianische Dukaten: also muß er mehr besessen haben. Welches Kapital
er seinem Adoptivsohn, und Universalerben hinterlassen hat, ist mir auch
nicht bekannt. Wie unklug! werden Sie sagen. Verzeihung. Da ich meinen
Bruder gleich meinem Oheim fest entschlossen sah, kein Weib zu nehmen,
so waren die Rechnungen, wie ich voraussetzte, richtig, im Fall ich vor ihm
starb: und ging er vor mir dahin, so war ich sein einziger Erbe. So weife
ich denn nicht, wie groß sein Vermögen war; doch weife ich mit der ganzen
Stadt Padua, wie mein Bruder sein Leben führte ... er hatte seine Pferde
im Stall, seine Dienerschaft im Hause, seinen Hausrat, sein Silberzeug, seine
Juwelen, seine Bibliothek: kurz alles was zu einem würdigen Leben und einem
maßvollen Luxus gehört Es fügte sich, daß nach dem Tod meiner Mutter,
[1692] die mein Bruder, wie es Kindespflicht, zärtlich liebte, ihn die Schwer¬
mut befiel. Er schloß sein Haus und zog sich in das eines befreundeten
und benachbarten Edelmanns zurück, namens Marc’ Antonio Franchini. Dort
war er keine 8, oder 9 Monde, als er an einem Wechselfieber starb ... [1693].
Man gab mir Nachricht von seinem Tod . . . was glauben Sie, wieviel mir
aus der Erbschaft zuflofe? 4000 Ducaten Erlös aus dem Hausrat, der allzu
sichtbar war; und sonst? nichts .. nicht einmal ein Fetzen eines Dokuments..“
Steffani hat später gerne von seiner inaspettata e brusca partenea
aus München gesprochen, und dem ungnädigen Abschied, den er erhielt.
*) in dem erwähnten Brief an Conte Fede, 11. Juli 1706.
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Agostino Steffani
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JDem ist nicht so; im Gegenteil war die Lösung seines Dienstverhält¬
nisses eine friedliche, ja ungewöhnlich gnädige. 1 ) Die Akten sprechen
in Zahlen eine deutliche Sprache:
Decret vom 14. Mai 1688.*) Demnach Ihre Churfr. Dhr. in Bayrn . .
dero Cammer Music Directom Augustin Stephani, auf sein gehorsamestes
Anlangen, die gnedigste conceßion gethan, daß er sich widerumb ins Welsch¬
land vnnd anderwertshin begeben möge. Alß haben Sie sich gnedigst resol-
virt, ihme in ansehung seiner ein vnd zwainzig Jährig gueten Dienerschafft
nit allein das ausstendig vnd diß lauffende Quartal alsogleich; sondern hin-
nach auch vom Julio an auf drey Jahr seinen habenden sold, dene er
geniessen kan, wo er will, zu einem recompens unweigersamblich au&folgen
zu lassen . . .
Decret vom 16. Mai.*) Allweilen aber er vnnterthenigist gebetten, die
gnedigste anbefelhung Zuthuen, das von sothan gnedigst verwiegtem 3. Jahrs
Sold seine hiesig habende Creditores dauon bezalt werden: vnd er vmb so
sicherer von hier abraisen möge, deme Sie gnedigst statt gethon. A1& be¬
fehlen Se. Churfrt Dhl: dero Hof Cammer Rhat, vnd Hofeahlmaister hiemit
gnedigst, das er gedachte Schuldner, deren Zetln ad specificationem berüerter
Stephani schon ausantwortten wird, Qbememmen, selbige bezahlen vnd
was noch an dem 3 iährigen Sold aberbleiben wird, ihme Stephani aber¬
machen solle.
Die Hofzahlamtsrechnungen fügen dem hinzu:
. . Weillen dann sein bsoldung des Jars 1060 f: gewesen, vnd solche auf
3. Jahr 3240 f. austragt, warvon mann 1959 f. angewisene schuldten alhie
entrichtet, vnd das Ybrige als 1281 f. mitls eines wexlbriefs nacber Venedig
ybermacht, wie die beiligente bscheinung auswaiset, So wirdt angeregte 3. ieh-
rige besoldtung, als ein bezalter recompens, neben 142 f. wexl vncossten,
welche von den 1281 f. auf weiteres mündliches anbefelchen, vnd erleittern,
wie das sich das Decret dahin verstehe, crafft sonderbam schein abgestattet
worden, pr: Ausgab gebracht, zumahlen das 1. vnd 2te. Quartal hernach bei
den besoldtungen eingetragen ist, so trifft zusammen f. 3382.—*)
Auffallend ist, und ist auch Rudhart aufgefallen, daß in diesen
Dokumenten nirgends erwähnt wird, daß Steffani sich nach Hannover
wenden wollte: er bekommt ganz allgemein die Erlaubnis, sich mit seiner
') Auch Tersagos Verabschiedung war eine gnädige. Max Emanuel schreibt
am 31. Mai 1688 an seinen Agenten Trevano in Venedig: „Avendo noi benignamente
condesceso alle umiüssime istanze fatteci dal Terzago nostro Consigliere e Segre*
tario di Stato di poter ritomarsene in Italia, per accudire k suoi parti colari interessi,
& nostra intenzione che voi abbiate la stessa cura delle sue lettere, ed altro, come
per il passato . . [K. schw. 266. 7.]
*) R.-A. 5. Abth. A, Serie 28 u. 29, 425.
*) K.-A., Personalakt
*) Die Hofzahlamtsrechnungen fQr 1688 verzeichnen noch: „Mathias Kayser Buech-
binder vmb fQr den Augustin Stephani Directom bei der Hof Music, gemachte arbeith
Laut zetl f. 140.“
3*
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36 Agostino Steffani
„Abfertigung" in die Heimat oder anderwärts zu verfügen. Der Grund
ist, daß ein Rttcompens, eine Belohnung für langjährige Dienste, nur einem
in den Ruhestand tretenden Diener gewährt 2ü werden pflegte, nicht
einem in den Dienst eines andern Fürsten übergehenden. Ebenso unge¬
wöhnlich war es, von einem Reeompens Schulden zu bezahlen: das
hört man dem indignierten Bericht des braven Hofzahlmeisters Georg
Unertl ordentlich an. Das Ganze stellt sich also wohl dar als ein
Schachzug der Hofkatnmer gegenüber, von dem Max Emanuel gar wohl
gewußt haben wird.
'
vi
Steffani ging denn im Mai nach Venedig, wo vielleicht sein neuer
Herr noch weilte: wenigstens wurde ihm tm Karneval Zianis Oper
„L’inganno regnante" gewidmet 1 } — im August 1688 aber ist er bezeug¬
termaßen schon in Hannover. M
« ‘v 'iVC- t* -V c\ * » f' k * *• \ ’» \ »• • 1 • i*/ ?*•>*• * *} * { • • 1 > ' a
') Galvani, 1 teatri musicali di Venezia 48, ferner 96.
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I
■
Beiträge
■
■
zur Geschichte des französischen Orgelspiels
■
■
Von Ernst v. Werra—Beuron
■
H
111 ■ ■ ■ -
I
F rankreich, und zwar dem Vater des französischen klassischen
Orgelspiels, Jean Titelouze, sollen die diesjährigen Bei¬
träge 1 * * ) gewidmet sein; denn nicht nur in Deutschland, sondern selbst in
Frankreich hat man diesem Teile der Musikgeschichte bis vor einigen
Jahren leider wenig oder gar kein Interesse entgegengebracht, wie ver¬
schiedene Stellen dieser Arbeit zur Genüge beweisen. Statt vieler Proben
mögen hier bloß einige Zeilen des bekannten Musikhistorikers Jules Carlez
aus seiner 1885 erschienenen Schrift, betitelt: »Notices sur quelques mu-
siciens Rouennais,**) folgen: ,11 n’avait 6t€ publik jusque-lä, 6 ) en France,
qu'une faible quantitä de musique d’orgue. Aux oeuvres de Titelouze,
de Nicolas Gigault et de Francois Couperin, 4 * ) qui composaient ä peu prts
tout le bagage imprim£ des organistes frangais, vinrent s’ajouter les pteces
d’orgue de J. Boyvin.“ Noch mehr Komponisten als J. Carlez kannte der
sehr fleißige und hochverdiente A. G. Ritter in seinem ein Jahr früher
erschienenen Werke »Zur Geschichte des Orgelspiels im 14. bis 18. Jahr¬
hundert 46 ) und war zudem auf das angewiesen, was der Zufall ihm in
die Hände spielte. Die veralteten Bibliotheksvorschriften Frankreichs
machten es Ritter, wie auch später dem Schreiber dieser Zeilen, zur
Unmöglichkeit, in Deutschland Druckwerke aus Frankreich einzusehen:
mochten sich Behörden noch so warm dafür verwenden — alles war
eitel Bemühen und so ist es noch heute und wird es auf unabsehbare
Zeit auch bleiben.*)
l ) Vergl. „Kirchenmusikal. Jahrbuch“, 1893, S. 42—52: (Georg u. Gottlieb Muffat);
1895, S. 88—92: (Johann Büchner — Hans von Konstanz); 1891, S. 28—36: (Ant. Fr.
Maichelbek, Karlmann Kolb, Octavian Panzau, Plazidus Metsch, Marian Königsberger
und Georg Pasterwiz).
*) Cam, 1885, S. 12.
*) Bis zum Jahre 1700. Schon Titelouze beklagt sich in der Vorrede zu den
Hymnen Ober die Mißachtung der französischen Musik: »Et bien qu’ä grand tort plu-
sieurs de leurs musiriens mesprisent la Musique de France, comme sgavent ceux qui
ont voyagtf.“
4 ) Nicht zu verwechseln mit dessen berühmten Neffen gleichen Namens, dem
das Prädikat »le Grand“ zur Unterscheidung gegeben wird.
•) Leipzig, Max Hesse’s Verlag. 1884.
*j Vor Jahren benötigte ich ein Werk aus der Konservatoriumsbibliothek in Paris;
auf mein Gesuch erhielt ich eine höfliche Antwort — dahin lautend, daß alle Werke
nur in der Anstalt selbst und auf einem Tische ohne Tintenfaß benützt werden könnten.
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38 Beiträge zur Geschichte des französischen Orgelspiels
Der wenig erfreuliche Stand der Orgelliteratur hat sich in den letzten
Jahren insofern verändert, als Alexandre Guilmant durch die verschiedenen
Jahrgänge seiner „Archives des Maitres de l'Orgue des 16., 17. et 18. Sü¬
des 111 ) eine hübsche Anzahl seltener oder wenigstens schwer zugänglicher
Werke für Orgel aus Frankreich in recht lobenswerter Wiedergabe ver¬
öffentlichte. Was die Verdienstlichkeit des Unternehmens von historischer
Seite noch steigert, sind die sehr umsichtig geschriebenen, auf gründlichen
archivalischen Studien fußenden biographischen Notizen von Andrd Pirro,
dessen Namen ich hier nicht nennen kann, ohne für die gütige Mühe¬
waltung zu danken, die er mir in schätzenswerten Fingerzeigen und Mit¬
teilungen biographischen Materials gewidmet hat Für die musikali¬
sche Würdigung von Titelouze hatte ich dagegen keine nennenswerten
Vorarbeiten.
Jean Titelouze wurde 1563 in Saint-Omer geboren. Diese Stadt liegt
ungefähr zwischen Lille und Boulogne sur Mer im nördlichsten Teile des
jetzigen Frankreichs und kam erst durch den Frieden von Nimwegen 1678
an Frankreich. Neben den humanistischen und theologischen müssen
die musikalischen Studien schon seine Jugendzeit ausgefüllt haben, da
wir ihn bereits 1585 d. h. im Alter von zweiundzwanzig Jahren als Or¬
ganist von St. Jean in Rouen treffen. Diesen Posten versah er bis 1589,
wo er sich um die vakant gewordene Organistenstelle an der hochange¬
sehenen Kathedrale daselbst bewarb.*) Es meldeten sich neben Titelouze
noch zwei Bewerber, unter welchen der Priester Toussaint Lefebvre ge¬
nannt wird: letzterer versah den Posten während der Krankheit des Or-
*) Verlag des Herausgebers, Alex. Guilmant. Adresse: Meudon (Chetnin de la
Station 10) Seine-et-Oise. Preis pro Jahrgang 10 Fr. Oie Publikationen haben heuer
den 13. Jahrgang erreicht
*) Rouen war in froheren Zeiten und noch zur Zeit Titelouzes eine der größten
und reichsten Stfidte Frankreichs. Im 3. Jahrhundert wenigstens schon Bischofritz,
tauchen, wie Langlois („Revue des maitres de chapelle et musiciens de la mgtropole de
Rouen.“ Rouen, 1850.) mitteilt, sehr früh Nachrichten von geordnetem kirchlichen Ge¬
sänge auf. Reichliche Dokumente liegen Ober die sorgsame Musikpflege im 16. Jahr*
hundert vor, ein Aufschwung, welcher nicht ohne besondere Fürsorge einiger, teilweise
zur Kardinalswürde erhobenen Erzbischöfe von Rouen sich vollzog. Die Kapitelsre¬
gister jener Zeit verzeichnen, wie Langlois mitteilt, wiederholt Domherren, die auf
die Suche, um nicht zu sagen auf die Jagd nach Musikern ausgehen: nach Paris,
Chartres, Noyon, Troyes, Vienne, Lothringen und besonders Flandern, in jener Zeit
das Land berühmter Musiker. Hand in Hand damit gingen auch lebhafte Bestrebun¬
gen in Heranbildung von Knabenstimmen; sogar mehrere Gesangsschulen bestanden
damals in Rouen, welche sämtlich unter Oberaufsicht des Großkantors der Kathedrale
standen. Untrüglichen Beweis für den Ruf der Knabenstimmen von Rouen sind gleich¬
falls die wiederholten Streifzüge im Aufträge auswärtiger Kapellen nach Knabenstim¬
men von Rouen (vergl. Langlois, S. 13 ff.); sogar Angestellte des Königs von Frank¬
reich entführten Sänger von Rouen. — Bezüglich des kirchlichen Ansehens von Rouen
sei auf das „Kirchenlexikon von Wetzer und Welte“, X. Band, Spalte 1325—1331 ver¬
wiesen (Freiburg, Herdersche Verlagsh. 1897), das allein 27 Synoden im Gebiete des
Erzbistums Rouen verzeichnet
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Beiträge zur Geschichte des französischen Orgelspiels
30
ganisten, Frangois Josseline, und machte sich dabei mit den Verhältnissen
und Gebräuchen der Kathedrale vertraut
Trotzdem wurde wegen seines Improvisationstalentes vom Domkapitel
am 12. April 1588 Titelouze als Organist gewählt, um so ehrenvoller für
den Künstler als er Ausländer war und erst fünfundzwanzig Jahre zählte;
einige Jahre später wurde ihm auch der Heimrechtsbrief geschenkt. Den
Gipfel seiner Ehren erstieg Titelouze im Jahre 1610, als er zum Kanoni¬
kus erwählt wurde; sein Amt als Organist behielt er aber bis zu seinem
Ableben, am 25. Oktober 1633, bei. Er war somit mehr als fünfundvier¬
zig Jahre in Tätigkeit und eine Zierde des Domstiftes, nachdem er vor¬
erst drei Jahre an der Kirche Saint-Jean amtiert hatte. Dieser lange Auf¬
enthalt von fast einem halben Jahrhundert in Rouen wurde manchmal
durch Reisen nach Paris, Poitiers, Amiens usw. unterbrochen, die er teils
als Orgelexperte für Neu- und Umbauten, teils als ausübender Künstler,
jedenfalls auch in Angelegenheiten der Drucklegung seiner Werke und
behufs Meinungsaustausches in musikalischen Fragen bei Kunstfreunden
usw. unternahm. Wir treffen ihn auch des öftem in Briefwechsel mit
dem fruchtbaren Musikschriftsteller, dem Franziskaner P. Marin Mersenne,
dem Titelouze manchen Einblick in sein Leben gewährt. Es wird sich
Gelegenheit geben ab und zu auf diese Korrespondenz hinzuweisen. Auch
mit dem fein- und universell-gebildeten Jacques Mauduit 1 ) (1557—1627)
war Titelouze gut bekannt; obwohl Mauduit kein Berufemusiker war, ge¬
noß er doch großes Ansehen als Komponist und Lautenspieler. Von selbst
gegeben erscheint seine Bekanntschaft mit Kanonikus Henri Frtmart*) in
Paris, der 1611—1625 als Domkapellmeister zu Rouen neben Titelouze
wirkte. In der eben erwähnten Korrespondenz mit Mersenne werden noch
andere Namen genannt, deren genaues Verhältnis zu Titelouze, da die Per¬
sonen zu wenig gekennzeichnet sind, vorerst dahingestellt bleiben muß,
z. B. ein gewisser Comier, der als Vermittler von Nachrichten zwischen
Titelouze und Mersenne auftritt. Ferner erwähnen wir La Barre, unter
welchem Namen, da nichts beigefügt ist, Charles Henri, Pierre und Joseph
La Barre de Chabanceau in Frage kommen, wahrscheinlich aber der letztere
gemeint ist
In seinen Briefen an P. Mersenne beklagt sich Titelouze in späteren
Jahren des öftern über mangelnde Gesundheit, die seine geistigen Fähig¬
keiten lähme; um das Jahr 1622 wird ihm vollständige Ruhe vom Arzte
vorgeschrieben. Selbst bei einer Orgelexpertise in N£ville läßt sich der
Meister in diesem Jahre, ersetzen. Eine größere Krankheit warf ihn
später auf das Krankenlager, wie aus einem Briefe Corniers an Mersenne
zu entnehmen ist Auch gegen 1628 scheint Titelouze wieder viel gelitten
*) Vergl. „Tribüne de St Gervais 1 * VII, 97, 136 u. 17! von Michel Brenet
*) Fdtis zählt sieben 4—6st Messen von Främart auf — leider ohne Fundortangabe.
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Beiträge zur Geschichte des französischen Orgelspiels
zu haben; einem Landaufenthalt schreibt er die Wiederherstellung seiner
früheren Gesundheit zu.
Im Jahre 1631 berichten die Kapitelregister wieder von zwei großen
musikalischen Aufführungen. Eine fand gelegentlich der vom Erzbischof
von Rouen vorgenommenen Konsekration der neuen Kirche im Jesuiten-
Kollegium am Feste des hl. Ludwig statt. Bei dieser Gelegenheit hat
das Domkapitel zugunsten unseres nun schon greisen Meisters eine seiner¬
zeit sehr verstimmende Verordnung vom Jahre 1614 aufgehoben, durch
welche es den Chorknaben der Domkirche verboten war, sich bei Festlich¬
keiten außerhalb des Domes zu beteiligen. Offenbar als Dank dafür ver¬
anstaltete Titelouze drei Monate später zur Feier des Cäcilienfestes eine
zweite großartige Aufführung: 1 ) vier Bühnen (th&tres) wurden im Schiff
der Domkirche errichtet, „um die Musik wohlklingender und Instrumente
und Singstimmen deutlicher zu machen.“*) Diese Aufführungen, die Ti¬
telouze in früheren Jahren öfters und sehr wahrscheinlich auch als Kom¬
ponist in Anspruch nahmen, genossen großes Ansehen. Doch scheint
der bejahrte Meister seine physischen Kräfte dabei überschätzt zu haben.
Am 21. Januar 1633 ersucht nämlich Titelouze das Domkapitel um Er¬
höhung seines Gehaltes, damit er eine jüngere Kraft auf der Orgel heran¬
bilden könne — behufs Stellvertretung in seiner Abwesenheit. Das Dom¬
kapitel bewilligte ihm seine Forderung; aber schon am 25. Oktober segnete
er das Zeitliche. Als Erben hatte er seinen Neffen, Blaise Bretel, Or¬
ganist an St. Vincenz eingesetzt — mit Vorbehalt einiger Legate. Doch
diesem scheint es an der entsprechenden Wertschätzung der jedenfalls
bedeutenden Musiksammlung gefehlt zu haben: schon fünf Monate später,
am 28. März 1634, verkaufte er dieselbe.
Wenden wir nun unsere Aufmerksamkeit von der Persönlichkeit des
*) Die Organisten von Rouen bildeten eine Körperschaft, welche nach Langlois’
obengenannter Schrift schon 1539 im Schiff der Kathedrale das Fest der hl. Cäcilia
mit einer Auffahrung feierten. Titelouze scheint sich bei diesen Produktionen in be¬
sonderer Weise beteiligt zu haben. Comier schreibt in einem Briefe an Mersenne:
„Pour ce que vous me demandez de musique, je ne congnay personne de ces mes-
sieurs qui composent a la Ste. C6cile, car Monsieur de Titelouze ne s’amuse plus ä
cela.“ Es handelt sich hier um die Zeit, während der langjährigen Krankheit unseres
Meisters. Wir dürfen aus diesen Zeilen auf Titelouzes sonst hervorragende Beteiligung
als Komponist schließen.
*)„... afin de rendre la musique plus harmonieuse et les voix et instruments
plus intelligibles.“ Man vergleiche auch „Histoire de la Maltrise de Rouen, par A. Col-
lette et A. Bourdon,“ S. 78 (Rouen 1892). Beiden unermüdlichen Gelehrten verdankt
die Musikgeschichte sehr wertvolles Material über die Domkapelle von Rouen und
speziell über Titelouze; es wäre in diesen Zeilen ohne die Forschungen der Herren
manche Lücke geblieben. Für den Fall der Fortsetzung unserer Studien über fran¬
zösische Orgelmeister werden wir des öfteren noch auf Publikationen genannter Herrn
zurückkommen.
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Beitrage zur Geschichte des französischen Orgelspiels
41
Meisters seinen zwei uns noch erhaltenen OrgelbQchem 1 ) zu, die wir ihrer
Zeitfolge gemäß näher beschreiben wollen. Der Titel des ersten lautet:
HYMNES DE L’EGLISE | povr tovcher svr l'orgve, | avec les fvgves
et recherches*) | svr levr plain-chant. | par | J. TITELOVZE, | Chanoine et
Organiste de l'Eglise de Roüen | A PARIS, | PAR PIERRE BALLARD,»)
Imprimeur de la Musique du Roy, demeurant | Rue S. Jean de Beauuais,
k l’enseigne du mont Parnasse. | 1623. | Auec Priuildge du Roy.
Format: Quer-Quart. Nur die Blätter sind numeriert. Der Typen¬
druck ist so gut, daß man ihn bei flüchtigem Ansehen leicht als Stich
taxieren könnte; J. B. Weckerlin hat im Katalog zur Konservatoriums¬
bibliothek — Paris ihn fälschlich auch als solchen bezeichnet. Fundorte in
Paris (nach Eitner): Konservatorium, Bibi. National und Bibi, de St Ge-
növifeve. In Aarau (Kantonalbibliothek) befindet sich ein defektes Exem¬
plar, dem die letzten acht Blätter fehlen.
Die lange Vorrede zu diesem Werke verdient besondere Beachtung,
weil der Verfasser hierin zu verschiedenen musikalischen Fragen Stellung
nimmt. Deren wesentlichen Teile wurden, soweit in unseren Rahmen
passend, im Urtext an geeigneten Stellen dieser Arbeit angeführt. Diese
Zitate sollten, weil frisch aus der Quelle, nicht nur für den Musiker,
sondern auch für den Philologen und überhaupt für jeden der französi¬
schen Sprache Kundigen Interesse haben. Unschwer ist der Text zu
erfassen, wenn der Inhalt nach dem Klang und nicht nach der stellen¬
weise recht eigenartigen Schreibweise beurteilt wird.
In diesem Werke bearbeitet Titelouze zwölf Hymnen und zwar solche,
welche in den verschiedenen Diözesen am gebräuchlichsten sind und
unter deren Melodien auch andere Hymnentexte nach dem Gebrauche
der verschiedenen Kirchen gelegt werden können. 4 ) Die Versetten sind
ziemlich lang und füllen durchwegs zwei bis vier Quartseiten, während
*) Die Vokalkompositionen sind absichtlich hier ausgeschaltet worden.
*) Vor Jahren las ich irgendwo — ich suche diese Stelle umsonst — daß Tite¬
louze eine Abhandlung Ober den Choral geschrieben habe. Offenbar beruht dieses
auf ein Mißverständnis des Titels dieses Werkes („recherches sur leur plain-chant“);
sowohl Seb. Brossard als J. J. Rousseau brauchen dieses Wort ebenfalls in der Be¬
deutung von Ricercari.
*) Die Familie Ballard hatte eine Art von Privileg im Notendruck und ist diese
Firma durch mehr denn 200 Jahre zu verfolgen. Die Typendrucke dieser in der Mitte
des 16. Jahrhunderts entstehenden Firma zeichnen sich durch Klarheit aus und ent¬
behren nicht der Schönheit. Leider pochten die Nachfolger, die das Privileg sich immer
erneuern ließen, zu sehr auf diese Vorrechte, als daß innerhalb dieser langen Zeit¬
epoche ein wesentlicher Fortschritt zu verzeichnen wäre. Der Drucker Pierre Ballard
war der Sohn von Robert Ballard, des ersten der Ballard. Näheres Ober diese Firma
s. u. a. F6tis „Bibliographie univ.“, Eitner’s Quellen-Lexikon I, 316—318; ferner „Die
Musikdrucke mit beweglichen Metalltypen im 16. Jahrh.“ von A. Thürlings in der
„Vierteljahrsschrift“ VIII, S. 397.
4 ) „J’ay donc commencä par ces Hymnes qui sont les plus generales pour l’vsage
de diuers Dioceses, afin d’accomoder vn chacun, y en ayant dont les chants peuuent
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42
Beitrage zur Geschichte des französischen Orgelspiels
die in dem gleich zu besprechenden Magnifi cat-Band enthaltenen, sich
mit geringen Ausnahmen auf eine Quartseite beschränken. Da Titelouze
stets zwei bis drei Thema des betreffenden Hymnus — teilweise nicht
streng nach dem cantus firmus — und öfters noch kleinere freie Motive
nacheinander verarbeitet, so ist das leicht begreiflich. Eine Ausnahme
machen die Versetten, bei welchen die Hymnenmelodien in einer der
Stimmen ganz auftreten. Die Steigerung in jeder letzten Hymnusstrophe
kommt auch bei allen Schlußversetten zum Ausdrucke: EngfQhrung der
Motive, bewegtere Tonfiguren etc. verleihen dem Aufbau des Tonsatzes
stellenweise einen schönen Orgelglanz und setzen auch für die damalige
Zeit eine ganz respektable Spielfertigkeit voraus. Dabei konnte ein ge¬
bildeter Organist je nach dem Fortschritt der liturgischen Handlung den
Tonsatz früher oder später abbrechen und ihn zu einem abgerundeten
Schlüsse gestalten. Wie aber unten bei den Magnificats ausgeführt ist,
scheint Titelouze die Kräfte der Mehrzahl der Organisten doch überschätzt
zu haben, weshalb er bei letzterem Werke sich noch mehr herabließ, um
den Verhältnissen sich anzupassen.
Es mögen hier die Textanfänge in der von Titelouze gewählten Reihen¬
folge Platz finden.
1. „Ad ccenam* („Jam Christus astra“ — Hymnus der Matutin des
Pfingstfestes — und „Lucis creator“). Im I. Tone mit vier Versetten. 1 )
2. „Veni creator Spiritus“ mit vier Versetten.
3. „Pange lingua“ im III. Tone mit drei Versetten.
4. „Ut queant laxis“ („Iste confessor") in der Leseart: „re ut re fa
fa mi re mi re etc.“ mit drei Versetten. Bezüglich „Iste confessor“ ver¬
gleiche man „Liber Antiphonarius ... juxta ritum monasticum ... O. S. B.“
(Solesmis 1891, S. 464); der Hymnus ist hier „in festis Duplicibus mino-
ribus“ vorgesehen.
5. „Ave maris stella“ mit Vier Versetten.
6. „Conditor alme siderum“ („Creator alme siderum“) mit drei Ver¬
setten.
7. „A solis ortus cardine“, Hymnus in den Laudes von Weihnachten
mit drei Versetten. Der Hymnus steht sowohl in dem römischen als
estre apliqu£s a diuers hymnes selon la coustume des Eglises. J’aduoue qu’il seroit
a desirer qu’en deux ou trois de ces hymnes les Modes ou tons de l’Eglise y fussent
mieux obseruös, comme nous ferons en des ouurages libres, mais le plainchant re?eu
de long temps en l’Eglise estant mon sujet, me contraint d’y conformer les fugues et
contre-point.“ Letztere Stelle der Vorrede bezieht sich offenbar auf die eigenartige
Handhabung der Tonarten, wie unten beim 10. Hymnus erwähnt wird.
*) Die Hymnentitel innerhalb den Klammern beziehen sich auf die jetzt dblichen
Texte.
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Beiträge zur Geschichte des französischen Orgelspiels 43
auch im monastischen Antiphonale mit ganz geringen Abweichungen in
der Melodie.
8. „Exsultet coelum“ („Jesu corona virginum" oder „Pater superni
luminis“). Die eigenartige Wendung im 12. Takte des ersten Versettes
ist als Reminiszenz der ursprünglichen Hymnenfassung (im VIII. Tone)
zu deuten; drei Versetten.
9. „Annue Christi“ mit zwei Versetten und einem „Amen“ über-
schriebenen Nachspiel, in welchem die Oberstimme durch 55 Takte den
Ton e" anhält. Ein Gegenstück findet sich im 4. Versett über „Ave maris
stella“ mit dem 41taktigen Orgelpunkt auf der Dominante. Der Hymnus
befindet sich im heutigen Antiphonale nicht mehr.
10. „Sanctorum meritis“ („Sacris solemniis“) mit drei Versetten.
Der Hymnus, der, wie die Melodiebildung es evident klarlegt, dem I. Tone
angehört, schließt hier als wenn er dem III. angehören würde auf E.
Dieser auch in der Beantwortung der Themen zum Ausdruck kommen¬
den Vermischung der Modi wird weiter unten gedacht
11. „Iste confessor“ mit drei Versetten. Auch andere Hymnen sind
im monastischen Antiphonale dieser, dem IV. Kirchentone angehörenden
Melodie untergelegt. Vergl. in demselben S. 609 u. a.
12. „Urbs Jerusalem" mit drei Versetten; die Choralmelodie hat sich
im Hymnus „0 quot undis lacrimarum“ erhalten, während der Text selbst
nur im monastischen Antiphonale im „Commune Dedicationis Ecclesia*
noch zu finden ist
Das zweite Werk für Orgel betitelt sich:
LE | MAGNIFICAT, | ov | CANTIQVE DE LA VIERGE | povr tovcher
svr l'orgve, | svivant les hvit tons J de l’Eglise | par | J. TITELOVZE, | Cha-
noine et Organiste de l’Eglise de Roüen | A PARIS, | Par PIERRE BAL-
LARD, Imprimeur de la Musique du Roy, demeurant | Rue S. Jean de Beau-
uais, ä l’enseigne du mont Parnasse. | 1623. | Auec Priuil&ge du Roy.
Format: Querquart Die Blätter sind wie bei den Hymnen nume¬
riert; mit dem Titelblatt besteht das Werk aus 60 Blättern. Fundorte in
Paris: Nationalbibliothek und Konservatorium. Der Katalog von J. B. We¬
ckerlin erwähnt dieses Werk nicht und ich zitiere hier bloß nach Eitners
Quellenlexikon. In teilweise defektem Zustande außerdem in der „Stän¬
dischen Landesbibliothek“ zu Kassel; Karl Israels „Übersichtlicher Katalog
der Musikalien* (Kassel, A. Freyschmidt, 1881) beschreibt das Werk in
leicht mißzuverstehender Weise durch Wiedergabe der vier ersten Linien
des Titels mit dem Zusatze: „Partition“; nicht einmal „pour toucher sur
l’orgue* wurde beigefügt Titelblatt, Blatt 2, 3 und besonders das 4.
sind stark beschädigt.
Das Werk zerfällt in acht, den Kirchentönen entsprechende Ab¬
teilungen, von welcher jede aus sieben Versetten zusammengesetzt ist,
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44 Beitrage zur Geschichte des französischen Orgelspiels
statt sechs, weil auch der Psalm »Benedictas* (Canticum Zachariae) am
Schlüsse der Laudes in’s Auge gefaßt ist 1 ) Beim bloßen Durchblattern
dieses Werkes muß die Kürze der Versetten gegenüber jenen des Hymnen-
werkes*) auffallen. Titelouze bemerkt auch in der Vorrede, daß sein
Hymnenband zu schwer befunden wurde. Er habe dafür diese Stücke
so leicht und den Tonsatz so eng als möglich gehalten.*) Wir sehen aus
den Worten des Meisters selbst, wie die praktische Tendenz gerade in
diesem Werke zur Durchführung kam. Die durch sie bedingte kürzere
Form der einzelnen Stücke macht dieselben, mehr als es bei den Hymnen-
versetten der Fall ist, auch für unsere kirchliche Praxis verwendbar. Ganz
vorzüglich klingen einzelne derselben, die in einfacherem Tonsatz gehalten
und nur durch kleinere Motive belebt werden. Aus dieser Zeitepoche
dürften kaum gefälligere und auch das moderne Ohr befriedigende Ton¬
stücke gefunden werden. 4 ) Auf Schritt und Tritt können wir in diesem
Werke den Meister beobachten, der dem Organisten möglichst entgegen¬
zukommen bestrebt ist. Die Kürzung der Versetten wird hier des öffcem
durch deren unverkennbare Zweiteilung, ab und zu noch durch Wechsel
der Themata und des Taktes von E und i£ kenntlich gemacht; genannte
Stelle der Vorrede erwähnt diese Möglichkeit ausdrücklich.
Über Herkunft und Anwendung der Magnificat-Zwischen-
spiele verweise ich auf meinen schon zitierten Erbach-Hasslerband.
Interessant dürfte eine kurze Umschau über die Literatur dieser Gattung
sein. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu machen, stelle ich hier außer
Titelouzes Arbeiten folgende zusammen:
1. Attaignant, Pierre, »Magnificat sur les huit tons avec te deum
laudamus et deux Preludes, le tout mys en tabulature des Orgues Espi-
nettes et Manicordions ... 1530.“ Das Werk wird weiter unten noch
kurz erwähnt werden. Attaignant ist bloß der Verleger, der die Samm¬
lung veranstaltete.
2. Frescobaldi, Gir. hat in seinem zweiten Buche der Toccaten
(Roma, 1627) den I., II. und VI. Ton bearbeitet.
3. Scheidt, Samuel, „Tabulatura nova* (Hamburg, 1624) bearbeitet
l ) „J’ay adjoutg vn Second Deposuit potentes et parce qu’au Cantique Benedi-
ctus il y a sept vers pour l’Orgue: et le Magnificat n’en ayant que six, on y fera seruir
celuy que l’on voudra“, sagt er in der Vorrede.
’) „On peut voir aussi que j’ay presst les Fugues afin d’abreger les Couplets,
ceux qui les trouuerront trop longs, pourront au lieu de la cadence mediante pratiquer
la finale: il y a mestne plusieurs vers qui ont des marques pour c€t effet“ (Vorrede.)
*) „Remarquez aussi qu’ayant sceu que les Hymnes ont est6 trouuez trop diffi*
ciles pour ceux qui ont besoin d’estre enseignez (d’autant que c’est pour eux que j’ay
fait ce volume,) je me suis abaissö tant que j’ay peu dans la facilitö, et me suis forcd
de joindre plus pres les parties, afin qu’elles puissent estre touch6es auec moins de
difficultd.“
4 ) Vergl. Nr. 22 und 29 meines zweiten Orgelbuches.
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Beitrage zur Geschichte des französischen Orgelspiels
45
in dem für die Orgelliteratur sehr interessanten dritten Teile sowohl sämt¬
liche acht gewöhnlichen Kirchentonarten, als auch den „Tonus peregrinus“
(den IX. Ton). Eine gründliche Besprechung dieses hervorragenden
Werkes findet maii in der „Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft*
1891, S. 186 ff.
4. Fasolo, G. B., „Annuale“ (Venetia, 1645). Die Versetten aller
acht Töne sind recht kurz gehalten, wie auch die zwischen den Gesangs¬
teilen der Messe. Der vielfach ganz vokale Tonsatz hebt sich gegenüber
vielen Schlussversetten und freieren Orgelstücken im letzten Teile genann¬
ten Werkes sehr charakteristisch ab; eigenartig ist in letzteren Sätzen das
Bestreben, dem Tonsatz möglichst instrumentalen Charakter zu verleihen.
5. Joh. Kasp. Kerl, „Modulatio organica super Magnificat octo
Tonorum (Monach., 1686). Dieses Werk kennen zu lernen, war mir bis
zur Stunde nicht möglich.
6. Buxtehude, Dietrich. Von diesem Meister sind zu verzeichnen
ein „Magnificat I. Toni“ (Spitta — Ausgabe II, S. 16—22), ein zweiund¬
dreißig Takte füllendes Tonstück mit derselben Überschrift (Ritter, „Zur
Geschichte des Orgelspiels, II, S. 215) und drei „Magnificat IX. Toni“
überschriebene Nummern im Manuskript
7. Ahle, J. Rud. Von ihm besitze ich aus Grobes, nun verschol¬
lener Tabulatur ein Magnificat im V., und eines im IX. Tone (T. peregr.).
8. Kindermann, Joh. Eras. bearbeitet in seiner „Harmonia or¬
ganica* (Nürnberg, 1665) eines im VIII. Ton; der vierte Vers enthält ein
interessantes Echostück. Von
9. Pachelbel, Joh. haben die „Denkmäler der Tonkunst in Öster¬
reich* (7. Jahrg., II. Halbband) 94 Kompositionen zumeist Fugen über
das Magnificat veröffentlicht.
10. Speth, Joh. ’s Wek „Ars Magna Consoni et Dissoni“ (Augs¬
burg, 1693) enthält eine vollständige Serie aller acht Töne. Fr. Commer
hat sie bei F. E. C. Leuckart in Leipzig („Kompositionen für die Orgel
aus dem 16., 17. und 18. Jahrh.“, 6. Heft) veröffentlicht.
11. Leb&gue, Nicolas widmet den Magnificats in seinem zweiten
Orgelbuche (o. J.) ziemlich viel Raum. Für viele dürfte die doppelte Be¬
arbeitung des sechsten Modus neu sein: die erste mit dem Schlüsse auf
F mit vorgezeichnetem b auf jedem System und anderseits mit dem je¬
weiligen Schluß auf G ohne Vorzeichnung („G Rd Sol tj“, wie LebCgue
genannte Serie überschreibt) und zwar immer mit fis bei Ganzschlüssen.
12. Guilain. Von ihm kenne ich: „PiCces d’Orgve | pour | Le Ma¬
gnificat | sur les huit Tons differens de l’Eglise | dedtees | A Monsieur
MARCHAND......... 1706“. Enthält jeweils eine Folge von sieben,
teilweise längere und kürzere Orgelstücke in den vier ersten Kirchen¬
tönen. Ein zweiter Teil mit den übrigen Tonarten ist mir unbekannt.
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46 Beitrige zur Geschichte des französischen Orgelspiels
Das „Quatuor“ im III. Tone will durch vier* verschiedene Klangfarben
den Gang der einzelnen Stimmen zum Ausdruck bringen; der Tonsatz
muß demnach auf drei Manualen und dem Pedale zur Ausführung
kommen, was die Zuhilfnahme einer zweiten Person bedingt. Diese
Spielweise wurde am Ende des 17. und am Anfang des 18. Jahrhunderts
vielfach angewendet Die sich immer mehr steigernde Vorliebe zu Klang¬
mischungen hat diese eigenartigen Versuche nicht aussterben lassen.
13. Dandrieu’s „Premier Livre | de | Pfeces d’Orgue |.Paris
1739“ enthält sechs Versettenserien. Bei fehlenden Überschriften kann
ich nur den 1., 2. und 3. Ton zweifellos feststellen: wir sind hier an der
Epoche angelangt, in welcher die Herrschaft der alten Modi gebrochen
und dafür unser Dur und Moll einsetzen.
14. An letzter Stelle sei noch einer reichen Serie handschriftlicher Ver-
setten in deutscher Orgeltabulatur 1 ) auf der Hof- und Staatsbibliothek in
München Erwähnung getan, die historisch interessant, aber durch sehr
ausgiebigen Gebrauch der Kolorierung für die Praxis nur zum allerklein¬
sten Teile herangezogen werden können. Der Autor ist nicht immer an¬
gegeben; einige tragen die Bezeichnung C. E. (Christian Erbach) und man
wäre versucht eine Anzahl der anonymen Nummern, einer ähnlichen
Schreibweise halber, ebenfalls Erbach zuzuschreiben, wüßten wir nicht,
daß die Ricercari, Canzonen und Versetten, die wir teilweise in Erbachs
eigener Handschrift besitzen, inhaltlich doch weit höher stehen als die
genannten Versetten im Mss. Nr. 1581. Ob in diesen nicht doch Erbachs
Kompositionen vorliegen, die nur spater von fremder Hand koloriert wor¬
den sind, entzieht sich der Kontrolle. Bei Ordnung des Notenmaterials
für den Erbachband hatte ich große Mühe, nur wenige, erträgliche
Nummern dieser Gattung aus Mss. Nr. 1581 herauszufinden.
Es würde uns zuweit führen, wollten wir noch der Bearbeitungen
einzelner Kirchentöne bei deutschen Kirchenliedern gedenken. Um sie
nicht ganz zu übergehen, erwähne ich hier nur zwei Beispiele des Tonus
peregrinus (IX. Ton): Joh. Seb. Bachs Choralvorspiel, „Meine Seel'
erhebt den Herren“ und das über denselben Text von Delphin Strungk
(1601—1664) in Karl Straubes „ChoralVorspiele alter Meister“ (Ed. Peters
Nr. 3048).
Neben den zwei genannten Orgelbüchern von Titelouze registriert so¬
wohl F6tis als C. F. Becker (in seinen „Tonwerken des 16. und 17. Jahr-
‘) Musikmanuskript N. 1581; vergl. „Die musikalischen Handschriften der k. Hof-
und Staatsbibliothek in München, beschrieben von Jul. Jos. Maier. München 1879."
Dieser mit großer Sorgfalt gearbeitete Katalog des um die Musikwissenschaft hoch¬
verdienten früheren Konservators der musikalischen Abteilung daselbst, behandelt die
Handschriften bis zum Ende des 17. Jahrhunderts und ist meines Wissens nicht fort¬
gesetzt worden. Obengenannte Handschrift ist in diesem Verzeichnis unter Nr. 262
beschrieben und gehören die Tonstücke dem 16. und der ersten Hälfte des 17. Jahr¬
hunderts an.
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Beiträge zur Geschichte des französischen Orgelspiels
hunderts“, welche übrigens von den zwei Orgelbüchem keine Notiz nehmen)
eine Missa quatuor vocum ad imitationem moduli: „In ecclesia*. Parisiis,
Rob. Ballard 1626. In Folio. — Die Rechnungen der Domkapelle von
Rouen erwähnen, außer dieser Messe, noch eine weitere zu sechs und
eine zu vier Stimmen, die vermutlich Manuskript geblieben sind, da kein
Bibliograph derselben Erwähnung tut Es war mir nicht möglich von diesen
Vokalkompositionen einen Fundort zu ermitteln.
Wenn wir die Kompositionsweise 1 ) unseres Meisters beleuchten,
müssen wir vor allem die Flüssigkeit und den Wohlklang derselben her¬
vorheben. Ursache derselben ist nicht in letzterer Linie eine meist sehr
gute Stimmführung. Gerade hinsichtlich des Wohlklanges finden sich
in seinen Werken Nummern, welche von seinen Zeitgenossen nur schwer
erreicht oder gar übertroffen werden. Ja es fehlt auch nicht an Stellen,
die nicht nur wohlklingen, sondern, man möchte sagen, fast modernen
Anstrich verraten. Ich setze eine Stelle aus dem letzten Versett des Ma-
Das Bestreben, das wir bei Sweelink, Scheidt z. B. finden: die Mo¬
tive auszugestalten und so ein ganzes Tonstück darauf zu bauen, tritt
bei Titelouze mehr in den Hintergrund, weil die praktische Seite die künst¬
lerische überwiegt; wir sehen, wie der Komponist den Anforderungen
des katholischen Orgelspiels sich anzuschließen sucht. Die katholische
Liturgie aber stellt an das Orgelspiel vielerlei und zum Teil große An¬
forderungen: der Organist hat der liturgischen Handlung stets auf das
genaueste Folge zu leisten und die einzelnen Teile des Orgelspiels dar¬
nach kürzer oder länger zu gestalten. Es ist daher, abgesehen von den
Vor- und Nachspielen, in wenigen Fällen möglich, ein größeres Tonstück
vollständig zu geben — ohne Kürzungen oder Dehnungen des Tonsatzes.
Der katholische Organist benötigt daher beim liturgischen Gottesdienste-
eine sehr große Anzahl von Orgelstücken verschiedener Dauer und oft
’) Das in der französischen Orgelliteratur besonders hervortretende Streben nach
Registrierungseffekten kann erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts festgestellt
werden; es wäre daher ein Irrtum, diese Eigenart schon auf die Orgelwerke von Tite¬
louze zu abertragen.
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46 Beiträge zur Geschichte des französischen Orgelspiels
nur von wenigen Takten. Diese kleinen Zwischenspiele, wie wir sie in
Gottlieb Muffats „Versetl“, in J. K. F. Fischers „Blumenstrauß“, im „Pro-
totypon“ und „Octitonium“ von F. X. Murschhauser unter vielen andern
treffen, bleiben nur zu oft unverstanden, weil man deren Zwecke außer
Acht läßt. Zur Bewertung dieser eigenartigen Literatur, wie auch ander¬
seits der so schwierigen Aufgabe des Organisten ist, neben gründlichem
Studium der Tonkunst, auch eine genauere Kenntnis der Liturgie vonnöten,
soll ein objektives Bild gewonnen werden.
Auch zur Beurteilung des Tonsatzes mögen hier einige Anhalts¬
punkte Raum finden.
Die Beantwortung der Fugenthema geschieht nach den be¬
kannten, alten Regeln, öfters auch in der Umkehrung; manchmal erlaubt
sich Titelouze Freiheiten, je nachdem er es im Verlaufe des Tonsatzes
dienlicher findet. Ein eigenartiger Fall ist die Bearbeitung des Hymnus
„Sanctorum meritis“; wir haben schon oben die Vermischung, resp. den
ton widrigen Schluß auf dem III. Tone erwähnt, während der Hymnus un¬
verkennbar dem 1. Tone angehört. Diese Stilwidrigkeit geht nun auch
den Versetten nach; während in den ersten Takten des ersten Versettes
das Thema der dritten Stimme a d von der zweiten Stimme mit d ä
und ebenso im dritten Versett in der Umkehrung richtig beantwortet
wird, beginnt im zweiten Versett die zweite Stimme mit den Anfangs¬
noten des Hymnus: d a b a, welche Töne von der dritten Stimme mit:
a e f e real beantwortet wird (statt: a d f dj wie die tonale Fas¬
sung es erheischt hätte und zwar nach der alten Fugenlehre: Tonika-
Dominante als Dux hat Dominante-Tonika als Comes und umgekehrt).
Auch mit den anderen Künsten des damaligen Tonsatzes ist Titelouze
wohlbewandert. So pflegt er auch den doppelten Kontrapunkt und
bei drei Versetten des Hymnenwerkes finden wir den Cantus firmus mit
einem Kanon verwoben. — Eine große Vorliebe der altfranzösischen
Orgelkomponisten finden wir in Verlegung des Cantus firmus in die
unterste Stimme. Auch Titelouze legt bei jedem ersten Versett eines
neuen Hymnus den Choral in den Baß — ein Verfahren, das in Frank¬
reich bis in die neuere Zeit gepflegt wurde. In anderen Versetten der
vorliegenden Werke ist die Choralmelodie öfters der Oberstimme, der
zweiten, der dritten oder auch den verschiedenen Stimmen in einem und
demselben Versett zugeteilt (im dritten Versett zum „Pange lingua“).
Wir sprachen schon von dem bemerkenswerten Wohlklange, der die
Kompositionen unseres Meisters auszeichnet Hier haben wir aber, um
nicht einseitig zu erscheinen, noch zu erwähnen, daß dieselben doch
auch andererseits an musikalischen Härten, namentlich Querständen und
dergl. keinen Mangel leiden. Zieht man aber vergleichsweise die gleich-
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Beiträge zur Geschichte des französischen Orgelspiels
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zeitige Vokalmusik in Betracht, wird man gerne, da es mit derselben in
diesem Punkte nicht besser bestellt war, auch dem Orgelmeister ein
milderes Urteil zubilligen. Hier einige Proben:
Es sei auch auf das untenstehende Beispiel im IV. Tone S. 51 hin¬
gewiesen.
Bezüglich des Tonsatzes mögen noch einige Stellen hier Raum finden.
Schließlich sei noch einer rhythmisch eigenartigen Stelle aus dem
dritten Versett zu dem Hymnus „A solis ortus“ gedacht, der ich aber
keine zweite an die Seite stellen kann; auch geübte Spieler können hier
verblüfft werden.
K lrchfnm inlk. Jahrbuch. 23. Jabrx. 4
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Beiträge zur Geschichte des französischen Orgelspiels
Selbst chromatischer Stimmenfortschreitungen bedient sich Titelouze,
wie bei folgenden, dem fünften Versett des zweiten Magnificat und dem
fünften Versett des ersten Magnificat entnommenen Themata.
Oder im Magnificat des I. Tones:
Die Quarte chromatisch zu durchschreiten und diese Tonfolge als
Thema zu verwerten, wie im letztangeführten Notenbeispiele, war im
17. Jahrhundert sehr beliebt. Es sei hier auf M. Seifferts „Geschichte
der Klaviermusik“, I, 79 und die Vorrede S. XXVII u. f. des in dieser
Arbeit erwähnten Erbach-Hassler-Bandes der baier. Denkmäler verwiesen.
In der Handhabung der alten Tonarten ist Titelouze bald etwas
strenger, sehr oft aber recht frei, ja freier als S. Scheidt im dritten Teil
seiner „Tabulatura nova“. Titelouze macht in der Vorrede zu seinem
Hymnenwerk aus seiner freien Schreibweise für die Orgel als solche
durchaus kein Hehl, bekennt aber auch anderseits, daß er strenger ge¬
schrieben hätte, wenn es sich um Gesangsstimmen gehandelt hätte. 1 )
Wir gehen kurz auf die einzelnen Tonarten ein.
Der erste Ton ist durchwegs recht gut charakterisiert; selbst¬
redend kommen cis und b, auch fis vor; ja selbst gis verschmäht Tite¬
louze nicht, wenn auf der Dominante ein Ganzschluß gemacht wird.
Eines der freiesten Nummern der Magnificat’s bildet das durch das chro¬
matische Thema eigen gefärbte fünfte Versett des I. Tones. Ein auffal¬
lendes, durch mehrere Takte ausgesponnenes Schwanken zwischen h und
b (große und kleine Sexte) ist in dem bewegten Schlüsse zum letzten
Versett zum Hymnus „Ad ccenam“ zu bemerken.
*) „Or d’autant que l’Orgue produit sans difficultg toute Sorte d’intervalle tant
naturels qu’accidentels, j’en ay employg en quelques endroits d'extraordinaires, (bons
et suportables pourtant) afin de donner a c£t Instrument ce qui est de sa compe-
tence, de propres, et hors du commun, et mesme apliquä des diezes en des lieux ou
je les obmettrois si c’estoit pour les voix a cause de raisons cy dessus donn£es.“
(Vorrede zu den Hymnen.) — An Mersenne schreibt Titelouze im Jahre 1624: „Si j’ötois
ignorant des modes, j’aurrois oubli£ ce dont j’ay fait le;on il y a plus de 40 ans."
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Beiträge zur Geschichte des französischen Orgelspiels
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Der zweite Ton ist in die Oberquart mit obligater b-Vorzeichnung
transponiert. Der Komponist hält sich ziemlich an die Tonart, ohne
aber das durch den Tritonus öfters gebotene es zu umgehen; auch
von fis und cis wird Gebrauch gemacht. Bei dem durch die Transpo¬
sition notwendigen Schluß auf G ist auch überall, wo die Terz auftritt,
das b in h aufgelöst. Die Versetten dieser Tonart gehören zu den besten
im Magnificatband.
Der dritte und vierte Ton sind durchwegs ziemlich streng ge¬
halten, ohne aber von cis und fis Umgang zu nehmen; der Ton gis ist
ja selbstverständlich. Eine der freiesten Stellen im vierten Ton möge
hier ganz notengetreu Platz finden.
Der Schluß wird, wie bei S. Scheidt jeweils auf E gebildet, während
S. A. Scherer, Guilain, N. Leßfcgue u. a. den dritten Ton auf A und nur
den vierten auf E schließen.
Der fünfte Ton ist schon durch die vielsagende Vorzeichnung
von b vor h charakterisiert; der Tonschluß ist immer auf F gebildet,
nicht etwa auf A wie bei Scheidt und J. R. Ahle. Wir haben bei Tite-
louze unser modernes F-dur, wenn er auch ab und zu das b in h auf¬
löst; offenbar wollte er es mit den Rigoristen in strenger Beobachtung
der alten Modi nicht verderben. Andere Versetzungszeichen sind recht
selten.
Ebenso ist der sechste Ton bei gleicher Vorzeichnung ganz unser
F-dur. Andere Akzidentien sind, wenn auch spärlich, doch reicher ver¬
treten, als beim fünften Tone: es, fis, cis neben h. Das reichere Ge
staltungsvermögen dieser, unserem Dur fast vollständig gleichkommenden
Tonart, läßt leicht auf andere und reichere Akzidentien verzichten.
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Beiträge zur Geschichte des französischen Orgelspiels
Der siebente Ton kann beim ersten Blick leicht verwirren. Vor¬
gezeichnet hat Titelouze nichts, trotzdem er den Tonsatz um eine Quarte
tiefer transponiert, wie er in der Vorrede selbst sagt; 1 ) daher jeweils der
Schluß auf D. Ebenso versetzt G. B. Fasolo in seinem „Annuale“ die
Versetten im Magnificat siebenten Tones in die Unterquart — auch ohne
Vorzeichnung. S. Scheidt hingegen transponiert in seiner „Tabulatura
nova“ (III. Teil) das Magnificat derselben Tonart nicht; bei der hohen
Tonlage des Choralverses hat der Komponist vielleicht die Versetzung
in eine tiefere Tonlage dem Organisten Qberlassen. — Ein merkwürdiges
Beispiel bietet u. a. der Anfang des ersten Versettes im siebenten Magni¬
ficat: während der Ton fis in der Transposition leitereigen wäre, setzt
Titelouze allein im zweiten Takte dreimal mit f ein, um im vierten Takte
erstmals fis folgen zu lassen. An sehr reichen Akzidentien läßt es Tite¬
louze auch nicht fehlen. Übrigens ist diese Tonart nach unseren jetzigen
Begriffen am unsichersten von allen gekennzeichnet.
Ganz klar wirken dagegen die mehr im konservativen Geiste ent¬
worfenen Versetten im achten Tone, ohne es aber an fis, cis und b
fehlen zu lassen.
Durch die damals noch nicht ausgestorbene Koloristen Schreib¬
art hat sich Titelouze nur in soweit beeinflussen lassen, als er bei Ganz-
und Halbschlüssen durchwegs eine der Stimmen, statt in längeren Noten,
in kleinere Notenwerte wiedergibt. Besonders in den Magnificats lassen
sich sehr zahlreiche Stellen nachweisen, während in den Hymnen wenige
Spuren sich zeigen. Trotzdem wäre es ein falscher Schluß, wenn ge¬
glaubt würde, Titelouze hätte zwischen dem ersten und zweiten Orgel¬
werke seine Spielweise wesentlich geändert. Die damaligen Organisten,
wie auch die Sänger, haben besonders bei Schlüssen, wie auch bei
längeren Noten mit Vorliebe kürzere Notenwerte in Anwendung gebracht.
Es war dieses eine gewisse Lizenz, die der Spieler sich aneignete, bis
endlich die Komponisten — offenbar um dem eingetretenen Wirrwarr zu
steuern — diese Verzierungen durch Zeichen fixierten und gewöhnlich
in der Vorrede erklärten, wie die „agröments“ auszuführen seien. Daß
dieses Kapitel bis auf den heutigen Tag eine recht schwierige Sache ge¬
blieben ist, beweisen u. a. das im letzten Jahre erschienene Werk von
Adolf Beyschlag, „Die Ornamentik der Musik" (Leipzig, Breitkopf und
Härtel, 1908), dessen Besprechung durch Karl Ettler in der Zeitschrift
der I. M. G. und besonders der gut orientierende Artikel von Hugo
Leichtentritt in den Sammelbänden der I. M. G. 1909, S. 613—633.
In einem Punkte unterscheidet sich Titelouze ganz wesentlich von
seinen Zeitgenossen, speziell von Süddeutschland, indem er nur wenige
* *) „Je l’ay transposä vne Quarte plus bas pour la commodite du Chceur.“ Vor¬
rede zu dem Magnificatband.
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Beiträge zur Geschichte des französischen Orgelspiels 53
und dazu nur äußerst geringe Ansätze von tokkatenartigen Schlüssen
bietet. 1 )
Die Notierungsweise beider Orgelbücher ist mit der unserer
modernen Klavierliteratur identisch, mit dem Unterschied, daß dem oberen
Notensystem der Sopran-, dem unteren der Baryton-Schlüssel vorgesetzt
wird; je nach Lage des Tonsatzes treten auch folgende Schlüssel auf:
Obengenannten Baryton-Schlüssel traf ich auch bei späteren fran¬
zösischen Komponisten bis auf Louis Claude d’Aquin (1694—1772);
letzterer Meister bedient sich schon unseres modernen Baßchlüssels.
Wie ermüdend für das Auge war dagegen die italienische Tabulatur
(oben 5—7, unten 7—8 Linien)! Unsere deutsche Orgeltabulatur kann
hier als gut bekannt füglich übergangen werden. Merkwürdig ist nur
das hartnäckige, lange Festhalten an dieser Notierungsweise gerade von
Männern, welche anderseits warm für fortschrittliche Bestrebungen in
der Musik eintraten; es sei hier nur der berühmte Andreas Werck-
meister mit seinen „Paradoxal-Diskursen“ (1707) erwähnt.
Der Verlängerungspunkt kann bei Titelouze nicht nur die Hälfte,
sondern auch den vierten Teil der vorhergehenden Note vertreten, was
jeweils aus den übrigen Notenwerten zu ermitteln ist. Diese Schreibart
ist im 17. und noch im 18. Jahrhundert allgemein üblich gewesen. So z. B.
hn a. Versett zum
i. Hymnus sogar:
Eigenartig in der Schreibweise Titelouzes ist auch der Gebrauch
zweier gleichbedeutenden Formen des Kreuzes: sowohl jf als *,
die sogar in einem und demselben Takte Vorkommen können, wovon hier
bloß ein Beispiel:
Robert Eitner hat auch im Buxheimer Orgelbuch (München, Hof-
und Staatsbibliothek) beide Zeichen vorgefunden, ohne daß er eifie Er¬
klärung hiefür finden konnte.
*) Ein Oberreiches Material von Tokkaten und ähnlichen Schlüssen bietet der in
dieser Arbeit schon genannte Erbach-Hafiler-Band.
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Beiträge zur Geschichte des französischen Orgelspiels
Ein Punkt der untenstehenden Widmung nebst Vorrede 1 ) sei dahin
verbessert, daß zwar am Anfang des 17. Jahrhunderts, zur Zeit von Tite-
louze, unseres Wissens kein Werk für Orgel erschienen ist. Dafür sei
hier an die drei Sammlungen von Pierre Attaignant (1530, 1531 und
eine ohne Druckjahr) erinnert, woraus A. G. Ritter in seinem obenge¬
nannten Werke „Zur Geschichte des Orgelspiels“ *) und R. Schlecht in
seiner „Musikgeschichte“ 5 ) Proben bieten.
Eine Lücke würden wir in unserer Biographie offen lassen, wenn wir
hier nicht des Meisters Wirksamkeit als Orgelexperte gedächten, um
so mehr, als diese ihn vielfach beschäftigte, nicht nur bei den zahlreichen
Kirchen in Rouen selbst, sondern auch in anderen Städten Frankreichs,
da er den Ruhm eines der tüchtigsten Organisten des Landes genoß.
Seine vielen Erfahrungen einerseits und anderseits seine priesterliche Stel¬
lung stempelten ihn zu einem unparteiischen Richter. Sehr interessant
für den Orgelhistoriker und Orgelspieler ist die Stelle der Vorrede zu
den Hymnen, welche den Zustand, resp. Fortschritt des damaligen fran¬
zösischen Orgelbaues beschreibt und bislang noch nicht zum Vergleich
mit dem Orgelbau anderer Länder herangezogen wurde. Man denke sich
am Anfange des 17. Jahrhunderts zwei unabhängige Manuale und ein
selbständiges Pedal mit 28—30 Tasten. Titelouze äußert sogar die Ab¬
sicht, eine Abhandlung über die Fortschritte im Orgelbau zu schreiben;
leider wurde dieser Plan, wie es scheint, nicht ausgeführt, indem kein
Bibliograph einer derartigen Arbeit Erwähnung tut. Kaum ein zweiter
Mann wäre bei einer so umfassenden Bildung zur Lösung dieser Auf¬
gabe geeigneter gewesen als gerade Titelouze. Hier die betreffende Stelle:
„Outre que nous luy auons encore augmenfa sa perfection depuis quel¬
ques ann^es, les faisant construire en plusieurs lieux de la France auec
deux clauiers separös pour les mains, et vn clauier de pedales a l’vnisson
des jeux de huict pieds, contenant vingt-huict ou trente tant feintes 4 )
que marches, pour y toucher la Basse-contre a part, sans la toucher de
la main, la Taille sur le second clauier, la Haute-contre et le Dessus sur
le troisiesme: au moyen dequoy, se peuuent exprimer l’vnisson, la croisee
*) „... un petit liure de Musique, tel pourtant que l’on n’en a point encore lmprim£
en France de son espece“ (Widmung). — „Or ce qui m’a encore d’auantage incitd de
donner ce petit ouurage au public, a est£ de voir des volumes de tabulature de toute
sorte d’instruments imprim^s en nostre France: et qu’il est hors de la souuenance
des hommes qu’on en ait imprimö pour l’Orgue“ (Vorrede).
*) I, S. 57—59 und II, S. 75—77.
*) S. 106 und S. 374—379. — Vergl. auch Rob. Eitners Monatshefte II, 122 u. ff.
4 ) „On appelloit aussi feintes les touches chromatiques du Clavier, que nous
appellons aujourd’hui touches Manches.“ Rousseau, Dictionnaire de musique. Ebenso
auch Seb. Brossard in seinem musikalischen Wörterbuch. Wohlbekanntlich waren
damals die Obertasten weiß.
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Befolge zur Geschichte des französischen Orgelspiels
des parties, et mile sortes de figures Musicales que Ton ne pourroit sans
cela, dont nous esperons donner vn jour quelque traittt.“ 1 )
Titelouze war zur Prüfung der großen Orgel der Domkirche von
Amiens vom dortigen Kapitel berufen, die am 23. Juni 1623 stattfand.
Dank der archivalischen Studien von Georges Durand*) („archiviste
de la Somme*) sind uns nicht nur die Namen derjenigen Musiker be¬
kannt, die unserem Meister bei der Prüfung behilflich waren, sondern
auch die vollständige Disposition und der genaue Orgelplan nebst Vertrag
zwischen dem Domkapitel und dem Orgelbauer Le Pescheur aus Paris.
Weitere Mitglieder der Prüfungskommission waren Jean de Bournonville,
eines der besten französischen Komponisten seiner Zeit, Ant. Chapelain,
Organist der Kirche selbst, Henri Frimart, damals noch'Domkapellmeister
von Rouen — wie schon oben erwähnt — und Paul Maillard, Orgelbau¬
meister aus Paris — als Vertrauensmann des Orgelbauere Le Pescheur.
Man sieht, wie ernst die Prüfung genommen wurde. — Interessant ist
die Vorschrift des Vertrages, es müsse der Umguß der alten Zinnpfeifen
und des nach jetzigen Ansichten übrigens sehr schlechten Orgel metalles
(1 Teil Zinn und 2 Teile Blei) vor einer vom Kapitel erwählten Kommis¬
sion stattfinden; ebenso mußten diese Herrn die Arbeit des Pfeifen Werkes
in den dem Kapitel gehörenden Räumen überwachen. — Doch wir wollen
auch die Disposition des Werkes mitteilen:
Grand orgue: 1. Montre de 16 pieds. — 2. Bourdon de 16 p. —
3. Jeu ouvert de 8 p. — 4. Bourdon de 8 p. — 5. Prestant de 4 p. —
6. Doublette de 2 p. — 7. Foumiture de 4 p., 5 rangs. — 8. Fourniture
de 2 p., 5 rangs. — 9. Cymbale, 4 rangs. — 10. Flüte de 4 p. —
11. Nasard ouvert, 2 rangs. — 12. Flageolet de 1 p. — 13. Tierce. —
14. Trompette de 8 p. — 15. Clairon de 4 p. — 16. Cornet, 6 rangs.
Positif: 1. Montre de 4 p. — 2. Bourdon de 8 p. — 3. Doublette
de 2 p. — 4. Foumiture, 3 rangs. — 5. Cymbale, 3 rangs. — 6. Voix
humaine de 8 p.
Pedale: 1. Jeu ouvert de 8 p. — 2. Trompette de 8 p.
Accouplement des claviere. — Tremblant. — Rossignol.
Übrigens ist uns auch eine verbürgterweise von Titelouze besorgte
Disposition für die Kirche St. Godard in Rouen selbst erhalten; die frühere
wurde durch die Kalvinisten 1562 zerstört. Man gestatte mir, auch diese
interessante Disposition folgen zu lassen, weil sie doch geeignet ist einiges
Licht in die damalige Registrierung zu werfen. Das Werk enthält fol¬
gende Register:
’) Welch’ armselige Orgeln hatte man vielfach in SQddeutschland bis ins 19. Jahr¬
hundert — ja sogar in großen Kirchen I
*) „Les Orgues de la CathCdrale d’Amiens." Paris 1903,
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Beiträge zur Geschichte des franzfleischen Orgelspiels
Grand orgue (48 notes — ut ä ut). 1. Montre de 16 pieds. —
2. Bourdon de 8 p. — 3. Prestant de 4 p. — 4. Doublette de 2 p. —
5. Flöte de 4 p. — 6. Petite flute de 2 p. — 7. Sifflet d’un pied. —
8. Quinte flute (nasard). — 9. Petite quinte l 1 /* p. — 10. Foumiture ä
4 rangs avec reprises d’octave en octave. — 11. Cymbale ä 3 rangs avec
reprise de quarte en quarte. — 12. Comet ä 5 rangs prenant au milieu
du clavier et se poursuivant jusqu’au haut. — 13. Trompette de 8 p. —
14. Clairon de 4 p. — 15. Regale pour servir de voix humaine. — Trem-
blant, Rossignol et Tambour.
Positiv (48 notes). — 1. Montre de 8 p. — 2. Prestant de 4 p.—
3. Doublette de 2 p. — 4. Foumiture ä 3 rangs avec reprises d’octave
en octave. — 5. Cymbale ä 2 rangs avec reprises d’octave en octave. —
6. Quinte flute pour servir de nasard; 3 p. — 7. Cromhorne de 8 p.
Pedale (28 notes — ut ä fa). — 1. Bourdon de 8 p. — 2. Flöte
de 4 p. — 3. Trompette de 8 p.
Accouplement („mouvement“) du Positif au Grand-Orgue.
Prinzipal 16’ und Bourdon 16' auf dem I. Manual der ersten Orgel
neben zwei 8’ des Pedales ist, mit den Augen unserer Zeit betrachtet,
recht eigenartig. Offenbar wurde dem Pedale öfters eine, von unserer
Kunstübung abweichende Rolle zugewiesen; so z. B. zur Heraushebung
einer Tenorstimme (Taille), während die eigentliche Unterstimme in diesem
Falle dem Manuale zugeteilt wurde.
Einiges Ober Titelouzes Wertschätzung bei der Mit- und Nachwelt
sei hier noch nachgetragen. Wir haben schon sein großes Ansehen bei
seinen Zeitgenossen sowohl als Komponist und Organist, als auch als
Sachverständiger bei Orgelbauten kennen gelernt. Die Akten in der er¬
wähnten Orgelangelegenheit von Saint Godard bezeichnen ihn als einen
der tüchtigsten Organisten Frankreichs („l’un des plus habiles organistes
de France).“ Mehr als fünfzig Jahre nach dessen Tod finden wir in der
Vorrede von Nicolas Gigaults „Livre de mvsiqve povr l’Orgve“ (Paris,
1685) die kurze Notiz: „. . . les vers sont fuguez a la maniere de feu
Monsieur Titelouze.“ Noch Seb. de Brossard erwähnt kurz Titelouzes
Namen auf S. 360 seines „Dictionnaire* (Amsterdamer Ausgabe).
Ortigue hingegen gedenkt in seinem „Dictionnaire de plain-chant et
de musique religieuse* (Paris, 1860) der Orgelwerke als „trfcs-remarqua-
bles“ (Spalte 1079); durch die fälschliche Verlegung von Titelouze Wir¬
ken um etwa drei Dezennien wird dessen historisches Bild verschoben
und in den Hintergrund gerückt; dafür weiß Ortigue das alte Stecken¬
pferd der französischen Musikschriftsteller zu reiten und um so mehr von
der Dynastie Couperin zu berichten. — Alb. Lavignac erwähnt in seinem
verbreiteten Werke „La musique et les musiciens“ (IV. ed., Paris 1897)
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Beiträge zur Geschichte des französischen Orgelspiels
57
Titelouze nicht einmal, dafür aber „Couperin den Großen* und die Haupt¬
komponisten der Orgel von Deutschland; von dem alteren französischen
Orgelmeister verrät der Verfasser nichts. — H. V. Couwenbergh hat in
seinem verdienten Werke „L’orgue an eien et moderne“ (Lierre: o. J. —
circa 1888) eine kurze Übersicht über die Geschichte des Orgelspiels,
die besonders gut in den neueren Meistern Belgiens und Frankreichs
orientiert. In der älteren Literatur lehnt sich Couwenbergh mit Recht
an A. G. Ritters „Zur Geschichte des Orgelspiels“ an. Was denkt sich
aber der Leser von folgender Stelle des Buches „Louis Claude Daquin,
Fouquet, Claude Balbätre, Chambonnifcres, J. B. Rameau, Calvifere, Nico¬
las le B£gue, J. Titelouze furent les principaux organistes qui hdriterent
de la renommöe des Couperin et Marchand et contribufcrent pour une
grande part ä conserver en France toute la noble grandeur du väritable
style d'orgue“ (S. 332). — Mit Leichtigkeit könnte diese Blütenlese er¬
weitert werden.
Die „Biographie universelle“ von Fdtis hat sicherlich das Verdienst,
den Namen Titelouze dem größeren Publikum wieder bekannt gemacht
zu haben. Leider enthalten die dem Meister gewidmeten Zeilen vielerlei
Irrtümer; so z. B. erwähnt er das Fehlen der Druckjahre und man wäre
versucht anzunehmen, daß die zwei Orgelbücher ihm nicht zu Gesicht
gekommen seien. Anderseits setzt die dort behauptete Analogie zwischen
der Schreibart Titelouze und der Frobergers doch wenigstens eine flüchtige
Kenntnis der Orgelbücher voraus. Trotz längeren Studiums kann ich
freilich keine nennenswerte Ähnlichkeit in der Schreibart beider Kompo¬
nisten finden.
F6tis erwähnt ferner als Schüler unseres Meisters Nicolas Gigault
und Andr6 Raison. Nach den neuesten Forschungen von A. Pirro 1 ) kann
das Geburtsjahr von Gigault vor 1624 oder 1623 nicht gesetzt werden.
Im günstigsten Falle war also Gigault beim Tode Titelouzes (1633) zehn
Jahre alt. Überdies kann nicht leicht angenommen werden, daß der ohne¬
hin sehr beschäftigte und schon recht alternde Meister sich damals noch
mit dem elementaren Unterricht befaßt habe. Am wenigsten kann von
einem geistigen Erbe in diesem Knabenalter die Rede sein.
Ähnlich wird es sich mit der Schülerschaft von A. Raison verhal¬
ten, über welchen äußerst wenig bislang bekannt ist; sein Geburtsjahr
wird aber eher später als das von Gigault zu setzen sein;*) in der Wid¬
mung von Raisons erstem Orgelbuch 8 ) gibt er zudem als Jugendauf¬
enthalt das Seminar von Nanterre an. Es ist nicht anzunehmen, daß
*) Vergl. „La Revue musicale* 1903, S. 302.
*) Sein Todesjahr verlegt A. Pirro zwischen 1714—1720. (Vorrede zum Raison-
bande der „Archives des maltres de l’orgue“.)
’) „C’est dans vostre.... Seminaire de Nanterre, ou j’ay passe les premieres
annges de ma vie.“
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58
Beitrage zur Geschichte des französischen Orgelspiels
Raison es verschwiegen hätte, wenn er sich einen Schüler des berühmten
Meisters hätte nennen können.
Bis vor wenigen Jahren waren die Werke Titelouzes ganz verschol¬
len und sein Name fast unbekannt Alex. Guilmant hat erstmals in
seinem „Concert historique“ (Paris 1890) ein Versett über den Hymnus
„Exultet coelum“ ediert; 1893 folgten neun Nummern in meinem zweiten
Orgelbuche. Daß er in Deutschland so völlig vergessen wurde, war bei
den schon geschilderten französischen Bibliothekverhältnissen leicht er¬
klärlich. Sowohl die Lexika, Werke über Musikgeschichte, Sammelwerke
etc. in Deutschland erwähnen Titelouze nicht oder nur kurz. J. G. Wal¬
ther, J. N. Forkel, A. Gathy, G. Schilling, F. S. Gaßner, C. F. Becker,
A. W. Ambros, R. Schlecht, A. v. Dommer, U. Kornmüller, A. Proßniz
Kothe-Prochäzka unter vielen andern kennen Titelouze nicht. Dafür wird
er von E. G. Gerber (nach Mersenne) im alten Lexikon kurz erwähnt.
Mendel-Reißmann übersetzte auszugsweise nicht ganz richtig aus Fltis
„Biographie universelle des musiciens“, wie aus der vorliegenden Arbeit
ersichtlich ist. Seit der fünften Auflage ist er auch in H. Riemanns
Lexikon vertreten. A. G. Ritter konnte keines der beiden Orgelwerke
auffinden, nennt aber doch den Namen in seinem Werke „Zur Geschichte
des Orgelspieles“. Rob. Eitner veröffentlichte alles Wesentliche im „Quel¬
lenlexikon*. Dem verdienten Forscher zu diesem Zwecke meine Kopien
zur Verfügung zu Stellen, habe ich mir zur besonderen Ehre gerechnet.
Einen recht charakteristischen Zug der Zeit unseres Meisters bilden
die jeweils zwischen der Vorrede und den Kompositionen eingefügten
Lobgedichte 1 ) auf den Komponisten. Mit Rücksicht auf den beschränkten
Raum folge hier nur der Schluß eines Anagramms, dessen große Buch¬
staben den Namen unseres Meisters wiedergeben:
...
„Et puis d’un beau soucy qui regne en ta poitrine,
Pour empreindre en nos coeurs ta musique divine,
Les liant aux doux sons: T’EZ A TON IEU LIf:.“
‘) Diese Gedichte bieten weder biographisches noch musikflsthetisches Material;
J. B. Weckerlin charakterisiert sie in seinem Katalog der Konservatoriumsbibliothek
von Paris als: „assez mauvais vers*. Trotzdem vermisse ich deren Aufnahme in der
Guilmant-Edition zur Vervollständigung des Bildes; zudem waren unter diesen Ge¬
legenheitsdichtem auch solche von gutem Klange wie z. B. Saint-Amant, der auch
im Hymnenwerke unseres Meisters an erster Stelle steht
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I n Böhmen wird gegenwärtig die Auferstehung des Herrn am Kafsams-
tag abends gefeiert. Christus ist von den Toten beim Morgengrauen
des ersten, dem Samstage folgenden Tages auferstanden,*) aber die Feier
selbst erscheint aus Zweckmäßigkeitsgründen von Sonntag früh auf
Samstag abends verlegt.
Nach dem „Manuale rituum“ 8 ) unter dem Titel „Ordo elevandi Ss.
Corpus Christi e sepulchro vespere sabbati“ pag. 284. kniet der Zele¬
brant mit Assistenz beim Heiligen Grabe nieder und der Klerus oder
der Sängerchor rezitieren lateinisch den 56. Psalm „ Miserere mei Deus*.
Der Zelebrant singt hierauf, wie beim Begräbnis Erwachsener, das „Pater
noster " und fügt die Oration: „Deus, qui hatte* an. Nach der Incen-
sation des Sanktissimum empfängt er vom Diakon das Ostensorium (Mon¬
stranz) und intoniert das Lied: „Vstalf jest teto chvile* (Christus ist er¬
standen), welches vom Chore fortgesetzt wird. Der Priester schreitet
hierauf mit dem Allerheiligsten, begleitet von den Gläubigen, in feier¬
licher Prozession zum Hauptaltar. Dort stellt er die Monstranz auf den
Altar, singt den Versikel „Surrexit Dominus ", fügt die Oration „Deus,
qui nos a tono feriali simplici mit der großen Klausel an und intoniert
den Hymnus „Te Deum laudamus“, der vom Chore zu Ende gesungen
wird. Es folgt die Antiphon „Regina ceeli * und der heilige Segen, dem
das übliche „Pange lingua“ vorangeht.
Das Lied „Vstalt* jest teto chvfle" („Christus ist erstanden") er¬
scheint nach dem gegenwärtig gültigen Manuale fälschlich als integrie¬
render, liturgischer Bestandteil der Auferstehungsfeierlichkeit.
Ich sage fälschlich, da die geltenden (liturgischen) Vorschriften den
Gebrauch einer lebenden Sprache bei den liturgischen Handlungen verbieten
und der Priester überhaupt keinen Gesang anstimmen darf, wenn er die
Monstranz oder das Ziborium mit dem Allerheiligsten in den Händen
') Übersetzt von Prof. Emil Bezecny—Prag
*) Matth. 28, 1.
*) Manuale rituum in cura animarum saepius occurrentium e rituali Romano
et collectione rituum particularium a clero provinciae Pragensis et benigna s. Sedis
Apostolicae retinendorum excerptum, cui accedunt breves allocutiones et preces bohe-
micae. Mandante et approbante reverendissimo archiepiscopali Consistorio Pragensi.
Prag« 1907 (V. Kotrba). Im Prager Konsistorialarchiv ist keine Approbation von diesem
Manuale aus 1907 eingeschrieben.
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Surgit in hac die
hält. Es ist daher nicht korrekt, wenn der Priester, die Monstranz mit
dem Leibe des Herrn in der Hand, das „Vstalf jest teto chvile" anstimmt.
Die Auferstehungsfeier setzt das Heilige Grab oder wenigstens
ein Sanktuarium bei einem Altar in einer Seitenkapelle voraus. Nicht
alle Ritualbücher und Agenden sprechen aber vom Heiligen Grabe und
wo sie dasselbe kennen, enthalten sie für die Feier desselben von einan¬
der abweichende liturgische Vorschriften. Die alteren Ritualbücher er¬
wähnen das Lied „Vstalf jest" überhaupt nicht; erst die Agenden neueren
Datums erlauben den Gesang desselben bei der Auferstehungsfeier, stim¬
men aber indessen in Detail-Rubriken miteinander nicht überein. Die älte¬
ren Ritualbücher und Agenden lassen sich, soweit es sich um Vorschriften
in bezug auf die Auferstehungsfeier handelt, in drei Gruppen scheiden.
a) Die erste Gruppe kennt das Heilige Grab überhaupt nicht,
daher weder den Besuch desselben noch die Auferstehungsfeier. Hieher
gehört vor allem die lateinische Agende des Prager Bischofes Tho-
bias (TobiäS) (1278—96) aus dem Jahre 1294. 1 ) Es ist das älteste
Buch böhmischen Ursprungs, welches ausschließlich Ritualvorschriften
extra Missam enthält. Eine Rubrik, betreffend die Prozession am Kar.
samstag findet sich in demselben nicht; für den Ostersonntag enthalt es
zwar Gesänge „ad processionem“, aber nicht zum Heiligen Grabe. Es
handelt sich dort um die Prozession durch die Kirche nach der Anti¬
phone „Vidi aquam“, worauf die heilige Messe gefeiert wird. Aus die¬
ser Prozession hat sich die „Aspersio“ des Volkes mit Weih¬
wasser entwickelt, eine Feier, welcher vom Ostersonntag bis zum
Pfingstsonntag die Antiphone „Vidi aquam“ vorangeht. — Indessen stim¬
men die Gesänge und Gebete „ad aspersionem et ad processionem die
sancto“ nach der Agende des Bischofes Thobias stellenweise mit den
Zeremonien bei der Prozession zum Heiligen Grabe, wie sie uns in neueren
Ritualbüchern begegnen, mit den Ostergesängen der Utraquisten über¬
ein ; nur ist dort der unterlegte liturgische Text ins Böhmische übersetzt.
Aus diesem Grunde ist es notwendig, wenigstens jene Teile, die
sich später bei der Auferstehung wiederholen, wörtlich anzuführen; die
anderen, bei denen dies nicht der Fall ist, nur auszugsweise.
Seite 203. Ad aspersionem: „Vidi aquam“. Die Melodie stimmt
bis auf kleine Abweichungen mit der heutigen überein.
V. Domine apud te . . .
Seite 204. Ad processionem. Cum rex gloriae *)
*) Handschrift in der Kapitel-Bibliothek Prag IV. sign. P/, mit der Inschrift:
„Anno Domini millesimo ducentesimo XC° IUI 4 Dominus Thobias episcopus pragensis
vicesimus quintus istum librum agende contulit ecclesie pragensi.“ Die Noten sind
wie im Troparium aus 1235, d. h. „pedes muscarum", aber auf 5 Linien.
*) Gleich, wie im Obsequiale von 1496 und 1585 bis zu den Worten „in tor-
mentis alleluia.“ Dieselben Worte hat auch das Missale von 1472 (Kap. Bibliothek,
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fiiftsimHe aus der Thobiss-AgendeS. 204,
Handschrift F/,). ijt welchetn därriäch folgt: „Et fit proeessjo ad mönasteriutn sancti
Georg». Ibi in staüonc mdpit praeiaius: Surrevit enira . .
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62
Surgit in hac die
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Faksimile aus der Thobias-Agende S. 205.
Seite 206. Trophus (zum vorangehenden „Cum rex gloriae") - . Tri-
umphat dei filius de hoste superbissimo resurgens a morte delens eam
sua. y. Latronem sero flebilem coniunctum beatissimus perduxit ad regna,
quo iturus erat. y. Petrum cum reliquis visitavit. Omnes incredulos re-
vocavit semper voce pia.
Go gle
Original frc
:higan
Surgit in hac die
63
In stacione. 1 ) Surrexit ...
S. 209. Oratio. Deus, qui nos resurrectionis dominicae . . .
Oratio.*) Deus, qui renatis aqua et spiritu sancto ...
In reditu. W. Salve festa dies toto venerabilis . .. (Mit einer Melodie)
Postea redeunt ad chorum et ibidem missaagitur ordine suo.
Weder im XIV. noch im XV. Jahrh. haben einzelne Missalien 8 )
Rubriken für den Besuch des Heiligen Grabes und schreiben nur die
Prozession „ad aspersionem“ und die Gesänge nach dem „Vidi aquam*
vor, geradeso wie die Agende des Bischofs Thobias. Gewöhnlich fehlt
der Trophus „Triumphat“ und die heilige Handlung erscheint abgekürzt.
Die offiziellen römischen Ritualbücher kennen weder das
Heilige Grab noch die Auferstehungsfeier und natürlich auch nicht das
Lied „Vstalt* jest“. Das erste offizielle, für die ganze Kirche emp¬
fohlene Ritual ist aus dem Jahre 1614: Rituale Romanum Pauli V.
Pont. Max. iussu editum. Spätere Ausgaben folgten 1625 in Ant¬
werpen, 1636*) mit hinzugefügter Formel „pro benedicendis agris“, 1642
unter dem Titel: Rituale Romanum Pragense iussu et authoritate
archiep. Ernesti Adalberti 6 ), weiter 1898 (editio sexta post typicam)
und 1872 erschien: Collectio rituum particularium a clero pro-
vinciae Pragensis ex benigna s. Sedis Apostolicae retinendo-
rum ... in processionibus. (Editio in usum cleri provinciae Pragensis
approbata ex mandato Curiae Archiepiscopalis); doch weder hier, noch
in den vorhergehenden Ausgaben finden wir eine Erwähnung der Auf¬
erstehungsfeier.
b) In zweiter Reihe stehen die Agenden privater Autoren ohne
offiziellen Charakter. Nach Provinzialgewohnheit setzen sie das Heilige
Grab (sepulchrum), die Übertragung des Allerheiligsten vom Haupt¬
altar ins Heilige Grab am Karfreitag und die Prozession vom Heiligen
Grabe mit dem Sanktissimum zum Hauptaltar nachts oder abends am
Karsamstag voraus.
So wird das Begräbnis des Herrn und seine feierliche Auferstehung
dramatisch dargestellt. Diese Prozession am Karsamstage abends oder
früh am Ostersonntage mit dem Allerheiligsten — das ist unsere gegen¬
wärtige Auferstehungsfeier.
‘) Von da wieder in Hdsch. P/«.
*) Diese Oration fehlt in P/< und gleich nach der ersten Oration ist die Rubrik
„In reditu ympnus: Salve festa dies".
*) Zum Beispiel ein Missale aus XIV. Jahrh. (Prag IV. Bibi. Strahov. D. f. I. 8.)
mit Neumenschrift auf 4 Liniensystem, wo für F-Schl. die Linie rot ist Auch siehe
das schon früher zitierte Missale von 1472, Prag IV. Kapitel Bibi. P/ 4 1
4 ) Prag, Bibi. Strahov sign. A. Ch. X. 10.
*) Ernestus II, Comes ab Harrach (1623—16,67), Kardinal.
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Surgit in hac die
Die Zeremonien bei derselben Prozession sind im „Liber sacerdo-
talis“ 1 ) des venetianischen Dominikanermönches Albert Castellani be¬
schrieben. Trotz päpstlicher Approbation besitzt dieses Buch keinen offi¬
ziellen Charakter. Nach demselben findet die Prozession zum Heiligen
Grabe nach dem Läuten zum Matutinum „in nocte Paschae“, d. h.
zum Sanktuarium in der Kapelle statt. Der Priester öffnet das Heilige Grab
(Sanktuarium), entnimmt demselben das Allerheiligste und trägt es in
feierlichem Umzug durch die Kirche, wo gewöhnlich das allerheiligste
Sakrament aufbewahrt wird (in loco sacrarii, ubi s. sacramentum ser-
vari consuevit). Bei der Prozession wird der 3. 138. 56. Psalm lateinisch
gesungen. Hierauf legt der Priester den Leib des Herrn in ein eigenes
Sanktuarium (in sanctuarium suum) auf dem Hochaltar ohne die Türe
desselben zu schließen. Der Klerus singt R. „Surrexit pastor ", der Zele¬
brant fügt die Oration „Omnipotens, sempiteme Deus " und noch zwei
andere Gebete an und inzensiert das Allerheiligste.
Inzwischen kleiden sich zwei Diakone in weiße Dalmatiken und
bleiben in der Kirche. Der Offiziant verläßt mit dem übrigen Klerus
durch einen Seitenausgang die Kirche, geht dreimal um dieselbe herum
bis zum Haupttor, welches dreimal mit dem Kreuze berührt wird und
singt dabei: „ Attollite portas vestras“. Nach dem dritten Schlage öffnen
die Diakone von innen das Tor; die Prozession betritt die Kirche und
teilt sich in zwei Chöre. Der Priester geht zu dem halbgeöffneten Taber¬
nakel, wohin er den Leib des Herrn gelegt hatte, blickt hinein, wendet
sich zum Volke und singt dreimal:
Sur - re - xit Chri - stus.
Das Volk antwortet „Deo gratias". Der Geistliche gibt den Frie¬
denskuß („pax“) und singt „Surrexit Dominus Es folgt hierauf
die Prozession zum Marienaltar, wo die Antiphone „Regina coeli , ‘ ge¬
sungen wird.
Bei dieser Prozession vom Heiligen Grabe zum Hochaltar ist die
Anwesenheit des allerheiligsten Sakraments und der Ausschluß
der Muttersprache aus der Liturgie charakteristisch.
Im XVII. Jahrhundert schreiben die Ritualbücher ebenfalls die Pro¬
zession vom Heiligen Grabe zum Hauptaltare vor, erlauben aber unter
verschiedenen Bedingungen schon den Gebrauch der deutschen
oder böhmischen Sprache beim Gesänge der Osterlieder. Es
') Albertus Castellani: Liber sacerdotalis nuperrime ex libris s. Romanae Eccle-
siae collectus atque compositus et auctoritate Ss. D. N. Leonis X. approbatus 1523.
Erschien auch 1537 in Rom, 1538 in Venedig, dann 1546, 1555, 1567. Siehe Cäcilien-
Kalender 1885, Regensburg: die Auferstehungsfeier am Karsamstag, pag. 27 ff. —
Castellani hat auch 1506 ein Missale herausgegeben. (Prag IV. Bibi. Strahov sign.
A. Ch. V. 4.)
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Surgit in hac die
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sind das: „Appendix ritualis Romano-Pragensis* von 1643, Ri¬
tuale von 1700, Panis quotidianus von 1733, die Agende von Krol-
mus von 1848.
c) Die dritte Gruppe der Agenden und Ritualien verlangt ebenfalls
die Prozession zum Heiligen Grabe, jedoch ohne das allerheiligste
Altarssakrament. Statt desselben wird bei der Prozession am Kar¬
freitag und Karsamstag ein Kruzifix vorangetragen. Am Karfreitag findet
das Begräbnis des Herrn statt (sepultura Domini). Vor dem Komple-
torium wird zum Begräbnisplatze (ad locum sepulturae) das Kreuz, vor
demselben andere Kreuze, Kerzen, Weihrauch und Weihwasser getragen.
Das Kreuz wird ins Grab gelegt, inzensiert und mit Tüchern eingehüllt.
Daraus ergibt sich, daß das Sanktuarium allein nicht das Heilige Grab
vertreten kann, sondern daß dem Heiligen Grabe der ganze Altar dient,
wie es auch heute noch der Fall ist. In der heiligen Osternacht findet
der Besuch des Heiligen Grabes statt, also die Auferstehungsprozes¬
sion, bei welcher sie sich aus dem Heiligen Grabe mit aufgehobenem Kreuze
zum Hauptaltare begibt
Nach den Ritualien sub b) wird das allerheiiigste Altarssakra¬
ment, hier das Kruzifix, aus dem Heiligen Grabe getragen. Dort ist
Christus realiter und substantialiter, hier nur im Bilde (Kruzifix)
gegenwärtig.
Die Zeremonie der Kreuzaufhebung aus dem Heiligen Grabe
in der heiligen Nacht war in Böhmen allgemein gebräuchlich; wir finden
dieselbe in alten Handschriften und Drucken des XV. und XVI. Jahr¬
hunderts erwähnt.
Das „Breviarium et Rituale“, Hs. aus dem XIV. Jahrhundert
(Prag, Bibi. Museum sign. XIV. D. 9.) schreibt vor, 1 ) daß in der heil.
Nacht vor dem Matutinum mit der großen Glocke geläutet werde. Bei
dem Geläute derselben stehen alle auf und gehen im Umzuge zum Grabe
des Herrn. Voran werden Kerzen, Fahnen, Weihrauch und Weihwasser
getragen. Nach Herausnahme des Kreuzes aus dem Heiligen Grabe kehrt
die Prozession unter Absingung des „Cum rex gloriae“ zum Hauptaltar
zurück, wo das Kreuz begrüßt und auf seinen Platz gestellt wird.
Im ältesten gedruckten Prager-Ritual von 1496,*) „Obsequiale et
benedictionale“ ist der Besuch des Heiligen Grabes so geregelt, wie
') Post Completorium sabbato sancto. In sacra nocte ante matutinas magna
campana pulsetur, ad quam . . . consurgant et eant ad sepulchrum in processione
precedentibus cereis, vexillis et incenso et aqua benedicta et accepto cruce redeuntes
cantant „Cum rex gloria* . . . pervenitur ante altare maius, ubi salutata cruce ista
ponitur in loco suo.
*) Incunabe! von 1406 hat die Inschrift: „Obsequiale sive benedictionale
quod agendam appelant secundum ritum et consuetudinem Pragensis Ecclesia“. Ein
Exemplar ist z. B. in der Kapitel-Bibl. Prag IV. ohne Signatur, andere 2 Exemplare
in der Strahover Bibliothek sign. D M. VL 10 und D M. VI 11 und ein Exemplar in
Kircbammdk. Jahrbuch. 23. Jahre. 5
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Surgit in hac die
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der Plager Priesterseminarbibliothek, wo zum gedruckten Texte in gedrucktes Linien-
systent die Notatfcm mit der Feder handschriftlich durchgeführt ist. Der Unterschied
zischen der Notenform und Melodie des ^Rex glorias" aus dem XIII., XV. und XVI.
Jahrhundert ist aus folgendem Faksimile des „Obsequiale“ der Prager-Priester*
> » . .
Surgit in hac die
61
im Exemplar vom Jahre 1585 1 ) und stimmt auch bis auf kleine Abwei¬
chungen mit dem „Obsequiale“ vom Jahre 1520*) auf Folio CXXXHIt*
rubrica) de sepulchri visitatione in nocte sancta paschali) vollkommen
überein. Daß erst das Exemplar aus dem Jahre 1585 und nicht die erste
Auflage aus dem Jahre 1496 abgedruckt ist, hat seine Gründe.
Im folgenden versuche ich die katholische und utraquistische
Osterjiturgie fast aus demselben Jahre parallel zu stellen, um dem Leser
eine klare Vorstellung der Gebete und Gesänge bei dem Besuche des Heiligen
Grabes in einer katholischen Kirche im Jahre 1585 zu ermöglichen
und ihm zu zeigen, wie in einer utraquistischen Kirche die Morgen¬
prozession in der Osternacht zum Andenken an die feierliche Auferstehung
unseres Herrn Jesus Christus a, 1588,*) also in beiden Fällen gegen Ende
des XVI. Jahrhunderts vor sich ging.
Auf den ersten Blick äst es klar, daß die böhmische Zeremonie auf
einer Obersetzung des lateinischen Textes beruht, und daß zu ihr Ge¬
sänge hingefügt wurden, welche der ganzen utraquistischen Liturgie einen
volksmäßigen Charakter gaben. Der Choral ist zwar mit unterlegtem
böhmischen Texte beibehalten , daneben wurden aber auch mensurierte
Lieder gesungen, um dem Volke die Beteiligung zu ermöglichen.
w
in fut$ : ut t burrno Itf t uom omraüx
»■jf Pii
m
mlifuüm :
tttto
scminarbibliotiiek ersichtlich. Diesen Abdruck möge man mit jenem ans der Tobias-
Agende von 1294 (S. 61,62.) und aus dem „Obsequiale' 4 von 1885 ($. 94.) in Vergleich steilen.
*) Öbsequiaie sive benedfctidnale, qaod agendam appellanb secundwn
ritutn et consuetudinef» s. Metropolitana« Pragensb Ecdesiae. Prags«, Petrle 1585.
Ein Exemplar in der Strahover Bibi. sign. A. Ch. 11. 30 und eines in der Kapit. ßibi.
Prag IV., welches von df. A. Pödlahaa. 1903 in der Zeitschrift des katbolischen Klerus
in Prag (öäsopis Kalo)ick£hö duehovenstra) beschrieben wurde.
*) Obsequialium beoedictionum opus exirnium architectonica arte Hieronymi
Hollzeis, civis Nui^mbergsnsis, impensis spectabiils viri Nicolai LanceÜarii Crume-
naaensis secundum ordinarium ac rubricas alm« Pragensis ecetesiae. Caraciere tocun-
dissimo Impressum 1520 (Prag, Strahover Bibliothek sigo, A Ch V. 53.)
*) Benennung dieser Hs. lautet: «Toto gssü wditarinij knihy s kanonem, s pref-
fiskczijmij, i s Venite, czti hodnSho knieze Adams , Rödicze Thaborskyho, gednomukaz*
demu kniezij, ku potriebnosti ducftownlj, przepsah.4 odemne, Waczlawa Cdasisw*. •
kyho sauseda i MiestaPljsku na ffarze we wsy Bubowiczijch Letha paoie Tii$>'czehö
pietisteho wosumdesateho wosnteho." (Mus. Prag, sig. Ul. F i7.)
5*
gle
68
Surgit in hac die
In der katholischen Kirche finden wir die Prozession zum Heiligen
Grabe, in der utraquistischen gibt es kein Heiliges Grab; — die Katho¬
liken tragen beim Umzuge das Kreuz, die Utraquisten nicht
Die Utraquisten beginnen die Feier mit dem Bubspalm 56 »Smi-
luj se“ (Miserere mei), von dem das katholische Obsequiale schweigt.
Es folgt hierauf im utraquistischen Ritus „Släva vöönä bud tobö Tro-
jice“, eine Übersetzung aus dem Obsequiale „Gloria tibi Trinitas". Der
lateinische Gesang ist melismatisch, der böhmische bereits syllabisch.
Übereinstimmend ist auch das folgende „Laudem dicite* samt
dem Psalm und den Versen mit dem utraquistischen »Chvälu öest
vzdävejte“ und mit dem Psalm »Chvalte2 Päna vSickni* (Laudate
Dominum omnes gentes). Die Katholiken hatten eine Oration (Per glo-
riam sanctissimae), die Utraquisten zwei Gebete (»Tobä, Pane Je2ßi Kriste“
und »Pane Je2ßi Kriste;*) die böhmischen waren länger als die lateinischen.
Nach beendeter Oration wurde in der katholischen Kirche das Kreuz vom
Heiligen Grabe zum Hauptaltar getragen, wobei das »Cum rex gloriae“ ge¬
sungen wurde; bei den Utraquisten ist vom Kruzifix nirgends die Rede. Nach
zwei Gebeten wurde das »Alleluja. Povstanß slävo mä . . .* gesungen,
dann folgte »Kdy2 kräl slavnosti“, die Übersetzung des bereits angefQhrten
»Cum rex gloriae*. In der böhmischen Liturgie ist es wieder der sylla-
bische, in der lateinischen der melismatische Gesang, in beiden aber
Choralgesang.
Hier beginnt nun in der Liturgie der Utraquisten eine wichtige
Abweichung: statt des Choralgesanges „Kdy2 kräl slavnosti“ führen die
Altarbücher für jene, die den Choral nicht singen können, das Strophen-,
also Volkslied „Vstalt* jest" und „Prozpevujmeä vSickni nynf" an. Es
ist dies eine prinzipielle Abweichung; der katholische Gesang ist
ein für den Klerus bestimmter Kunstgesang; der Gesang der Utra¬
quisten nimmt in seine Liturgie auch den Volksgesang, das Strophen¬
lied auf. Die Katholiken bedienen sich einzig und allein des rhythmi¬
schen Choralgesanges; die Utraquisten verwenden außer dem Choral
auch mensurierte Lieder. Im weitern Verlauf richtet sich der Utra¬
quismus wieder nach dem Katholizismus. Er übersetzt den Choral „Trium-
phat Dei Filius" mit „Zvftezil mily Syn bo2(", worauf in beiden Kirchen
das Matutinum folgt, bei den Katholiken lateinisch, bei den Utraqui¬
sten böhmisch.
In der utraquistischen Zeremonie sind also zum ersten Male die
mensurierten Lieder „Vstalf jest" und „Prozp§vujme2 vSickni
nyni" als liturgische Bestandteile in Gebrauch. Bei dem ersten
Lied ist zu bemerken, daß es nach der Melodie als „Surgit in hac die"
gesungen wird; das zweite Lied hat seine eigene Melodie; beide Lieder
waren zu Ende des XVI. Jahrhunderts sehr verbreitet und die Melodie
allgemein bekannt. Für das Volk wurde, damit es sich am Gottesdienste
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Surgit in hac die
beteiligen könne, in die Zeremonie statt des rhythmischen Chorals das
Reimlied mit mensurierter Melodie aufgenommen; der Choral war dem
Volke damals schon unbekannt, da er durch die Mensur und durch
den schlechten Vortrag verdrängt worden war.
Bei den Osterzeremonien der Utraquisten, keineswegs aber bei
denen der Katholiken, wird also das Lied „Vstalf jest" 1 ) als liturgi¬
scher Bestandteil zum erstenmal erwähnt Damit ist nicht gesagt,
daß das Lied erst zu Ende des XVI. Jahrhunderts erscheint; es ist viel
älteren Ursprungs, aber der Utraquismus*) verlieh ihm liturgischen
Charakter, den es vom XVII. Jahrhunderte an auch in der katholischen
Kirche erhielt. Übrigens könnte man bei dem Bestreben der Utraquisten,
alle Zeremonien, selbst die heilige Messe, ins Böhmische, beziehungsweise
ins Deutsche*) zu übertragen, vermuten, daß sie schon in der ersten
Hälfte des XVI. Jahrhunderts dieses Lied in der Osterliturgie benützten;
diese Vermutung muß aber bewiesen werden. Die Notizen bezeugen,
daß gegen Ende des XVI. Jahrhunderts die katholischen Zeremonie¬
bücher dieses Lied bei der Feier der Auferstehung nicht haben und daß
die Utraquisten den Choral durch dieses Lied ersetzen wollen. Interes¬
sant für den Vergleich beider Liturgien ist der Umstand, daß die Notizen
fast aus demselben Jahre stammen. Die katholischen Agenden konnten
bei liturgischen Handlungen die Muttersprache nicht an wenden, wenn
sie die Approbation der römischen Kurie erlangen wollten; der Utraquis¬
mus dagegen kam dem Volke entgegen und gestattete ihm direkte Teil¬
nahme an den Zeremonien, indem er die lateinischen Gebete, Psalmen
und Hymnen und Orationen ins Böhmische übersetzte oder zu älteren
Melodien neue gereimte Texte schuf, damit das Volk „mit verständiger
Zunge“ singen könne. Dieses Bestreben des XVI. Jahrhunderts, die
böhmische Sprache zu verwenden, hängt jedoch nicht direkt mit der
böhmisch-hussitischen Liturgie in den ersten zwei Jahrzehnten des XV.
Jahrhunderts zusammen.
Erst im XVII. Jahrhundert kann man genaue Daten dafür aufstellen,
daß das Lied „Vstält' jest“ bei der Auferstehung auch in katholischen
Kirchen gesungen wurde, aber nicht als liturgisch-notwendiger unaus¬
bleiblicher Bestandteil, sondern als außerliturgischer Nachtrag zur
ganzen Feierlichkeit — Im Jahre 1642 wurde in Prag das „Rituale
*) Am Anfänge des XV. Jahrhunderts war in der Osterzeit das Lied „Bfth väe-
mohücf* üblich.
*) Die Liturgie des Utraquismus im XVI. Jahrhundert war nicht überall einig.
Die erste Abweichung vom katholischen Ritus war Parole für weitere Veränderungen
der Liturgie. So wurde in Tdbor vom Turm vor der Ostersonntagmesse das Lied
.Vstalf jest Kristus slavnö“ (wie .Surrexit hodie") und nicht das Lied „Vstalf jest"
herabgeblasen.
*) Strahover Bibi. sign. D. E. III. 9 hat eine deutsche hussitische Messe aus dem
XV. Jahrhundert, in der Öfters „Vater unser" vorkommt
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Surgit in hac die
Romano-Pragense äd usum Romanum accomodatum iussu et
authoritate archiep. Ernesti Adalberti gedruckt. In diesem findet
sich zwar nichts von der Auferstehungsfeierlichkeit, aber im Jahre 1643
erschien in Wien die Ergänzung hiezu: Appendix ritualis Romano-
Pragensis continens ea, quae parochi prae manibus habere de-
bent vel ex laudabili consuetudine a fidelibus desiderari solent.
Darin steht auf Seite 143 „Ordo elevandi Corpus Domini e sepul-
chro in sancta nocte Pasche.“
Dieser Zeremonie gemäß war der Priester bekleidet mit der Albe,
der Stola und dem Pluviale von weißer Farbe. Um Mitternacht (circa
mediam noctem) begibt er sich zum Heiligen Grabe. Es begleiten ihn
nach Möglichkeit 2 oder 4 ähnlich gekleidete Akolythen, denen der Weih¬
rauchträger mit dem Rauchfaß und 2 Kerzenträger mit brennenden Ker¬
zen vorangehen. An der Prozession beteiligen sich nach vorgeschriebener
Regel auch der Sängerchor und die übrigen Geistlichen, jeder mit einer
brennenden Kerze in der Hand.
Sobald alle zum Heiligen Grabe kommen, knien sie vor dem Aller¬
heiligsten nieder und rezitieren andächtig und demütig 1 ) den 56. Psalm:
„Miserere mei Deus“. Der Offiziant singt das lateinische „Vaterunser“,
die Oration „Deus, qui hanc“ und gibt, wenn er will, noch eine andere
Oration „Gregem tuum pastor*» bei; er beräuchert das Allerheiligste und
trägt es, von allen begleitet, vom Heiligen Grabe zum Hochaltar. Bei
der Prozession,*) die die eigentliche Feier der Auferstehung bildet, singt
der Chor: R. „Surrexit pastor bonus“.
Das Allerheiligste stellt der Priester auf den Hauptaltar; dann singt
er selbst oder der Akolyth: V. „Surrexit. — Oremus, Deus, qui nos resur-
rectionis . . .“. Er beräuchert das Allerheiligste, nimmt es in die Hand,
wendet sich zu dem Volke*) um und singt: O vere digna hostia 4 )
Der Chor setzt fort: „ Gloria tibi Domine . . ." Wenn der Chor den
Vers „Cum Patre et Sancto Spiritu “ singt, gibt der Priester mit dem
hochwürdigsten Gut den Segen; dabei betet er nicht (nihil dicendo).
Hierauf stellt er das Allerheiligste in den Tabernakel. Unmittelbar dar¬
auf wird die Sequenz „Victimce paschali mit dem deutschen Liede
„Christ ist erstanden" gesungen (incipitur et canitur); letzteres Lied
entweder nach oder wechselweise (altematim) mit der Sequenz.
Dadurch, daß man nach den liturgischen Zeremonien (gemäß dem
Rituale vom Jahre 1643) kein böhmisches Lied sang, sondern ein
deutsches, wird an der Sache nichts geändert; damals war eben die
*) Im orig.: summa cum animi submissione ac devotione.
*) Interim choro inchoante et cantante fy. „Surrexit pastor bonus*.
*) Org.: „stans cum eodem versus populum canit.“
*) Der Priester singt zwar lateinisch, aber er soll Oberhaupt nicht singen, wenn
er das Allerheiligste in der Hand hfllt
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Surgit in hac die
71
böhmische Sprache in den Hintergrund gedrängt Wichtig ist, daß es
ein Lied in der Muttersprache war, daß es erst nach beendeter eigent¬
licher Zeremonie gesungen wurde und daß nicht der Priester es into¬
nierte und sang, sondern das Volk.
Wenn der Priester das Allerheiligste vom Heiligen Grabe nahm,
sang er nicht; erst beim Hauptaltar, wenn er den Leib des Herrn in den
Händen hielt, begann er lateinisch (nicht böhmisch) zu singen: „ O vere
digna hostia.“ Es wird nicht wie im XVI. Jahrhundert das Kreuz über¬
tragen, sondern der Leib des Herrn. Der vereinzelt in einigen Provinzen
geltende Ritus aus Castellanis „Liber sacerdotalis" wurde in die Zugabe
zum Rötnisch-Prager Rituale eingereiht. Die Prozession mit dem Kreuze
verschwand im XVII. Jahrhunderte und überall wurde die Auferstehungs¬
feier mit dem Allerheiligsten vollzogen. Der Gesang in lebenden Spra¬
chen war erst nach vollendeter Zeremonie erlaubt. Die Kirche nahm
dem Volke das Lied, das es zur Zeit des Utraquismus gesungen hatte,
nicht, aber sie verlegte es an das Ende der Feier.
Mit Anfang des XVIII. Jahrhunderts dringt nach der Agende Breuners 1 )
die lebende Sprache tiefer in die eigentliche Zeremonie ein. Die Feier
findet nicht um Mitternacht statt, sondern schon am Vorabende der hei¬
ligen Nacht um 7 oder 1 l t S Uhr (ad vespern m sacrae noctis circa septi-
mam vespertinam aut mediam octavam). Alles ist so, wie es der „Appen¬
dix" des Rituale vom Jahre 1643 schildert; nur wird bei der Prozession
vom Heiligen Grabe zum Hauptaltar R. „SurrexU pastor" gesungen, oder
ein auf die Osterzeit passendes Lied in der Muttersprache (pro
tempore conveniens alia cantio paschalis lingua vernacula).
Einige Jahre darauf findet man in der von Joseph Levinsky nach
dem römischen Rituale verfaßten Agende „Panis quotidianus"*) auf
Seite 95 die Feier der Auferstehung so geschildert wie im Prager Rituale
auf Seite 123, aber für die Zeremonie beim Heiligen Grabe erscheint fol¬
gende Änderung angeordnet: „Der Priester legt stehend Weihrauch ins
Rauchfaß, inzensiert kniend das Allerheiligste, erhebt sich und nimmt
das Allerheiligste. Dabei wird entweder „SurrexU pastor bonus“ oder
böhmisch „ Vstalf jest" oder deutsch „ Christus ist erstanden“*) gesungen.
Die Breunersche Agende gestattet ein Lied in der Muttersprache,
das erst gesungen wurde, als sich die Prozession vom Heiligen Grabe
*) Rituale seu Agenda Romana-Pragensis 1. pars autoritate archiep. Joannis
Josephi Breuner. (Erzbischof 1694—1710). Prag, Bibi. Strahov sig. A Ch V. 25. vom
Jahre 1700.
*) Panis quotidianus pro consequenda et conservanda vita seu Dei gratia
fidelium animarum et omnium bonorum temporum. Non quidem ad esum, verum ad
usum bonis pastoribus a Josepho Levinsky. Prag bei Hraba 1733.
*) Die Rubrik sagt: Stans (sacerdos) imponit incensum et genuflexus incensat;
tandem surgit et accepto Venerabili Sacramento canitur „Surrexit pastor bonus* vel
boemice „Vstalt jest“ vel germanice „Christus ist erstanden“.
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72
Surgit in hac die
zum Hauptaltar begab; Levinskys Agende geht weiter und ordnet ein
bestimmtes Lied „Vstalt* jest" an, welches dann gesungen werden
kann, wenn der Priester das Allerheiligste aus dem Grabe emporhebt
und in der Hand hält. Wer dies Lied singen soll, ist nicht gesagt; die
Agende sagt nur unbestimmt „canitur".
Am weitesten ging im Gebrauch der böhmischen Sprache bei
der Auferstehung und bei anderen Zeremonien der Zvfkovecer Pfarrer
W. Krolmus Bfezinsky in seiner böhmischen Agende vom Jahre
1848. 1 ) Von Seite 54 an hat er folgende Anordnung für die Prozession
am Karsamstag: Wenn der Priester am Abend mit den Altar-Dienern
beim Grabe Christi kniet, rezitiert er abwechselnd mit dem Chor den
56. Psalm: „Smiluj se" („Erbarme dich“) . . . Dann betet der Priester
böhmisch das „Vaterunser" . . . „Lasset uns beten! Gott, der du
die heiligste Nacht . . .“, er inzensiert das Allerheiligste, steht auf,
nimmt das Allerheiligste, wendet sich zum Volke und singt „ VstaW jest
teto chvile ctnf Vykupitel (oder „svSta Spasitel".*) Das Volk setzt das
Lied fort oder singt abwechselnd mit dem Chor das böhmische „Te Deum.“
Für dieses Lied ist in der Agende keine Melodie. Die Intonation des
Liedes „VstaW jest" durch den Priester, der das Allerheiligste vor der
Prozession vom Heiligen Grabe in den Händen hält, bleibt nach Krolmus
auch in dem bei Kotrba herausgegebenen Rituale wie zu Anfang.
Das ist in Kürze die Entwicklung der Auferstehungsfeier, in welche
heute aus der utraquistischen Liturgie das alte böhmische Lied „Vstalt
jest“ gekommen ist. Ich glaube, daß auch vor Krolmus der katholische
Priester bei dem Emporheben des Allerheiligsten aus dem Heiligen Grabe
dieses Lied intonierte; Krolmus sagt selbst, daß er die Agende nach
alten Mustern (nach Vinc. Zahradnik und Bischof von Leitmeritz, Joseph
Hurdälek 1747—1833) gearbeitet habe. Eine Anerkennung von seiten
der Kirche wurde der Agende von Krolmus nicht zuteil. Die offiziellen
Kreise richteten sich nicht immer nach den angeführten Agenden, durch
die sie eher die Liturgie am Lande regulierten. Der Choralist Joseph
Rullik bei St. Veit am Hradschin widmet dem Erzbischof W. Chlum-
Sansky von Pfestavlk „Liber Intonationum“ vom Jahre 1782. Nach
Seite 66 wird in der heiligen Osternacht bei dem Emporheben des Aller¬
heiligsten (sacra nocte Paschatis ad levationem Sanctisimi intonatur) in¬
toniert: Gloria tibi Trinitas und „Laudem dicite Deo nostro". Die Into¬
nation für das Lied „Vstalt' jest' ist nicht vorgeschrieben.
*) Agenda 6eskä Kf-estanü Katolickych. Prag 1848. Exempl. in Bibi. Strahov
A Ch VIII. 5. Alles ist böhmisch. Krolmus lieg sie nach der Aufhebung der Zensur,
15. März 1848, drucken.
') Kapitel-Bibl. am Hradschin PHdsch.
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Surgit in hac die
73
Schreiten wir zur Geschichte des Liedes selbst! Die bis¬
herigen Angaben und literarischen Nachforschungen nach dem Liede
befriedigen nicht. Karl Konräd preist im I. Teil seiner „Geschichte
des altböhmischen Kirchengesanges" ,*) Seite 61 seine phrygische Ton¬
art, führt die Worte Dr. Witts (Flieg. Blätter für k. Kirchenmusik 1870,
Nro. 11) an, aber die Melodie schöpft er erst aus Steyers Kantionale.*)
Er behauptet, daß das kunstvolle lateinische Lied „Surgit in hac die“
eine Übersetzung des älteren böhmischen „Vstalt* jest“ ist; für diese
Behauptung führt er aber keine Beweise an. — Am eingehendsten,
aber nicht ganz richtig, berichtet über dieses Lied Dreves (Candones
bohaemicae), der den Text des lateinischen Liedes aus der Wittingauer
Hs. A 4 des Oldfich KH2 aus Telö, eines Zeitgenossen Georgs von PodS-
brad transkribiert und anhangsweise die Melodie des lateinischen Liedes
aus dem XV. Jahrhundert mit jener des böhmischen Liedes vergleicht,
das er aber erst aus den Kancionalen der Böhmischen Brüder aus
dem Ende des XVI. Jahrhunderts kennen gelernt, obwohl sich dasselbe
auch in der Wittingauer Hs. befindet. In dieser Melodie aus dem XVI. Jahr¬
hundert erblickt er die Begleitstimme zu einem Lied aus dem XV. Jahr¬
hundert 1 Die Transkription der Melodie stimmt aber mit dem Original
nicht überein.
Problematisch ist auch die geschichtliche Aufzeichnung Balbins
über das böhmische Lied „Vstalt* jest". In „Vita Arnesti", S. 199, wird
erwähnt, wie er die sehr alte Handschrift „über Prosarum et cantuum
Ecclesiae Pragensis" gefunden habe, in der „gratissimi illi auribus cantus
leguntur: Nastal näm den vesety . . . Wstalt* gest t£to chwile . ..."
Aber diese Hs. dürfte nicht aus der Zeit Ernests von Pardubitz,
Erzbischof von Prag, stammen, obschon sie Baibin als „antiquissimo
scripturae genere exaratus (über)" nennt. Aus großer Liebe zu seiner
Sprache ließ sich Baibin hinreißen, alles in die Zeit Ernests zu
verlegen.
Unter den 4 im XIV. Jahrh. in Böhmen gesungenen Liedern ist „Vstalt*
jest" nicht. Prof. Dr. Z. Nejedty schweigt in seiner böhmischen „Geschichte
des vorhussitischen Gesanges" („DSjiny pfedhusitsköho zpSvu") und in
seinem böhmischen Werke „Anfänge des hussitischen Gesanges" („Poöätky
husitskdho zp$vu") über das lateinische Lied „Surgit" und über unser
böhmisches Lied, da er es im XIV. Jahrhunderte und zu Beginn des
XV. Jahrhunderts nicht kennt.
Es gibt also einige Ansichten, die sich widersprechen.
Zu einem richtigen Urteil führen einzig die Notizen in unseren alten
Handschriften. Aus ihnen muß man die Antwort auf die Frage schöpfen,
*) Döjiny posvdtngho zpövu starocösköho, Prag 1882.
*) Kandonäl öesky von Wenzel äteyer S. J. I. Aufl. 1683.
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Surgit in hoc die
ob das lateinische Lied „Surgit in hac die“ und das böhmische „Vstalt'
jest“ zusammengehören und wie alt beide sind. Auf beide Fragen
antwortet die VySehrader Hs., aus der Hälfte des XV. Jahrhunderts
(sign. V. öön). Auf fol. 26* ist der lateinische Text „Surgit in hac
die“ und gleich darnach fol. 27 h das böhmische Lied „Vstalt* jest“,
leider ohne Melodie.
Die gleichzeitige Eintragung beider Texte in derselben Hs. ist ein un¬
trüglicher Beweis, daß beide Lieder in enger Beziehung zueinander stehen
und daß sie im XV. Jahrhundert auch durch ihre Melodie allgemein bekannt
waren, die zu notieren die VySehrader Hs. nicht nötig erachtet, obzwar sie
bei anderen Kantilenen mit der Notierung der Melodie nicht geizt.
Ähnlich führt auch die Sedlöaner Hs. (S.) aus dem Ende des
XV. Jahrhunderts die beiden Texte unmittelbar nacheinander an, leider
wieder ohne Melodien, obwohl der Schreiber das Liniensystem vorbereitet
hatte. Vorne ist das lateinische Lied (fol. 193*) und gleich darnach
(fol. 193 b ) das böhmische. Ähnliche Fälle weist die Hs. mehrere auf.
Schon die äußere Form gibt zu erkennen, daß der Schreiber das
lateinische Lied als Muster für das böhmische wählte. Der lateinische
Text geht dem böhmischen voran, welche Reihenfolge für die Ursprüng¬
lichkeit des ersten Textes spricht. Es ist dies zwar nur ein äußerlicher
Grund, aber doch ein Grund, welcher ahnen läßt, daß das böhmische
Lied den lateinischen Text zum Muster hatte, oder daß es wenigstens
nach dessen Melodie gesungen wurde.
Ich schreibe beide Texte, den lateinischen und den böhmischen,
aus der VySehrader Hs. ab, weil ich glaube, daß darin die älteste Auf¬
zeichnung beider steht; unter dem Striche führe ich die Abweichungen
aus dem Wittingauer 1 ) Cod. (T.), aus der Sedlöaner Hs. (S.), aus dem
FranuS’s *) Kanzional (aus dem Königgrätzer Museum vom Jahre 1505) (F.),
*) Dreves (Cantiones Bohemicae) sagt, die Hs. sei vom Jahre 1459. Nach einer
mQndlichen Angabe des H. Prof. Dr. Nejedl^ ist die Hs. aus der Zeit Georgs von
Podöbrad (1420—1471). Dem H. Prof. dr. Nejedly danke ich hier zugleich für ge¬
fällige Obermittlung, ebenso für seine Anteilnahme an der ganzen Studie; ebenso
den Direktionen der Bibliotheken, aus welchen ich Hss. entliehen habe, weiter dem
H. Kanonikus dr. Podlaha, dem H. Prof. Emil Bezecn^ für gütige Informationen und
für die Übersetzung des Aufsatzes.
*) Eine utraquistische Hs. (Pergament) sign. B 1 367 Blätter, enthält lateinische
Choral-Meöofficien (auch Officium Zawissionis), in schwarzen Choralnoten, mehr¬
stimmige und einstimmige Mensuralgesänge in schwarzer Mensurainotation. Mehrstim¬
mige Nrs. aus dem XV. Jahrh. sind lateinisch, etliche von den einstimmigen Mensuralkan-
tilenen auch böhmisch; sie ist eine der wichtigsten Hss. zur Mensural-Musik
des XV. Jahrhunderts in Böhmen. Ein gewisser Johanes Franui ließ diese Hand¬
schrift auf seine Kosten schreiben. Derselbe hat auch in der jetzigen Kathedral-
Kirche zu KOniggrätz einen Altar bauen lassen, was in der Hs. fol 307 b bemerkt
ist: Anno domini nonis mensis Junii, hoc est ipso die Bonifacii Rewerendus ... do¬
minus Philippus Villanova, Dei et apostolice sedis grada Episcopus Sydonensis altare
Corporis Christi, quod Johanes FranuS struxerat, benedixit et consecravit
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Surgit in hac die
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und aus Prager Museums Hs. sign. XIII. A 2 von 1512 (M.) an; außerdem
bei dem böhmischen Liede führe ich Abweichungen aus der Strahover
Hs. D A III. 17 l ) (D.), welche die Aufzeichnung des Liedes aus dem
XVI. Jahrhunderte enthält, und aus dem Drucke im Prager-Museum sub
sign. 27 C 18, (das nach der Angabe des Museums-Kataloges die geist¬
liche evangelische Lieder von MiHnsky vom Jahre 1522 bringt.)
1. Surgit in hac die
Christus dominus,
sustulitque*) pie
pro hominibus
diram 3 ) mortem trucis,
crucis,
hostis a vinclis spolia
trahens omnia.
Vysehrader Hs. fol.
2. y. Tirannum crudelem
iam superavit,
paradisi portas
met reseravit
thartarea frangens,
4 )solvens,
regna mortis cum $
et victoria.
3. y. *) Corde letabundo
nos alleluia
carmine iocundo
nos alleluia
Christo resonemus,
cantemus
insigni*) simphonia
nunc alleluia.
4; y. Virtutibus plena
prima omnium
cernit magdalena
Christum dominum
potenter surgentem,
^flentem
Christus solatur 8 ) hodie
princeps glorie.
Auf fol. 26 b der Vyäehrader 1
5. y. Limbus atque mundus
plaudant 9 ) dutciter
adamque secundus
nunc feliciter
opere preclaro,
1( 0caro,
salutis, quam promiserat,
viam reserat. 11 )
s. steht das böhmische Lied:
1. W’. Wstal gest teto chwile
cztny wykupitel
zmrtwych geiyss mile 1 *)
swieta spasytel
geni pro hrziechy nasse
rad stasse 13 )
rozpat nakriyiy newinny
nass buoh gediny.
‘) Dr. J. Zahradnfk bezeichnet die Hs. D. A. III. 17 in seinem Kataloge der Stra¬
hover Hss. als ein Missale aus dem XIV. Jahrh., von welchem leider nur einige Blatter
vorhanden sind. Der größere Teil dieser Hs. enthält lateinische und böhmische Lieder
mit Melodien, welche von verschiedener Hand aus dem Ende des XV. und Anfänge des
XVI. Jahrhunderts geschrieben sind. Für die Kulturhistorie sind gerade diese Lieder
wichtig, deren der Katalog keine Erwähnung tut. Die Reste des Kanon sind aus dem
Jahre 1366 „per manus nesdo cuius“; dazu additamenta aus 1399.
*) T. nach Dreves: sustulit qui. S. T. M. haben sustulit que.
*) T. nach Dreves: durarn. 4 ) S. ac solvens. — M. et sotvens.
*) S. T. M. hat y. anstatt Ro. — Strophe Corde letabundo hat verschiedene
Stelle. In T. ist sub Ro. als zweite (Dreves hat sie falsch als 5. Strophe), in S. als
dritte und sechste Strophe sub Ro., in M. sub Ro. als Refrain bei der ersten Strophe.
*) S. T. M. insigni nunc symphonia nos alleluia.
’) S. M. et flentem. •) S. M. solatur.
•) S. M. plaudat. **) S. ac charo.
u ) S. fügt zur 5. Strophe Re. Corde letabundo.
**) S. M. Jeii 1 Kristus mile. **) S. vstdbe. D. stassie.
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Surgit in hac die
2. W. Kdyi geho plakachu 1 )
smrti ieny cztne
marie geni*) stachu
v hrobu truchle
andiel gen4 sediesse
gim*) spiessie
kazal bratrom 4 ) zwiestowati f. 28a
£e wstal buoh swaty. 8 )
3 .IV) Srdecineho hlasu
my alleluja
tohoto my ciasu 7 )
my alleluja
wssyczkny zazpiewayme 8 )
y 9 ) wzdayme
stworzyteli 10 ) wsseho swieta
my alleluja.
marzy 1 *) magdalena
k cztnym apposstolom l *)
promluvi 14 ) k nim mile
te 18 ) chwile
diegicz 1 *) poselstwie angelske
wstal buoh zagiste.
5. W. Geni 17 ) vmrzieti raciyl
xpe 18 ) prony cztny
chtie by sie nezpaciyl lg )
hrziessnik rozliciny
wstaw 70 ) zmrtwych Äaduczy* 1 )
milosti**)
poprziey nam cztneho**) skonanye
hrziechow poznanie.
4. W. Przesslechetna 4ena 6. Ro. Srdecineho hlasu* 4 )
wssedssy k bratrom wuodm 11 ) my ala. ulterius.
Inhaltlich sind beim lateinischen und böhmischen Liede einander
am ähnlichsten die Strophen 1., 3., 4.; am wenigsten die 2. Strophe.
Die diakritische Rechtschreibung des böhmischen Imperfekts pla-
kächu, stächu in der Vyäehrader Hs. läßt sich auf eine ältere Form
schließen als die Sedlßaner Hs. Weil die Einschreibung in die VySeh-
rader Hs. um das Jahr 1450 geschah, kann man den Ursprung des latei¬
nischen und böhmischen Liedes in die erste Hälfte des XV. Jahrhunderts
verlegen, wo diese Form von alten Imperfekten namentlich in der Kir¬
chenpoesie angewendet wurde.
Zu den 5 Strophen aus dem XV. Jahrhunderte kamen im XVI. Jahr¬
hunderte neue dazu. Als Beweis dafür haben wir die Altarbücher Adam
Täborskys (WoltäJnl knihy Adama Taborskyho) und ein in der Prager
Universitäts-Bibliothek sub sign. XVII. B. 7 I. pars Jacobo Codicillo
*) S. M. plakali. T. Tut’jeho plakachu.
*) S. tu stdly.
*) S. tim spuke, was aus dem alten Ad-
verbium spe&e = „Mit Eile" entstanden ist.
4 ) D: bratruom. S. bratrftm. M. bratHm.
*) S. Svo/y. Repe. — S. T. x mrtvfch.
•) S. T. D. hat Ro. anstatt y.
’) T. hat toho nynie atasu.
•) S. sexpivajme.
•) S. T.;my vzdajme.
*°) D. Spasytely. S. Spasiteli.
u ) D. k bratruom w duom. S. kbra-
flim v duom.
**) D. marzii. S. Maria.
u ) D. Appostoluom. S. T. apoktothm.
M ) D. promluwit.
'*) S. z te.
*•) D. diegycz — S. M. zdkjic.
w ) D. Genas.
**) S. M. pro nds Kriste — D. prony
Kriste czny.
**) M. rozpdi.il.
*°) S. vstal.
**) M. s radosti. D. radosty. '
**) M. s milosti.
") D. dobreho.
M ) T. hat ,Repetitio ut supra * anstatt
der ganzen Strophe,
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Surgit in hac die
77
von 1586 utraquistisches Kantional. 1 ) In beiden Hss. hat das Lied
11 Strophen. Die Strophen 6.—11. haben geringeren Wert als die ersten
Strophen; sie sind auch späteren Ursprungs. Der lateinische und böh¬
mische Text ist ein künstlicher, keine Volkspoesie, und in den einzelnen
Hss. verschieden, wie aus dem folgenden Schema ersichtlich ist.
• Surgit in hac die.
V.
T.
S.
1. y. Surgit
1. y. Surgit mit Ro. Corde
1. y. Surgit
2. y. Tirannum
2. y. Tyrannum
2. y. Tirannum
3. y. Corde
3. y. Virtutibus
3. Ro. Corde
4. y. Virtutibus
4. Limbus.
4. y. Virtutibus
5. y. Limbus.
5. y. Limbus
6. Ro. Corde.
3.=6.
V.
1. Vstal
2. V. Kdyi jeho
3. y. Srde&ntho hlasu
M. 1. Surgit mit Ro. Corde
2. Tirannum
3. Virtutibus
4. Limbus.
Vstatt* jest t£to chvfle.
T.
1. Vstal 1.
2. y. Tut’ jeho pl. 2.
3. Ro. Srdeine'ho hlasu 3.
4. y. PfeSlechetnä iena 4. y. PfeSlechetnä 4.
5. y. Jeni umfr'ti 5. Jeni umHti 5.
6. Ro. Srdebniho hlasu 6. Repetitio ut supra. 6.
3. = 6.
D. S.
Vstal
Kdyi jeho
Ro. Srdefsniho
PfeSlechetnä
Jeni umfiti
Ro. Srdeüne'ho
3.=6.
I.
II.
Mus., Druck aj C 18 , ohne Noten*) (C.)
1. Vstalf 4. PfeSlechetnä iena
2. Kdyi jeho 5. Jeni umftti
3. Ro. Srdebniho hlasu 6. Ro. Srdetneho hlasu.
3. = 6.
Das lateinische Lied nach T. und M. hat eigentlich 4 Strophen und
den Refrain:*) Corde letabundo, der nach jeder Strophe wiederholt wird.
Der Refrain ist in beiden Hss. angeführt unter dem Zeichen Ro., d. h.
*) Daß das Kantional wirklich utraquistischen Ursprungs ist, führt den Beweis
der IV. Teil sub sign. XVII. B. 7. desselben, wo erwähnt wird, daß die Litanei: u Mit$
Hospodine, uslyk nds * vom utraquistischen Konsistorium vorgeschrieben wurde.
*) Hat die Inschrift: »Wie Surgit in hac die“.
*) In der Hs. M. aus 1572 ist eine ganze Reihe von „canciones“ mit einem Re¬
frain. Z. B.: Jubilo cum carmine — veneremur hodie — factorem gendum Ro. o
lucema gencium.
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78
Surgit in hac die
repetitio. Die Wittingauer Hs. hat für den Refrain keine eigentliche
Melodie; die M. Hs. kennt bloß einen Teil davon; die Melodie des Re¬
frains weicht von der Melodie der übrigen Strophen ab.
In der Sedlöaner Hs. ist eine dreiteilige 1 ) Form von 2 Strophen
für den lateinischen Text. Ro. (Corde letabundo) ist an 3. und 6. Stelle,
oder die 3. Strophe gleicht der 6. Strophe. Die erste Strophe ent¬
hielt 3 Teile, und zwar 2 Verse (V. Surgit . . . y. Tirranum) und Ro.
Corde... — Die zweite Strophe hatte auch 2 Verse (y. Virtutibus ...
y. Limbus) und wieder Ro. Corde . . .
Das Zeichen Ro. hat hier eine ursprüngliche und eine übertragene
Bedeutung.*) Da es zwischen dem 2. und 3. Teile geschrieben wird,
verlangt der 2. Vers nach der Melodie des ersten gesungen zu werden
und zeigt an, daß der dritte Teil, auch Ro. (repetitio), in beiden Strophen
melodisch und textlich gleich ist. Nach der M. Hs. ist also das Ro.
Corde letabundo ein Schlußgesang.
Die Form der lateinischen Eintragung in der VySehrader Hs. (V.)
ist problematisch. Mit der Form des böhmischen Liedes aus derselben
Hs. verglichen, ist das lateinische Lied bloß strophisch, ohne Refrain.
— Corde letabundo ist der 3. Vers (y.). Man kann aber annehmen, daß
im lateinischen Text das Ende Ro. Corde letabundo für den 5. y. Lim¬
bus . . . gehalten wird. Dann würde von der VySehrader Eintragung
dasselbe gelten wie von der Sedlöaner; auch da wären dreiteilige Strophen.
Das böhmische Lied „Vstalt’ jest“ hat gemäß V. T. S. D. und C.
eine dreiteilige Form. Ro. Srdebneho hlasu wird als dritter Teil zu Ende
der beiden Strophen wiederholt. Leider sind in den Hss. keine Melo¬
dien, die eine sichere Aufklärung geben würden.
Aus dem XV. Jahrhunderte (Hs. T.) ist bloß die Melodie für das latei¬
nische Lied bekannt. Dreves umschreibt sie in „Canciones Bohemicae“,
S. 200, aber diese Umschreibung zeigt nicht genau die Mensur der Melodien
an. Darum führe ich gemäß der Mitteilung des k. Prof. Dr. Z. Nejedly die
Melodie im Original an (Wittingauer Hs. sign. A 4. fol. 393*).
,.. , ^
Sur-git in hac di - e Christus do-mi-nus, su-slu-lit-aue pi - e pro ho-mi¬
• ♦
di - ram mor-tem cru-cis, tru-cis, hos-tis a vin-clis s|>o- ti - a tra-hens o-mni-a.
R*Corde
letabunda
') Ober die Form der böhm. alten Lieder vide „Poüätky zpivu husitsklho* von
Dr. Z. Neiediy, Seite 303.
*) Uber die Bedeutung des Ro. siehe das Buch von Hofrat Prof. dr. Hostinsky:
„J. Blahoslav u. J. Josquin“ 1896, S. 111. —
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Surgit in hac die
79
Diese Melodie ist sicher die ursprüngliche und wurde mit unbe¬
deutenden Veränderungen in der Mensur auch zu Beginn des XVI. Jahr¬
hunderts gesungen, was die wichtigste und schon angeführte Hs. Fra-
nuS’s v. J. 1505 sign. B. 1. fol. 273* bezeugt, in der die Melodie auf
einem 5-linigen System ohne Schlüssel und ohne Angabe des Taktes
aufgezeichnet ist Die Eintragung FranuSs ist folgende:
Sur - git in hac di - e chri-stus do - mi - nus, su - stu-
- Ut - aue pi - e pro ho - mi - ni - bus di - ram mor - tem
cru - cis, tru - cis, hos - tia a vin -clis spo - U
_^
_ 1 _ 1
:
1
__ 1 _ A
__^
- # — 11
<1 T
tra - hens o mni - 4
Die Eintragung FranuSs vermißt die Melodie für Ro., für den
Refrain. Daraus folgt, daß dieses Kantional für die strophische Form
spricht. Der Refrain wurde erst in der M-(Prager Museum XIII. A 2
fol. 190*) Hs. von 1512 auch mit Noten eingetragen. Das ganze Lied
klingt nach dieser späteren Notation folgendermaßen:
C ♦ -* ±
Sur - git in hac di - e xpus do - mi - nus
su - stu-lit - aue pi - e pro ho - mi - ni - bus di - ram mor-tem cru-
- ci$ # tr;u - ci$ # hos - tis a vin - clis
spo - li - a.
tra - hens
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80
Surgit in hac die
1
El
V
o - mm - a
1 ■ * * » 1 l j i —
R? Cor - de le - ta bun - do nos al - Le -
-x - M. # 1 - m - " - m—
i ■ —
r 'wmm
1 r 1 1 II
- lu - ia, car- mi - ne io - cun - do nos al - l« - lu - ia xpo re -
-sonemus, cantemus insigni nunc symphonja alla.
Da im Original eine ziemlich häufige Veränderung des Schlüssels
stattfindet, folgt die Transkription in die moderne Notenschrift, in der
die Melodie Allabrevetakt hat.
Prager-Mus. XIII. A2 fol. 190ab von 1512.
Sur-git in hac di - e Chri-stus Do - mi-nus, sus-tu - lit-que pi - e
Im R. ertönt (h h d d e h = carmine iocundo) der Anfang des
Rorateliedes 1 ) „Titot jsou dnov6, v nichäto päm sluSf bdfti" (eine
Kantilene als Interpolation des syllabisch getragenen Choral-Alleluja am
Montag) und das Lied der Böhmischen Brüder „Vstoupenf Kristovo
pamatujme“. Ähnlich begann auch ein Lied „o kräli Matyääovi (Vom
König MatyäS), wie die an Marginalien sehr reiche und wichtige Stra-
hover Hs. bezeugt. Schade, daß die Melodie für Ro. nicht beendet ist.
Zu Beginn des XVI. Jahrhunderts war sie scheinbar allgemein bekannt.
') Roramina oder Roratelieder wurden im XV. Jahrh. in Böhmen lateinisch
gesungen; es waren Choralmelodien mit mensurierten Kantilenen. Die Redaktion der
böhmischen Roratelieder stammt erst aus der Hälfte des XVI. Jahrhunderts und ist
utraquistischen Ursprungs; sie enthält für einen Tag der Woche ein selbstän¬
diges Offizium. Der Choralgesang ist syllabisch und mit Trophen und mensurierten
Kantilenen, oft weltlichen Ursprungs, interpoliert Jeden Tag hat man den Introitus,
Graduale, Alleluia, eine Prosa (Sequenz), ein Patrem, Sanctus und Benedictus im
XVI. Jahrh. böhmisch mit genannten Interpolationen gesungen. Die Hss. haben ver¬
schiedene Varianten und Offizien. Die wichtigsten Handschriften mit böhmischen
Rorateliedem sind in Neu-KOniggrätz vom J. 1581, in KOniggrätz vom J. 1585, in Daäic
vom J. 1612, in Roudnic (Ende XVI. Jahrh.), Strahov u. a.
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Surgit ln hac die
81
FQr die Geschichte des böhmischen Liedes ist es wichtig, zu
wissen, nach welcher Melodie das böhmische „Vstalt* jest t6to chvfle“
gesungen wurde. Wenn dieses (böhmische) Lied irgendwie mit dem latei¬
nischen „Surgit“ zusammenhangt, muß sich dies auch in der Melodie
zeigen. In den Kantionalen der Böhmischen Brüder finden wir bei dem
„Vstalf jest“ zwar die Überschrift „Surgit in hac die“, doch bedeutet
das nichts weiter, als daß das böhmische Lied aus dem lateinischen ent¬
standen ist. Seine Melodie unterscheidet sich von der dort angeführten
Melodie des lateinischen Liedes; nur der Anfang ist der gleiche.
Wir wollen aber indessen den direkten Beweis liefern, daß das
„Vstalf jest“ wirklich so gesungen wurde wie das „Surgit“. Und diesen
Beweis liefern uns zwei Hss., und zwar die Tenorstimme mehrstim¬
miger Kompositionen im Bezirksmuseum in Sedlöan und weiter
das Beneschauer Kantional 1 ) im Prager Konservatorium fol. 96 b , 97*.
Da ich bereits eine andere Hs. aus Sedlöan zitiert habe, und keine der¬
selben eine Signatur trägt, so will ich, um Mißverständnisse zu vermei¬
den, kurz den Inhalt der neuen Quelle*) anführen. Auch der teilweise
Index der bisher unbekannten Hs. wird jenen willkommen sein, die sich
um die Kompositionen und Komponisten auf dem Gebiete des mehrstim¬
migen Gesanges im XVI. Jahrhundert in Böhmen interessieren.
') Das Beneschauer Kantionale aus dem Ende des XVI. Jahrhunderts enthält beide
Melodien, die altere (fol. 96b und 97*), welche mit der Melodie des „Surgit“ identisch
ist, und die jüngere (fol. 95), welche mit der Melodie in den Drucken der Böhmischen
Brüder gleich klingt
*) Die Handschrift ist ohne Signatur, 30 cm hoch, 20 cm breit mit dem Jahre
1598. Inhalt: Mehrstimmige Offizia und Motetten mit dem böhmischen Texte. Im Me߬
offizium ist der Introitus, Kyrie, Alleluia, Prosa, Patrem, Sanctus und Benedictus. Die
schwarz notierte Choralmelodie ist interpoliert mit Mensural-Kantilenen aus verschie¬
denen Zeiten des Kirchenjahres. Die Kantilenen sind mit weißer Mensurainotation
geschrieben. Im Sedlöaner Museum ist nur Tenor und Alt aufbewahrt. Aus beiden
Stimmen ist ersichtlich, daß die Kantilenen in einer sehr reichen Polyphonie komponiert
wurden. Eine ähnliche Mischung vom rhythmischen Choral mit mensurierter einstim¬
miger Kantilene enthalt auch ein Liederbuch vom Priester Tobias Zävorka von 1602.
(Plsne chval boäk^ch knöze TobiäSe Zävorky.) Es kommt in der Sedläaner Hs. oft¬
mals vor, daß die Choralmelodie im Tenor mit einer mensurierten Melodie im Alt
harmonisiert wird; es sind das also Kompositionen „supra librum“. Unter an¬
derem enthalt die Hs.:
No. 7. Off. dedicationis templi 5 vocum a Joanne Alauda Klattovio; — N. 8.
Off. Resurrectionis Ch. a Traiano Turnovino; — N. 10. Off. Trinitatis. Introitus
J. Trajanus fecit 1580; — N. II. Off. Dedicationis templi J. T. Turnovino. (Pa¬
trem fecit 1580.) — En virgo parit Christum (der einzige lateinische Text in der
ganzen Hs.). — N. 17. Patrem. „Re re fa mi la sol fa“ a. Andreas Ch. Gevicenus;
— N. 18. Motetto Nativitatis a. Georgius Richnovinus 1573; — N. 19. Patrem „Re
re fa mi re* a. Ioan. Simonides Montanus; — N. 32. Off. 5 vocum in aurora
D. N. J. Ch. a J. T. Turnovino ... — Seite 320. Patrem Quadragesimale Pauli
Spongopaei Gistebniceni.
(Am Ende dieses „Patrem“ im Alt ist die Jahreszahl 1608.) Von Seite 322—389
sind additamenta ohne Notation und aus einer jüngeren Zeit —
Ktrebeamaflc. Jahrbuch. 23. Jahrg. 6
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82
Surgit in hac die
Diese Hs. weist ein Kyrie (I.) für die Osterzeit „Parte Bote Stvofi-
teli" auf im Choralrhythmus, vermischt mit mensurierten Kantilenen; für
das „Vstalt’ jest“ findet sich im Tenor derselbe cantus firmus, wie der im
XV. Jahrhunderte zum lateinischen Liede „Surgit“ gebrauchte. Wie schon
bemerkt, steht außer dem Tenor in Sedlöan nur der Alt; die übrigen
Stimmbände sind verloren gegangen. In der Prager Universitäts-Biblio¬
thek befindet sich sub. sign. XVII. B. 16. vom Jahre 1586 1 ) der Diskant,
der zu den in Sedlöan enthaltenen Stimmen gehört Es ist wichtig,
diesen Fund zu konstatieren, um eine Nachforschung nach der Ba߬
stimme anzuregen, wodurch eine Ergänzung der angeführten Kompo¬
sitionen ermöglicht und damit ein Einblick in das Schaffen der Meister
jener Zeit gewonnen würde.
Obgleich es sich in dieser Studie in erster Linie um den cantus
firmus des Liedes „Vstalt* jest“ handelt, so lasse ich doch die enthal¬
tenen Stimmen in moderner Übertragung folgen, zum Beweis, daß die
Sedlöaner und Prager Univ. Hs. sich gegenseitig ergänzen. Nur so ist
zu erklären, daß die Hs. aus dem Jahre 1586 durch die Stimmen aus
dem Jahre 1592 ergänzt werden können.
Diskantus aus der Prager Univ. Hs. XVII. B.*) 16. fol. 151 b . Alt
und Tenor aus der Sedlöaner Hs.:
Vstalt jest tö-to chvl - Ie ctttf Vy-ku-pi - tel Je - iß Kri-stus
Sop.
AU
Ten.
* f r rrfjp f f Hjr
Vstalt jest tö-to chvi - le ctny Vy-ku-pi - - tel Je-iiä Kri-stus
J J il st J i ilj _ J 1 ii
9*45------ \ -—;--
(£=
Vstalt jest tö-to chvi - le ctny Vy-ku-pi - tel Je-iiS Kri-stus
mi - le svö - ta Spa - si - tel, jeni pro hH-chy na-öe
ffrmf
mi - - le svö - ta Spa - si • tel. jeni pro hH-chy na-öe
iJ-J-J Jj 1 | 1 j I ,
rsr~ -- f jL.J. = j J » J- J
mi - - le svö - ta Spa - si • tel, jeni pro hH-chy na - Se
l ) Stammt aus Beneschau, der Autor heißt: „Waczlaw Rzernik Kolarzowicz.
*) Im Original is weiße Mensurainotation. Die Komposition fängt mit dem
Durklange auf der VI. Stufe des phrygischen Modus an.
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Surgit in hac die
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räd vstä * 6e roz-pat na kW • Ii ne - vin - n£, näß B&h
räd vstal jest roz • pat na ItiH - - ii ne • vin - nj\ nää Büh
je - di - nf.
je - di - n^.
Zur Melodie der Sedlßaner Hs. muß noch bemerkt werden, daß
sich darin keine besonderen Noten fQr Ro. (Repetitio) befinden; sie ist
also ein Beweis, daß es sich um ein strophisches Lied handelt
Dieselbe ältere Melodie, welche mit jener des ursprünglichen „Sur¬
git" übereinstimmt, findet sich, wie schon bemerkt, auch im Bene-
schauer Kantional fol. 96. Sie bietet Gewähr für den inneren Zusam¬
menhang des lateinischen „Surgit" und des böhmischen „Vstalf jest"
und ist als dritte Stimme eines 4stimmigen Männerchores angeführt,
der leider ohne kühne Konjekturen nicht zu reproduzieren ist, da im
Manuskripte viele Notenköpfe undeutlich sind und ganze Stellen fehlen.
Die Kantionale der Böhmischen Brüder aus dem XVI. Jahrhunderte
kannten auch diese ursprüngliche, dem böhmischen und lateinischen
Liede gemeinsame Melodie; sie unterlegten derselben einen anderen Text
und versahen das eigentliche Lied, „Vstalf jest" mit einer anderen,
jetzt üblichen Melodie. Durch Vertauschung der Melodien versuchten
die Utraquisten wissentlich die bestehende Tradition zu ändern. Es ge¬
schah dies übrigens auch bei anderen Liedern. Die „geistlichen evan¬
gelischen Lieder" aus dem Jahre 1594 (Plsnö duchovni evangelistskd),
S. 53, verlangen zur Melodie des alten „Surgit" nicht den Text „Vstalf
jest", sondern die Worte des Liedes: „Pan Je 2/8 pokt&eni rcüsil trpeti
od ddbla ttyticet dm a se postiti" zu singen. 1 )
*) Auch die Melodie des deutschen Liedes »Ave Maria, gegrüßt seyst du von
mir* zeigt große Ähnlichkeit mit der Singweise „Surgit in hac die*. (Bäumker,
Schlußband, Seite 324, 8).
6 *
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Surgit in hac die
Es läßt sich also behaupten, daß diese Lieder „Surgit in hac die"
und „Vstalf jest" ursprünglich nach der in der Wittingauer H. A. 7,
in der Königgrätzer Hs. aus 1505, fol. 273* und Prager Mus. befindlichen
Hs. (sign. XIII. A. 2. fol. 190*) aus 1512 gesungen wurden. Vorlage für
das böhmische Lied wäre also das lateinische. In den ältesten Nieder¬
schriften finden wir überall die gleiche Strophenzahl, der lateinische Text
ist dem böhmischen vorangestellt, nicht umgekehrt. Die Worte „Corde
letabundo" sind direkt wörtlich übersetzt durch: „Srdeönlho hlasu".
Die älteste bekannte Melodie hat eine lateinische und nicht böh¬
mische Textunterlage. Überall finden wir bezeichnet, daß das „Vstalt’
jest" so gesungen wird, wie das „Surgit" und nicht umgekehrt.
Erst im XVI. Jahrhunderte existiert neben der beiden Texten gemein¬
samen Melodie eine andere für den böhmischen Text. Damit fällt
die Hypothese Konräds, daß das lateinische Lied eine Übersetzung des
böhmischen sei. Die zweite, spätere Melodie zum böhmischen Text „Vstalt’
jest" lautet in dem Bömischbroder Kanzional folgendermaßen:
Böhmisch Broder Kantional. Druck. Prager Museum, sign. 27. A.
13* fol. 125*.
-.
-
- 3
T=nr~
. ..
m — r .
-fl”
— 1 —
1 ■-
Vstalt jest tÄ - to chvl - le ctny Vy - ku - pi - tel, Je-215 Kri-stus mi • le
JW 2 - f—f—r
f— f ~f~
r=i i -j i i J i r f
rj__
--4-- 1-—1—
EE
svö-ta Spa - si - tel, jen* pro hH-chy na - Se on stä - Se roz-pat na kH-
- 4^ -
rT\
|-
•f
äi, ne - vin
- ny, näS Bfth
je - di - n£.
Es wurde bereits hervorgehoben, daß neben der ersten Melodie
im XVI. Jahrhunderte auch diese zweite verwendet wurde. Ein interes¬
santer Beweis dafür ist die erwähnte Tenorstimme aus dem Museum in
SedlEan, wo in Nr. 4. in die Osterprose „Nu2 velikonoöni chvälu“ nach
dem Choralanfange auch die zweite, jetzt gebräuchlichere Melodie mit
dem Text „Vstalt' jest" eingelegt ist. Also befinden sich in derselben
Hs. beide Melodien zu demselben Text wie im Beneschauer Kantional.
Zweifellos weicht die zweite Melodie von der ersten ab, ist phry-
gisch transponiert und endigt ungewohnterweise mit der oberen Oktave.
Mit Rücksicht auf diese Art des Schlusses vermutet Dreves, die zweite
Melodie könnte eine harmonische Begleitstimme zur ersten sein und mit
derselben ein Organum bilden. Diese Vermutung ist aber schwer zu
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Surgit in tue die
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stützen. Eher scheint es, daß die zweite Melodie eine selbständige
Variante zur ersten Melodie bildet. Die ursprüngliche Melodie war
wegen ihrer Originalität so einschmeichelnd, daß sie modifiziert zu
allem möglichen gesungen wurde; namentlich ihren Anfang finden wir
in zahlreichen Liedern.
ln den Ro raten des XVI. Jahrhunderts begann ein Lied heiteren
Genres: „Coi byl Adam ztratil skrz jabka jedem“ in ganz gleicher Weise.
Ähnlich begann auch, wie schon ausgeführt worden ist, das Roratelied:
„Titot jsou dnovd, o nicMto näm sluSi bditi“ im Montagsalleluja. Gleichen
Anfang hatten auch folgende lateinischen Lieder: „Summi increati
Patris eterni“, 1 ) „Manus sancti Thomae palpant Dominum“,*) „Ergo im-
perator supreme“, „Vale imperatrix celica“, 1 ) „Eya imperatrix supreme
te collaudant“. 4 ) Ähnlich begann auch in der Kunwalder Hs. von 1576.
fol. C. IX. mit der Überschrift: „Vstoupenf Kristovo pamatujme“ zum
Texte: „Po zmrtv^chvstäni PänS ötyficäty den . . .“ und. auch in der
Prager Mus. H. XII. F. 14 fol. 219a, (Das Kantionale von Jistebnitz):
„Zdräwa cizsarzowno, wssie cznosti“.
In welchen Drucken das Lied „Vstalf jest“ mit der zweiten Melo¬
die erscheint, ist anzuführen 5 ) nicht notwendig. Eher dürfte es interes¬
sieren, daß dieselbe in der Hs. des Museums in Täbor aus dem Jahre 1582
fol. 257ab mit 5 (allen) Strophen—transponiert mit b erscheint, obzwar
sie das b bloß voraussetzt. Die Hs. in Rakovnik „numero secundo“
aus 1594 fol. XIII b interpoliert mit der jüngeren Leseart das chorale
„Gloria“ beim Auferstehungsfeste des Herrn und unterlegt die siebente
Strophe aus dem Liede „Vstalf jest
Die Melodie steht bald in der Originaltonart, bald ist sie mit 1 b
transponiert. So transponiert beispielsweise die Königgrätzer Hs. sign. 135
fol. 233* von 1599 bei der Überschrift „Surgit in hac die“:
Vstalt jest te - to chvi • le
') Königgrätzer H. B 4; Prager Univ. H. VIC 20a S. D 17; Königgrätzer H. B 11 p.4.
*) Königgrätzer H. B 11, fol. 5 und Prager Univ. Druck 46 E, 224 Q2 autore
N. Vodniano.
*) Franuäs Kanzionale (Königgrätzer Mus. B 1 fol. 261 aus 1505). Eine ähn¬
liche Melodie ist schon in der Vy&ehrader H. aus der Hälfte des XV. Jahrhunderts
fol. 48* zu demselben Texte.
4 ) Königgrätzer H. Nr. 15 fol. 23».
*) Hytnnologia bohemica von J. Jireöek 1878 S. 82 zitiert Liber prosarum et hymn.
(nach Baibin), 1522. 1531.1559. 1561. Täb. Ol. 1601. Hl. 1615. 1659. SV. Kan. 232 Cith. —
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86
Surgit in hac die
Der jüngere cantus firmus hat ebenfalls verschiedene Varianten.
Man gebraucht diese Melodie als Tenor für mehrstimmige Kompositionen,
in denen dieselbe zugunsten harmonischer Kombinationen öfter Verän¬
derungen erfordert. Die Terzensprünge (bei dem Worte „mile“) erschei¬
nen zur Erleichterung der Intonation mit Hilfsnoten ausgefüllt Einen
nach dieser Richtung interessanten Cantus firmus bringt in der dritten
Stimme die Beneschauer Hs. des Prager Konservatoriums fol. 95*» und
96* aus dem Ende des XVI. Jahrhunderts. Die Komposition ist „ad pares
voces" gedacht für einen 4 stimmigen Knabenchor (3 Cantus, 1 Altus),
da die oberen drei Stimmen im Diskantschlüssel auf der 1. Linie, die
4. Stimme im Mezzosopranschlüssel notiert ist. Die Benennung der
Stimmen fehlt in der Hs.; der unbekannte Autor gibt nicht einmal an,
für welchen Chor die Komposition bestimmt sei. Doch spricht die
niedrige Stellung der C-Schlüssel für den Knabenchor.
Prager Konservatorium, H. fol. 95. 96.
*i,. tte - vm*«y., «ää pan je r rii'i\v, n4S pjfttje d{ - ny
Das erste Motiv kommt imitatorisch in allen Stimmen vor; dieselben
kreuzen sich öfters. Der Text erscheint nicht genau unterlegt; unter
der ersten Stimme befindet sich im Original Strophe 1, unter der zweiten
Sp
±±-T
ne r vio
• -s
■m p m
r .i'"
' di - (iv.
Surgit in hac die
Stimme Strophe 2, unter der dritten Stimme Strophe 3, unter der vierten
Stimme Strophe 4. Die übrigen 5 Strophen folgen der vierten. Die von
mir gewählte Textunterlegung der ersten Strophe ist also subjektiv.
Die Übertragung der Noten ist — von den verdorbenen Stellen abge¬
sehen — nicht schwierig; komplizierte Ligaturen kommen überhaupt
nicht vor, die Stimmen sind untereinander gesetzt. Im Tenor ist der
kleine Terzensprung bei dem Worte „mile“ durch eine Hilfsnote ausge¬
füllt. Ganz analog geht Holan Rovensky in der „Königlichen Kapelle"
(Kaple Krälovskä, Druck aus dem Jahre 1683) vor, der ebenfalls den
kleinen Terzsprung bei „Kristus mile " „a—fis“ und „rdd vsta&e“ „g—e“
durch ein „g“ bezw. „fis“ ausfüllt.
m
3 =
Je - ilS Kri - stus mi - le
räd vstä - Se
Gröbere Intervalle erscheinen also durch Hilfenoten ausgefüllt; im
Laufe der Zeit verschwindet die charakteristische Kirchentonart, man
macht dem Volke, das den Kern der Melodie mit Zutaten umgibt und
sich die Intonation erleichtert, manche Konzessionen. Einen ähnlichen
Prozeß können wir übrigens beinahe bei allen Kirchenliedern beobachten.
Darin liegt die Entwicklung einer jeden lebenden Melodie, welche dabei
leider des öftem ihre charakteristische Schönheit einbüßt.
Über Entstehung der zweiten, im XVI. Jahrhundert ausschließlich ge¬
brauchten Melodie zudem böhmischen Liede „Vstalfjest“ sagt Dreves
(Cantiones Bohemicae pag. 141 Anm.), sie sei eigentlich eine harmonische
Stimme zum cantus firmus des lateinischen Liedes: „Surgit in hac die“. Er
führt für seine Hypothese folgende Gründe an: 1. Die Melodie des latei¬
nischen Liedes schließt mit der Finale der Tonart. 2. Das böhmische
Lied überschreitet zweimal mit der oberen Septime den Ambitus des
phrygischen Modus und die Stimmführung bei den Worten: „na kfläi
und nevinny“ macht den Eindruck einer Begleitstimme. 3. Die Melodie des
lateinischen Liedes ist ausdrucksvoller und bei den Worten „ Duram ! l )
mortem crucis“ geradezu malerisch schön.
Dagegen lassen sich aber andere Gründe anführen, die dafür spre¬
chen, daß das böhmische Lied eine selbständige Variante des latei¬
nischen Liedes und nicht eine harmonische Begleitstimme zu demselben ist
Das lateinische Lied ist dreiteilig, das böhmische (zweite, jüngere
Melodie) einfach strophisch. Von diesem Umstand hatte Dreves keine
Kenntnis, da er die böhmische Niederschrift weder in der Wittingauer
noch in der Museums Hs. XIII. A 2. herangezogen hat. Ihn hätte jedoch
darauf die Bemerkung Ro. (Repetitio) aufmerksam machen können, die
*) gut „diram*.
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Surgit in hac die
89
sich in der Wittingauer Hs. beim lateinischen Texte des Liedes befindet
Das lateinische Lied hat einen Refrain, das böhmische nicht. Ich fand
nirgends einen Anhaltspunkt dafür, daß die Melodie des böhmischen Liedes
eine Begleitstimme zum lateinischen wäre.
Die Septime ist in der zweistimmigen Komposition des XV. Jahrh.
kein verbotenes harmonisches Intervall, aber es ist nicht wohl zu denken,
daß im Organum sich eine Parallelfortschreitung von der Oktave zur
Septime finden könnte.
oder:
na - de on nevinttf näö B&h
In der Sedlßaner und Beneschauer Hs. benützt der Komponist bei
mehrstimmigen Kompositionen als Tenor entweder die Choralmelodie
oder mensurierte Liedermelodien. Es läßt sich nicht behaupten, daß er
eine Begleitstimme in der Kantilene zum cantus firmus erhoben, und er
hat gewiß auch bei dem Liede „Vstalf jest“ keine Ausnahme gemacht.
Ferner unterlegt er der ursprünglichen Melodie des lateinischen Liedes
„Surgit“, sowie der zweiten, in den Drucken der böhmischen Brüder
erscheinenden Melodie, den gleichen böhmischen Text; damit zeigt er,
daß er beide Melodien als selbständige betrachtet und nicht etwa die
zweite als Begleitstimme der ersten.
Die zweite Melodie findet sich übrigens im XV. Jahrhundert gar
nicht, ebensowenig ein Organum, in welchem beide harmonisch vereinigt
wären. Auch erscheint die zweite Melodie nirgends mit lateinischem Text
versehen, was doch der Fall sein müßte, wenn sie als vox superior zum
Tenor des lateinischen Liedes angesehen werden soll.
Die Kantionalien der Böhmischen Brüder kennen beide Gesangsweisen
und verwenden dieselben zu verschiedenen böhmischen Liedern; sie
konnten auch den Ursprung beider kennen, sowie den jüngeren Datum's
der zweiten Melodie. Es ist zwar richtig, daß die Begleitstimme öfter
als cantus firmus aufgefaßt wurde, doch liegen dafür in unserem Falle
keine Beweise vor.
Daß die zweite Melodie über die Oktave des Finaltons hinausgeht,
ist kein Grund dafür, sie als harmonische Stimme anzufassen. Es würde
zu weit führen, alle selbständigen Melodien des XV. und XVI. Jahrhunderts
namhaft zu machen, deren Ambitus die Oktave des Finaltones über¬
schreiten. In den Kantilenen der „Roramina“ gibt es hiefür Beispiele
genug. Es seien nur erwähnt „Telkost vt&nou“, „Ke cti chväle, Krista
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Surgit in hat die
9 »
kr die“, „Ad honorem et decorem“, „Vadejmet chvdlu“ etc. In allen
diesen überschreitet der cantus firmus die Oktave des Finaltones.
Eine jede Melodie steht im Tonus authenticus (perf., imperf. oder
plusquamperf.), wenn sie mindestens die Obersext, höchstens die Ober¬
none erreicht und nach der Tiefe zu die Finalis um einen Ton über¬
schreitet. Die Melodie des „Vstalt* jest“ in der zweiten Fassung steht
im Tonus phryg. plusquamperfectus. Es ist also nicht notwendig zur
Hypothese zu greifen, diese Melodie sei eine Begleitstimme des ursprüng¬
lichen lateinischen Liedes; das wäre nur dann der Fall, wenn sich dieses
handschriftlich belegen liebe, was aber hier nicht zutrifft. Überall wird nur
gesagt, das böhmische Lied werde so gesungen wie das lateinische und
nicht umgekehrt. Die Tradition vindiziert dem lateinischen Lied die Origi¬
nalität und zwar sowohl in bezug auf die Melodie als auf den Text
Die zweite Melodie des böhmischen Liedes wurde auch als vierstimmige
Homophonie bearbeitet. Den Beweis hiefür bietet das Kantionale des
Andreas Kopydlansk^ aus dem XVII. Jahrhundert (Eigentum der
S. Martin Dechantkirche zu Sedlöan) S. 258. 259., welches eine Reihe
mehrstimmiger Kompositionen verschiedenen Datums enthält:
Wie verschieden ist diese Bearbeitung von der polyphonen des
Beneschauer Kantionais!
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Snrgit in hie die
91
Das Lied „Vstalt’ est“ und seine Quelle „Surgit in hac die" sind
nach der textlichen Seite aus den Hs. des XV. Jahrhunderts bekannt
Das böhmische Lied hat eine doppelte Melodie, die eine stimmt
mit der des lateinischen Liedes überein, die andere scheint eine selb¬
ständige Variante der ersten zu sein. Die erste Sangweise ist origineller,
die zweite behauptete aber das Feld und nach ihr wurde und wird aus¬
schließlich das Lied „Vstalt* jest“ gesungen. Die Originalmelodie ver¬
wendete man schon im XVI. Jahrhunderte zu einem anderen Text. In
die Auferstehungsfeier wurde die Melodie als volkstümliches Element
von den Utraquisten des XVI. Jahrhunderts aufgenommen. Die appro¬
bierten katholischen Ritualbücher des XVII. Jahrh. erlauben das Singen
derselben erst nach Beendigung der liturgischen Zeremonien; die pri¬
vaten katholischen Agenden stellen sie in den Mittelpunkt der ganzen
Feierlichkeit, bei welcher der Priester ebenso logisch als unliturgisch
das „Vstalt* jest“ intoniert. Es wird immer, ob Original oder Nachbil¬
dung einer lateinischen Vorlage durch seinen Mensuralcharakter ein Be¬
weis für den Fortschritt des Volksgesanges in Böhmen bleiben und es
wird den Prinzipien des katholischen Ritus nicht widersprechen, wenn
der Priester nach amtlicher Approbation beim Heiligen Grabe zuerst
das „Vstalt* jest teto chvfle ctn^ Vykupitel“ intoniert und dann erst mit
dem Ostensorium in der Hand in der Prozession zum Hauptaltare schreitet
Beilage
Zur Übersicht folgt der ganze katholische Ritus aus dem Obsequiale
vom Jahre 1585. Der utraquistische böhmische Ritus am Ende des XVI. Jahr¬
hunderts, wie er in Täborsk^s Altarbüchern (Knihy voltäfuf) notiert ist,
ist meistens eine Übersetzung des katholischen lateinischen Textes in den
böhmischen, der syllabisch der zergliederten Choralmelodie unterlegt wird.
Obsequiale aus dem Jahre 1585
Fol. CXLIII*
Sequitur rubrica de sepulchrf visitatione ln nocte sancta paschall.
Unde ad Matutinas magna pulsetur campana, ut conveniant cano¬
nici, vicarii et alii clerici. Et tune priusquam Matutinum incipiatur, fiat
sepulchri visitatio precedentibus vexillis, cereis, thuribulo et aqua bene-
dieta. Cum autem ad locam sepulchri perventum fuerit, praelatus (cui
officium impositum est) cum genuflexione incipiat antiphonam:
FoI.CxlUI
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92
Surgit in hac die
Post hoc sequens antiphona imponatur per eundem praelatum.
Surgit in hac die
<93
tarea et tartarea 1 ) officina. Quod tu ve-
rax et fidelis Deus misericorditer fa-
cturae tuae per prophetas (fol. CXIV
b) tuos sanctos promisisti, hodie victo-
riosissima resurrectione tua implesti.
Letentur coeli et exultet terra in sua
liberatione et exaltet*) resurgentem 8 )
per saecula saeculorum regnantem 4 )
et imperantem. 5 ) Nunc ergo in ista
solennitate 6 ) resurrectionis tuae mun-
da nos a sordibus peccatorum no-
strorum et libera nos ab infernalibus
claustris, erue nos a daemoniacis
vinculis, quae tu 7 ) fortiter contrivisti.
Adiunge nos illorum gaudiis, quos
de inferis ad superos cum gloria te
exultatione reduxisti, quatemus sacra
passione tua 8 ) informativ sacri cor¬
poris et sanguinis tui perceptione a
peccatis omnibus*) mundati, gloriosae
resurrectionis tuae laetitia decorati ad
visionis celsitudinem mereamur per-
venire. 10 ) Qui cum Patre 11 ) et Spiritu
sancto vivis et regnas Deus per o-
mnia saecula saeculorum. Amen.
Finita oratione ista crux ado-
leatur et aqua benedicta aspergatur.
Post hoc flexis genibus crux tolla •
tur de sepulchro ac cum processio-
ne ad chorum deportetur et ante alta-
re maius reponatur choro submissa
voce cantante: „Cum rex gloria.“
Cum rex glorlae. 1 *)
CXLIXb.
f t
um Rex Clo - ri -ae Chii|
m
- sfus, in-fer-num de-bel!a4u-rus in bra-
CLa
- rötet cho - rus An-ge - li - cus
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WW SMK WWL X 1 JBflBHX BoX X HFSB
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" w - w - v- mW W —
an-te fa-ei-cmekispofks prin-ci - pum Mi paed-
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l M JW X X XHHHX ■■■
- pe - rel, sanctorum popu- le^qui Ic-ne-ba-lur
_^._
B
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r X jM WHVT JX St
in mor-he ca - pH- vus, voce la-chry-ma-
*) VySehrader H. hat thartareaque.
*) VySehrader H. hat exaltent.
*) „ „ „ resurgentem et
regnantem.
4 ) VySehrader „ hat nicht regnantem
et imperantem.
*) VySehrader „ hat vor Nunc die In¬
schrift Oracio.
0 VySehrader H. 87a hat nicht tu.
®) „ „ hat mortis tue statt tua.
®) „ hat nicht a peccatis
omnibus
tv )
mur.
“)
die Inschrift: „deinde cantando submisse
euntes a sepulchro: Cum rex glorie cristus“
mit der Notation.
„ hat pervenire merea-
. hat nach dieser Oration
•) VySehrader H. fügt zu 87a gloriose.
**) Im Obsequiale fehlt auf fol. CXLIIU b dieser Gesang; er wird da nur zitiert. Des¬
wegen lasse ich ihn aus fol. CXLlX*>ff. abdrucken, wo er im Obsequiale sub titulo: „de
circuitus processione in die sancto paschae* steht — Das übrige folgt wieder auf
fol. CXLUIP» und fol. CLXV».
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ut 9*du-c«-res hacnoc-ie vir.-cu-la tos.de
dwstmte TO
I CU
ca-bari su-spi
(Fol, CXLllIh.) Hoc finito, matu* Oratio. Deus, qui per unigeniti
timte officium (fol CLXV*) inci • Filii tui resurrectionem, famüiam tu-
fiatefi Post matutinas vero, ad am laetificare dignatws es, coneede
aitare beatae virginis Mariae fiat nobis famulis tu'is, ut per venera*
proeessio, tibi decantetur primum bilem eius genitricem virginem Ma-
a choro Aniiphona f , Regina coeli u riam, resurrectiomsgloriam et aeter-
Deinde eadem Antiphona in organis naecapiamus gaudia vitae. Per eun-
repetcdur, quo facto dicitur W. Spe- dem. vel. Qui tecum viyit et f-egrtal
cjosa facta es et suavis in deliciis in unitate Spiritus sancti Deus, per
tuis, alleluia. ijlSartcta Dei geni- omnia saecula saeculorum.
trix, alteliiia, Amen.
Go gle
Choralgesang und Kunstgesang
D er Choral gehört zu jenen Kunsterzeugnissen, die immer mehr Werte
aufweisen, je intensiver man sich mit ihnen beschäftigt Ober sein
Wesen und seine Wiedergabe durch Gesang liegen eine Reihe von Problemen
vor, die noch immer ihrer letzten und endgültigen Lösung harren. Wir um¬
gehen für diesmal die Streitpunkte des Choralrhythmus in Theorie und in
Praxis und wenden uns der Erörterung der Frage zu: welche Beziehung be¬
steht zwischen Choralgesang und Kunstgesang?
Es ist noch immer die Überzeugung nicht weniger Freunde des Chorals,
daß er nicht die Pflege findet, die er verdient; daß er noch lange nicht in
dem Mähe an den sonntäglichen Hauptgottesdiensten praktische Verwendung
findet, als dies vom Standpunkte des Kirchenmusikers und von dem des Pa-
storaltheologen als Cäcilienvereinspräses wünschenswert erscheint
Wir haben uns seit vielen Jahren und ernst die Frage vorgelegt: woher
kommt diese Unlust der Chorsänger, Choral zu singen; woher die geringe
Neigung der Gemeinde, den Choralgesang für schön zu finden?
Die Antwort, die wir darauf geben müssen, möchten wir am liebsten
für uns behalten; denn sie ist hart, und diese Zeilen werden dazu noch
schließlich als bloße Nörgelei betrachtet und beiseite gelegt. Aber das wahre
Interesse am kirchenmusikalischen Fortschritte nötigt uns, in diesem Falle
das Schweigen nicht für den besseren Teil der Antwort zu halten!
Der Grund jener Mißerfolge, denen wir noch heute auf Schritt und Tritt
begegnen, liegt darin: man unterschätzt die Schwierigkeit des Chorals, und
zwar nach ihren drei Seiten hin, erstens in bezug auf die Artikulation, zweitens
in bezug auf die absolute Tongebung, und drittens in bezug auf den allgemein
ästhetischen Vortrag nach Rhythmik und Dynamik.
Eine große Zahl Dirigenten behandelt den Choral als ein notwendiges
Obel und singt ihn herunter ohne Sinn, Verstand und Geschmack. Andere
Chorleiter versuchen, dem Choräle beizukommen durch festes Einüben der
Intervalle. Sie erklären wohl auch den Text. Aber es fehlt das feinere
ästhetische Empfinden. Sie singen zwar mit Sinn und Verstand, aber ohne
Geschmack.
Nur wenige wissen mit dem Choräle etwas anzufangen, das den tieferen
Menschen befriedigt Aber — sie zweifeln an der Möglichkeit einer geistigen
Anteilnahme von seiten des Chores und singen darum den Choral allein.
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Choralgesang und Kunstgesang
Es fehlt nun nicht an Männern, die den Choral ernstlich proben, vieles
verwerfen und streng tadeln. Es ist ein fortwährendes Abbrechen, Wieder¬
beginnen und Korrigieren. Schließlich bekommt es aber der und jener satt
und bleibt vom Vereine weg — des Chorals wegen.
Der Fehler liegt eben darin, daß der Chorleiter mit Flicken und Stackein
das ungleiche Gewebe des Gesanges auszubessern versucht. Daher bleibt all
sein Tun „Stückwerk“. Er arbeitet sich umsonst ab; die Sänger werden der
ewigen „Nörgelei" schließlich überdrüssig und fangen an, den Choral zu ver¬
abscheuen. Zuletzt bleiben sie dem Chore ganz fern. Und das hat mit sei¬
nem Singen der Choral getan.
Alleiniges Heilmittel ist und bleibt eine geordnete Stimmpflege.
Wir verstehen darunter eine Singbelehrung, wie sie jeder Kunstsänger erhält,
nur mit dem Unterschiede, daß die Bildungshöhe des Chorsängers gemäß der
beschränkten Zahl der Unterweisungsstunden und auf Grund der mehr oder
weniger lückenhaften musikalischen Allgemeinbildung eine geringere ist, als
die des Solosängers. Die Aufgabe beider Musikbeflissenen ist die gleiche:
Erzeugung eines schönen Tones. Der Ausgangspunkt und die erste Weg¬
strecke ist dieselbe: Erzielung eines losen, eines weichen Stimmtones. Nur
die Ziele sind verschieden: dort vollendeter, hier angestrebter Sologesang.
Der feine Beobachter der menschlichen Stimme in ihrer Gesangstechnik,
Hans Georg Nägeli (1T73—1836), weist in seiner kleinen Schrift: „Die Pesta-
lozzische Gesangbildungslehre nach Pfeiffers Erfindung, kunstwissenschaftlich
dargestellt . . . Zürich, 1810“ (genauer 1809) auf das eigentliche Element der
Gesangsbildung hin: auf die Bildung der Stimme in Sekundschritten. Er sagt:
je mathematisch einfacher sich die Verhältnisse zweier Intervalle wiedergeben
lassen, desto schwerer wird ihre Beherrschung durch die Stimme. So steht
die Oktav zur Prim im Verhältnis von 2:1, also in der denkbar einfachsten
mathematischen Verbindung. Aber wie schwer ist die schöne Ausführung
der Oktav in der Gesangstechnik. Andererseits steht die Sekunde im Ver¬
hältnisse von 9:10 (oder 8:9). Sie bildet die leichteste Fortschreitung der
Singstimme und liefert das Grundelement des gebundenen, schönen Gesanges:
des Legato. Denn bei ihrer Erzeugung erfahren die Stellmuskeln des Kehlkopfes
und die Spannmuskeln der Stimmbänder das geringste Maß von Verände¬
rungen. Somit erleichtert der Sekundenschritt den von der Singästhetik
geforderten Gleichklang des Nachbartones mit dem Ausgangstone.
Weil nun dem so ist, so hat sich von allem Anfang an die mensch¬
liche Stimmkunst in erster und hauptsächlichster Beziehung in Sekundschritten
betätigt. Die Lieder und Gesänge, soweit sie in ihrer Wiedergabe für die
Sangeskräfte weiterer Kreise berechnet waren, zeigen diesen Sekundfortschritt
in auffälliger Weise. — Insbesondere tritt diese Erscheinung, wie wir sie an dem
Volksliede aller Völker beobachten können, beim römischen Choräle auf.
Man vergleiche beispielsweise das Asperges me, das Kyrie der Advents-
Messe, desgleichen das Kyrie der Ostermesse und viele andere mehr. Dieses
Prinzip des sekundenweisen Fortschreitens ist so häufig zu finden, daß es
einem großen Teile der Gesänge das Gepräge seiner Zeit aufdrückt, so daß
man versucht wird, das Gesetz aufzustellen: je einfacher, je mehr also der
Sekunde angenähert, die Intervalle eines Gesanges erscheinen, desto älter ist
er. Die Proprien der neueren Feste weisen in dieser Beziehung eine unleug¬
bare größere Singschwierigkeit auf, als die alten Festgesänge.
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Choralgesang und Kunstgesang
97
Dieses Kriterium verliert nichts an seiner Beweiskraft durch bekannte
Ausnahmen, hervorgerufen durch das Bestreben des Gesangskomponisten,
den Text zu illustrieren, oder einen gewissen Nachdruck einer besonderen
Stelle zu verleihen, um das Gefühl nach einer sanglichen Kulmination, nach
einer architektonischen Steigerung, zu befriedigen.
Dahin gehört der gesteigerte dritte Anruf des Kyrie in der Advents-
Messe; der jubelnde Ruf über die Geburt des göttlichen Erlösungskindes:
„Puer“. Ebenso weiß der Sänger den Quintensprung bei „Factus est repente“
der Pfingstcommunio zu deuten als die künstlerische Nachahmung der Text¬
stelle, die von der Herabkunft des Heiligen Geistes und seinen siebenfachen
Gnadenwirkungen zur geistigen Macht handelt. Hieher gehört auch die auf¬
fallende, wirkungsvolle Textmalerei im Introitus der Missa Ss. Nominis Jesu
bei: ccelestium terrestrium et infernorum.
Trotz dieser und einiger weiterer Ausnahmen gilt die Tatsache: die
Hauptfortschreitung im Choral ist die Sekundenfolge. Ihre künstlerische
Wiedergabe muß also das Hauptbestreben des Liedmeisters bleiben, wenn er
ernst gemeinte Singstudien mit seinem Chore treiben will.
Dieser Hang der menschlichen Stimme nach dem Sekundschritt ist so
stark entwickelt, daß der Singlaie sich gewöhnlich schon dadurch verrät,
Terzensprünge zum Beispiel durch Zwischenschiebung des übersprungenen
Intervalles zu verunzieren. Seinem Wesen nach ist dieses Hindurchziehen
der Töne das, was der Fachmann mit Portamento bezeichnet und was der
Stimmkünstler — wenn er es in Wahrheit auch ist — als die Blüte der Ge¬
sangestechnik erstrebt und was er mit wahrer Kunstempfindung äußerst
selten, dann aber um so wirkungsvoller, anzuwenden sich erlaubt.
Diese Ausgleichung der Melodiesprünge mit dem Intervall der Sekunde
ist alt. Schon der Pseudonym-Aristoteles (12.—13. Jahrhundert) erwähnt
diese Art des Durchschleifens, die für den Choral zur charakteristischen Ver¬
zierung wurde und den Namen „Pllca" erhielt, als welche sie sich besonders
an den Schlußstellen der Gesänge und an den Cäsuren der Melodie findet.
Die Pllca ist ihrem Wesen nach nichts anderes als der Ausdruck des Be¬
strebens, aus dem Kehlgefühle heraus einen Ausgleich dort zu schaffen, wo die
Komposition Sprünge vorschreibt, und sie beweist auch von dieser Seite aus
die Wahrheit unseres Satzes: der Sekundenfortschritt ist das eigent¬
liche melodische Element des Choralgesanges, wie überhaupt jeder
Sangesmusik.
Die Ausbildung des Choralisten hat darum die erste und vornehmste
Aufgabe darin zu suchen, den Sänger zur Wiedergabe von Sekundschritten
künstlerisch zu befähigen. Die Frage ist daher: worin liegt das Wesen dieser
Kunst der Stimmbildung.
Die Antwort ist leicht gegeben: die Stimmbildung hat zuerst den schö¬
nen Ton an sich zu erzeugen. Erst nach Lösung dieser ersten Kunstfrage
der Stimmbildung kann der Stimmbildner dazu übergehen, die Verbindung
der einzelnen an sich künstlerischen Töne vorzunehmen nach denselben Ge¬
setzen der Kunst Das will sagen: die Verbindung der Töne zu melodischen
Gebilden geschehe so, daß die Schönheit des einzelnen Tones an sich ge¬
wahrt bleibt; daß also die Melodie als Kunstganzes das Antlitz derselben
Schönheit erhält, wie der Ton in seiner Einzelbildung.
Klrrhtmnwfc. Jahrbuch. 23. Jifarg. 7
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Choralgesang und Kunstgesang
Diese Kunst ist schwer, aber gleichwohl erreichbar und zur künst¬
lerischen Belebung des Chorals notwendig.
Untersuchen wir zuerst die Merkmale des schönen Tones an sich. Sein
Hauptmerkmal liegt in seiner Flüssigkeit, Biegsamkeit, Modulationsfähigkeit.
Ist die Stimme weich gebildet, so fügt sie sich dem künstlerischen Willen
mühelos. Vermag sie aber nur mit festgespannter Kehle Töne von sich zu
stoßen, so ist sie für die Kunst unbrauchbar. Hartes Gestein eignet sich
nicht zum Formen; es füllt die Form nicht aus. So steht es auch mit dem
festgebildeten Singtone: er klingt rauh, eckig, hart; er füllt die vom Form¬
gefühl des musikalischen Zuhörers aufgestellte Norm nicht aus; er klingt
nicht ausgeglichen, nicht weich, wohlig, voll und rein. Damit haben wir indirekt
das Wesen dessen gezeichnet, was der Singlehrer nennt: den lockeren Ton.
Es ergibt sich aus dem Gesagten, daß er nur dadurch erzeugt wird,
daß der Singapparat leicht arbeitet und empfindlich reagiert Dies ist nur
dann der Fall, wenn der Singapparat seiner Natur gemäß eingestellt
wird und dem Kunstwillen mühelos folgt Dadurch kommt das zum Vor¬
schein, was der Fachmann mit dem Ausdrucke: gesunder, natürlicher
Ton bezeichnet.
Der so gebildete Ton ist in seiner Biegsamkeit für künstliche Zwecke
verwendbar, das heißt, er läßt sich dynamisch, rhythmisch und melodisch
zwanglos, leicht verändern. Der schöne Ton wird so zum Ausdrucksmittel
der Seele, die auf seinen weichen Fittichen herrschend ruht wie der Geist
über dem Stoffe, den er andererseits durchdringt.
Der lockere Ton allein gewährt die Garantien, daß der Singunterricht
die Stimme nicht ruiniert, den Sänger nicht krank macht, ihn an seinem
heiligen Gute der Stimme als unverkürzten Besitzer erhält. Der lockere Ton
allein kann den hohen Kunstzweck der Singbildung erfüllen und zum Träger
des Seelenlebens werden, das er verklärt ausspricht. Er ist die Voraus¬
setzung allen Singunterrichts, alles Gesanges, wenn man die wahre Bedeu¬
tung des Wortes „Gesang“ nicht schwächen und verdunkeln will.
Darum sollte keine Sorge des Chorführers so groß sein als die: zu
sorgen, daß der Ton von seiten der Sänger lose erzeugt wird und lose bleibt
bei allem Gesänge von der Jugend bis ins Alter. Hiebei spielt die Lage der
Zunge die Hauptrolle. Jeder Singlehrer sollte es für seine heiligste und
erste Pflicht halten, darüber zu wachen, daß sie flach, breit, träge, gefühllos,
bewegungslos im Munde vorn bis an die Zähne lose reiche. Sie hat bei der
Tonbildung an sich nichts zu schaffen. Ihre Tätigkeit tritt erst ein, wenn
es sich um die Umbildung des Naturlautes, wofür wir dem „a“ Klang halten
müssen, handelt. Es muß der Singlehrer persönlich sich von dieser rechten
Stimmlage überzeugen durch individuelle Beobachtung. Einen Ersatz für diese
notwendige „Nachsicht“ gibt es nicht.
Jedes Außerachtlassen dieser Forderung zeitigt die Gefahr, daß der
Singunterricht nicht nur keine Erfolge bleibender Art zustande bringt, son¬
dern einen Eingriff in die Gesundheit der Singzöglinge, der Sänger, bedeutet,
der schwere Folgen nach sich ziehen kann. Diese Forderung wird der Sing¬
chorführer eben nur dann erreichen, wenn er seine Schüler einzeln, jeden
für sich, kennen zu lernen sucht dadurch, daß er sie einzeln untersucht und
fortdauernd daraufhin beobachtet, wie sie die Organe gebrauchen. Ist sein
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Choralgesang und Kunstgesang
99
Chor zu groß dafür, dann richte er eine Vorschule ein, in der die Singschüler
so lange verbleiben, bis sie Gewähr leisten, daß sie ihre gute Art zu singen
— so wie sie es jetzt gelernt haben — nicht wieder ändern, sich zum Un¬
segen, dem Kunstfreunde zur Qual.
Wo nur Erwachsene als Mitglieder in Betracht kommen, richte der
Dirigent Vorbildungskurse ein und zwar sondere er die Teilnehmer nach
Geschlechtern ab, weil sonst die sich zeigende Befangenheit den Unterricht
sehr beeinträchtigen dürfte. Je weniger an der einen Unterweisungsstunde
teilnehmen, desto besser; das Ideal bleibt Einzelbehandlung der Singschüler.
Wir sagen: wer als Dirigent wirkliche Fortschritte zu erreichen beab¬
sichtigt, wer seinen Chor zu wirklichen Sängern heranbilden will, der errichte
solche Vorkurse. Diese Einrichtung erweist sich als segensreich auch inso¬
fern, als sie Gelegenheit gibt, auch den .alten" Sängern wieder einmal auf
die Zunge zu sehen. Dadurch wird der Obungskursus gleichsam zur Stimmen-
Reparatur-Werkstatt, wo nach bestimmten Laufzeiten das rollende Material
eingehend untersucht und wenn nötig ausgebessert wird.
Der gute Einfluß solcher vorbeugender, abhelfender Sorge um die Stimme
und ihre Bildung ist für die Aufführung von größtem Vorteil: die Schüch¬
ternen und solche, die so gern hinter der Front sich zu schonen geneigt
sind, werden zu erneuter Energie angeflammt; der Sänger mit falscher Zunge
— sei es, daß sie zu einer Kloßform oder zu einer Gurkenform lang¬
gestreckt und zusammengepreßt wird — erhält Aufschluß über ihre nor¬
male, naturgemäße Lage. Die Mitglieder; die zu .Bruststimme“ neigen,
die gewohnt sind, ihr Notenblatt mit möglichst viel Kraft herunterzusingen,
die es als Bässe für eine Pflicht halten, den Emst der Feier durch dumpfes
Dröhnen und dunkles Rollen der Stimme nachhaltiger zu gestalten, diese
Kraftsänger erhalten Anweisung, wie nach oben zu die Stimme sich abzu-
mildem und einzurichten habe, um dem Knotenpunkte auszuweichen, jener
Stelle, wo ruckweise die .Bruststimme“ in die .Kopfstimme" übergeht.
Diese Gewaltstimmen bedürfen der Nachhilfe am meisten. Ihnen hat
der Chormeister mit seiner Stimme zu zeigen, was Verschmelzung von Kopf-
und Bruststimme heißt; daß diese Verschmelzung allein den Schmelz der
Stimme vorbereitet und herbeiführt; daß diese Ausgleichsübungen am wirkungs¬
vollsten von oben aus einzuleiten und fortzusetzen sind bis dahin, wo der
Baß eine helle, baritonartige Färbung und angenehme Weichheit und Bieg¬
samkeit -erhält. Dann erst kann der Verein mit seinem Dirigenten sagen,
daß er Tonbildung treibt Erst solch eine Sängergemeinschaft ist fähig, zu
erkennen, was Gesangskunst heißt, und erst so gebildete Sänger werden im¬
stande sein, tiefer in das Wesen des Gesanges, vor allem des Kirchengesanges
einzudringen, dessen künstlerisches Hauptmerkmal die dynamische Ausglei¬
chung bildet, die nur und nur erreicht wird durch ernste Pflege dessen, was
wir Gesangbildung nennen.
Die ausgeglichene Intervallbindung der Sekunde mit ihren notwendigen
Erweiterungen der Terz- und Quartensprünge mit losem Tone ausgeführt, ist
das Grundelement des schönen Singvortrages — und heißt das Legato.
Damit sind wir zur Frage gelangt: wie erreicht der Schüler dieses Legato?
Es liegt im Wesen des Legato begründet, daß es den losen Ton zur
Voraussetzung hat. Denn der Legato-Gesang ist nichts anderes als die
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Choralgesang und Kunstgesang
Versetzung der Spannungsverhaltnisse von dem einen Tone auf den nächsten.
Sitzen die Töne in der Kehle fest, so kann diese Verrückung nur mit Gewalt,
also stoßhaft, vor sich gehen. Die Folge ist, daß der neuzufassende Ton
für den ersten Moment lauter, scharfkantig, herausplatzend klingt im Gegensatz
zu dem Ende des verlassenen Tones. Die Stimme wallt in Stärke und
Schwäche auf und ab; wir hören damit das ungeebnete, dynamisch wellen¬
artig geformte, bellende Singen.
Diese Art „Naturstimme“ ist das absolute Gegenteil von dem, was der
Singunterricht erreichen soll, nämlich: die möglichst gleiche dynamische
Linienstärke. Es muß klingen, als hielte der Sänger nur den einen Ton aus,
während in Wirklichkeit mehrere Sekundfortschritte erklingen. Daß diese
innere Muskelverschiebung nur dann leicht stattfindet und rasch und sicher
den erstrebten Spannungspunkt erreicht, wenn die Muskeln sich in einer
Lage befinden, in der die motorischen Nerven in Bereitschaft gestellte Organe
finden, liegt auf der Hand.
Ein Muskelapparat wird um so leichter und schneller beeinflußt, je
mehr er vor der Leistung entspannt gewesen und im Zustande der Kraft ge¬
blieben ist Das ganze Geheimnis der Tonbildung liegt in dieser Entspannung
der Singorgane. Diese Entfesselung erfolgt lediglich zu dem Zwecke, die Appa¬
rate in den Stand zu setzen, daß sie auf jede Nervenbeeinflussung entspre¬
chende Bewegungen leicht und sicher vornehmen. Von dieser Art Ruhelage
der Organe, von dieser Auslösung der Spannung hat die wahre, künstlerisch
aufgefaßte Tonbildung den Namen erhalten: Bildung des „losen" Tones.
Seine Erzeugung ist nur möglich durch die Isolierung der Muskeln voneinan¬
der, besonders nach ihren Grenzgebieten hin, von denen her sie leicht eine
falsche, natur- und deshalb kunstwidrige Mitarbeit erfährt, die leider nicht
nur nichts zur Sache zu helfen vermag, sondern die Erreichung des Kunst¬
zweckes erschwert, ja geradezu unmöglich macht.
Man beachte nur, welche „Mitarbeit“ mitunter die Zunge liefert zur Bil¬
dung des absoluten Tones, wobei sie doch eigentlich „nichts zu sagen hat.“
Man beachte die Halsmuskeln bei Erzeugung hoher Töne, wie gerade sie es
sind, die den Sänger veranlassen, das Kinn nach oben zu heben, als gelte
es, den Ton aus der Brust zu ziehen und dabei eine Schwertklinge zu ver¬
schlucken. Und vieles, vieles andere Unschöne, Unmögliche, Gewaltsame,
das auf falsche Tonbildung wie mit ausgestrecktem Arme hinweist
Alle diese Verrenkungen, Einklemmungen, Pressungen sind untrügliche
Zeichen, daß der sich so bitter anstrengende Sänger alles andere vielleicht
beherrscht, nur das eine nicht: die Bildung des losen Tones. Solchem Sänger
ist das Legato eine Unmöglichkeit. Denn dieses verlangt vollste Weichheit
und Nachgiebigkeit der Kehlkopforgane, aber nicht bloß im Umkreise einer
Sekunde, sondern auf die ganze Strecke seiner Töne, und zwar in dem Sinne,
daß eine möglichste Gleichbildung aller Töne untereinander stattfindet. Dies
bezeichnet bekanntermaßen die Singbildung als: Ausgleichung.
Aber weil diese Ausgleichung auf der ganzen Linie der Stimme statt¬
finden soll, so folgt daraus, daß jene sekundweisen Übungen zwar von
der Übung im Umfang weniger Tonstufen ausgehen, aber möglichst bald
nach der Höhe und Tiefe sich erweitern müssen. Dadurch erreicht der Stimm,
bildner den notwendigen Ausgleich der „Register“. Der Singschüler beginne
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Choralgesang und Kunstgesang
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also mit dem Legato auf der ihm bequemsten Tonlage 1 ) und erweitere von da
nach oben und nach unten unter Vorsicht seine Stimme bis an ihre Grenzen.
Ohne Lehrer ist jedem ernstlich von solchem Studium abzuraten; denn wenn
auch alles gut gehen sollte, am Ausgleich der Register wird sein Selbstunter¬
richt schließlich doch scheitern.
Wir können hier auf dieses strittige Kapitel der Registerfrage nicht
näher eingehen; müssen aber doch auch unsern Standpunkt wenigstens
kurz skizzieren.
Eine Reihe Töne ist es, die jeder einzelne für sich — individuell be¬
sonders häufig im Sprechen und beim gelegentlichen, „stillen" Fürsichhin-
singen verwendet Das ist das Alltagsregister oder, wie man es sonst nennen
will, die primäre Tonlage.
Diesem Register kann man eine Reihe Töne nach oben und nach unten
ansetzen. Die Ergänzungstöne nach unten sind in ihrer Zahl mehr beschränkt,
als die Töne nach der entgegengesetzten Seite. Darum strebt die Gesang¬
bildung vor allem, den Umfang der Stimme nach oben zu erweitern. Leider
wird die Ausbildung der tieferen Töne dabei oft vernachlässigt.
Die Gattung der höchsten Singtöne wird erzeugt dadurch, daß die Stimm¬
bänder nur teilweise in Schwingungen versetzt werden. Der Geiger mache
sich dies klar etwa durch die Vorstellung von Flagiolettönen, wobei auch
nur ein Bruchteil der gestrichenen Saite klingt. Diese höchsten Gesangstöne
nennt man die „Kopfstimme."
Bis dahin verstehen sich zumeist die Singlehrer. Das strittige Gebiet
nun ist jene Stimmlage, die zu suchen ist zwischen der Alltagsstimme und
der Kopfstimme. Diese Mittelstimme wird durch jene Art von Tongebung
erzeugt, die ihrem Wesen nach zwar als Alltagsstimme — andere sagen
„Bruststimme“ — erscheint, die aber eine starke Beeinflussung durch die
Kopfstimme aufweist Man könnte diese Mittelstimme auch Mischstimme
nennen, da sie aus der Diagonale zweier Stimmbildungsmöglichkeiten hervor¬
geht und Eigenschaften der Brust- und der Kopfstimme enthält
Diese „vox mixte“ ist ihrem Wesen nach jene von der Gesangstechnik
von jeher gesuchte „goldene Mittelstraße", die glückliche Mittellinie, auf der
allein der Aufstieg auf den Gipfel der Singkunst möglich ist Dieser gemischte
Ton ist der von allen wahren Gesangslehrern gesuchte „Einheitston". Er allein
besitzt die Fähigkeit, die Stimmgebung so zu gestalten, daß ein Ausgleich statt¬
findet und zwar dahin, daß die Alltagsstimme leicht, flüssig, weich erklinge,
daß aber andrerseits die Stimme in ihren Höhenlagen jener festen Grund¬
lage nicht entbehre, die die notwendige Voraussetzung aller künstlerischen
Tonbildung ist und den eigentlichen Gehalt der Stimme darstellt Nicht
die Höhenleistung einer Stimme bestimmen den künstlerischen Wert des
Sängers, sondern die Durchschnittsgüte seines Organs. Jene C-Jäger unter
den Tenören und ihre Kollegen auf der andern Seite im Baß gehören darum
eigentlich in das Variete, wo sie ja auch auf entsprechende materielle Gegen¬
leistung hoffen können.
Diese gemischte Stimme ist aber nur unter der Voraussetzung möglich,
daß die stimmgebenden Organe auf einen Ausgleich eingerichtet und von
') Diese Tonlage findet man durch Feststellung der Sprechhöhe, des „Primär¬
tones“.
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Choralgesang und Kunstgesang
Grund aus vorgeQbt sind. Diese künstlerische Art der Tongebung ist nur
zu erreichen, wenn der Singschüler über eine Stimmbandstruktur verfügt, die
das Einspannen der Stimmbänder zu nur teilweisem Schwingen allmählich
zuläßt, so daß die organische Schwingungsumformung reichlich mit Zwischen*
stufen ausgefüllt ist, die die Umbildung unmerklich bewerkstelligen.
Diese Fähigkeit des Stimmorgans, Übergänge herzustellen, ist das, was
man „Ausgleichung“ nennt. Sie erfolgt nach den zwei Seiten der Dynamik
und der Klangfarbe. Die Übung hierin führt zu dem weiteren wesentlichen
Erfolge, daß der Gegensatz zwischen Kopf- und zwischen Bruststimme in
seiner Schärfe für alle Tonstufen gemindert, ja in der „Mittellage* gänzlich
aufgehoben wird. Dadurch erhält, wie schon oben berührt, die Stimme den
Zauber des Künstlerhaften, der zwar von der individuellen Stimmbegabung
besonnt wird, der aber durch eine von uns hier kurz gezeichnete Tonbildungs¬
art seine letzte Vollendung und höchste Ausstrahlungskraft erhält.
Es liegt auf der Hand, daß jene schwere Ausgleichungspraxis beginnen
muß innerhalb eines relativ geringen Tonumfanges, deswegen nämlich, weil
das Grenzgebiet erst nach und nach zu erobern möglich ist. Wesentlich dabei
ist, daß dies von oben geschieht, weil die Entspannung der Stimmbänder leichter
fällt, als ihr Gegenteil, ihre allmähliche Anspannung. Denn die „Kopfstimm¬
bildung“ zwingt das Singorgan zu einer Kraftleistung der nur teilweise
schwingenden Stimmbänder. Diese Einstellung nötigt die Muskeln, dahin zu
wirken, daß ein wesentlicher Teil der Stimmbänder so fest gehalten wird,
daß er nicht mitschwingt. Die Arbeit ist in ihrer Wirkung also eine
negative. Und diese Fesselung des Organs — der Stimmbänderteile — diese
ist es, die zu Ermüdung und Unvermögen führt Aus diesem Grunde also ist
es geraten, die Ausgleichungsübungen von oben her vorzunehmen.
Wir brechen hiemit vorläufig ab in der Hoffnung, das Wesentliche der
Tonbildung dargelegt zu haben. Welcher Ausblick auf den Vortrag des
Chorals bietet sich uns nun dar?
Der Choral verlangt zu seiner Wiedergabe eine ausgeglichene Stimme.
Da er sich zur Hauptsache aus Sekundschritten zusammensetzt, wie wir ge¬
sehen haben, so fordert er die Beherrschung des Legato geradezu heraus.
Keine andere Gesangsmusik lohnt darum auch eine nur mäßige Singunterwei¬
sung so sichtlich wie der Choral. Keine andere Gesangsmusik erfährt durch
einen kunstgeschulten Vortrag eine so starke Belebung, eine so aufblühende
Beseelung als der Choral. Er ist entsprungen aus der Freude am Dienste
Gottes durch die Sangeskunst. Er ist der Frühlingsjubel der singenden Men¬
schenseele. Er ist die Anbetungsfeier des Allerhöchsten in Tönen eines welt-
vergessenen Herzens.
Aber neben diesem metaphysischen Zuge wohnt ihm eine Schönheit inne,
die dem, der für die feineren Wirkungen der reinen Gesangskunst und des
edlen Kunstgesanges empfänglich ist, unerschöpflich erscheint und sich als
eine Höhenkunst darstellt, die ihresgleichen nirgends hat. Im besonderen
bleibt die Choralmusik eine einzigartige wertvolle Kunst insofern, als sie eine
Verkörperung des Musik-Geistes darstellt, wie er im Gesänge eines jeden
Menschen geheimnisvoll ruht Der Choral ist der Gesang an sich,
er ist der absolute Gesang.
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Choralgesang und Kunstgesang
Über diese Tatsache muß der Musikfreund um so mehr staunen, als diese
Kunst einer Zeit entstammt, die, soweit die Kunstmusik in Frage kommt,
noch keine Regung irgendwelcher ihm gleichgearteten Monodiekunst kennt.
Wenn auch in der ersten monodischen Kunst der Florentiner Zeit (von ungefähr
1300—1450) der Gesang nach Ergreifung des Textwortes und dessen Illustra¬
tion strebt, so bestehen doch wesenhafte Unterschiede zwischen diesen
begleiteten Gesängen und jenen erhabenen Singweisen des Chorals, wo das
Wort eine packende, psychologische, ästhetische Ausweitung und Erhöhung
erfährt, die uns unnachahmlich erscheint.
Nach allem, was wir als das Wesen der Gesangskunst hingestellt
haben, kann es keinem Zweifel unterliegen, daß der Choral nur dann
seine Schönheit enthüllt, wenn er im Sinne von Kunstgesang auf¬
gefaßt wird.
Volksgesang im engeren Sinne wird der Choral seinem ganzen Umfange
nach — besonders in den nichtromanischen Ländern — wohl nie werden.
Das schließt aber nicht aus, daß die mehr syllabischen oft wiederkehrenden
Stücke: Pange lingua, Asperges me, Veni Creator Spiritus und das „III. Credo*
nicht auch nach und nach zu Gemeindegesängen sich auswachsen können,
wenn genügende Vorarbeiten in Singschule und Kirchenchor vorausgegangen
sind.
So groß der Segen auch genannt werden muß, der vom „Allgemeinen
Cäcilienverein* seit vierzig Jahren ausgegangen ist gerade auch für die Neu¬
belebung des Interesses am Choral, so war er doch die indirekte, allerdings
unverschuldete Ursache, daß er mit der starken Betonung der Choralpflege
für viele Chöre zu hohe Ziele stellte. Nichts wäre in der zweiten Hälfte des
vorigen Jahrhunderts nötiger gewesen als die Gründung nicht von Musik¬
schulen, sondern von Sänger schulen, woselbst* die Kunst des Gesanges gründ¬
lich gepflegt worden wäre. Man errichtete Anstalten, die ihre Zöglinge
direkt für die Ausführung der kirchlichen Vorschriften als Organisten und
Dirigenten ausbildete. So segensreich diese Anstalten auch wirken und
gewirkt haben, sie würden gewiß an Bedeutung gewinnen, wenn das Studium
und die Ausübung des Gesanges in den alles beherrschenden Vordergrund
gestellt würde. Man wird entgegnen: in der Beanlagung für Gesang seien die
Menschen sehr verschieden. Das sei zugegeben: gleichwohl bleibt die Tat¬
sache bestehen, daß eine vernünftige Sangespflege größere Erfolge zeitigt,
als man für gewöhnlich annimmt. Nicht einen Vorwurf sollen unsere Worte
enthalten, sondern nur einen Anstoß zu einem Ausbau der Anstalten, denen
wir so unendlich viel Gutes verdanken.
Ebenso erscheint uns die Pflege des Gesanges in den Lehrerseminarien
und theologischen Anstalten noch lange nicht genügend gesichert Man über¬
läßt in diesem Punkte dem Zufalle beinahe alles. Wie wir hören, macht man
im Priesterseminare zu Straßburg einen ernsten Anfang mit Errichtung von
Stimmbildungskursen. Hoffen wir.
Wenn es wahr ist, daß der römische Choral das höchste musikalische
Gut der heiligen Kirche ist — und er ist es — so folgt für uns daraus, daß
man den künftigen Lehrer und den künftigen Priester so erziehe, daß er im¬
stande sei, den musikalischen Gehalt dieser Gesangsmusik zu fassen, ihn
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104 Wiener Musikkongreß
darzustellen und ihn so in seinem Erziehungswerte zu entfesseln. Das läßt
sich nicht erreichen durch Orgelspiel, durch Violinspiel, durch ein bißchen
Harmoniumspiel: dazu gehört ernstes Gesangsstudium, das noch das große
Gute im Gefolge hätte, den mit der Kehle arbeitenden Anfänger vor groben
Schäden des Sprechorgans zu bewahren; denn:
Nur über die Brücke der Kunst geht der Weg in das Wunderland
des Chorals.
Leipzig Dr. Hugo Löbmann
Die Sektion für Kirchenmusik auf dem III. Kongreß der
Internationalen Musikgesellschaft in Wien 1909
E s muß als eine höchst erfreuliche Tatsache konstatiert werden, daß die
Leitung der Internationalen Musikgesellschaft auf ihrem diesjährigen
Musikkongreß in Wien der Kirchenmusik eine eigene Sektion eingeräumt hat
und zwar meines Wissens aus eigenster Initiative, da der Vorsitzende des
Wiener Kongreßausschusses, Univ.-Prof. Dr. Adler, bereits vor Jahresfrist an
den Unterzeichneten das Ansuchen stellte, die Leitung dieser Sektion zu über¬
nehmen. Durch diese Eingliederung der Kirchenmusik als selbständige Sek¬
tion in den Rahmen des großen Kongresses wird ausdrücklich anerkannt, daß
die Kirchenmusik das gleiche Anrecht auf wissenschaftliche Behandlung
hat wie die übrigen Disziplinen. Für den mit der Geschichte Vertrauten bietet
diese Tatsache ja nichts Überraschendes, im Gegenteil, er müßte sich wundern,
wenn es nicht so wäre.
An der Wiege des Christentums steht bereits die Musica sacra, mit der
wachsenden Kirche zieht sie in die Lande, und als mit Konstantin die ersten
Gotteshäuser in die Lüfte ragen, erhält sie ihren Platz neben dem Priester;
und diese innige Verbindung zwischen Altar und Sängerchor sollten die kom¬
menden Jahrhunderte mit dem Ausbau der Musica sacra nur noch inniger
gestalten. Und als dann um die Mitte des vorigen Jahrhunderts die junge
Musikwissenschaft erwacht und die Musikhistoriker zu schürfen und zu graben
beginnen, wie heißt das Feld, auf dem sie den Spaten einsetzen? —
Kirchenmusik. Und wenn wir heute unsere großen Publikationen betrachten,
welches ist vielfach ihr Inhalt? — Kirchenmusik. Und wenn wir zu blättern
beginnen in unseren prächtigen Denkmälern Deutscher, Bayerischer und Öster¬
reicher Tonkunst, wiederum finden wir einen beträchtlichen Teil, gefüllt mit
— Kirchenmusik. Und alle die Träger glänzender Gelehrtennamen, die heute
an unseren Universitäten lehren oder in privater Arbeit sich dem Studium
der Musik des Mittelalters widmen, welches Gebiet liefert ihren Forschungen
die sicherste Unterlage? — wiederum die Kirchenmusik. Darum wollen wir
zuversichtlich hoffen, daß auch die künftigen Kongresse die große Vergangen¬
heit und Bedeutung der Kirchenmusik wohl würdigend, ihr einen ständigen
Platz in ihren Tagungen gönnen; sie brauchen sich ihrer gewiß nicht zu
schämen, wie der Wiener Kongreß deutlich bewiesen hat.
Die Sektion für Kirchenmusik zerfiel sich in drei Abteilungen: Va für
katholische Kirchenmusik, Vb für evangelische Kirchenmusik, Vc für Orgel¬
baufragen. Den Besuch unserer Sektion, der teilweise den anderer Sektionen
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Wiener Musikkongreß
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sogar abertraf, darf man als einen guten bezeichnen, waren doch fast alle
die jüngeren Musikgelehrten, die dem wissenschaftlichen Betrieb der Kirchen¬
musik ihre Arbeit zugewendet haben, persönlich erschienen; allerdings hatte
derselbe bei manchen Tagungen von seiten der Zuhörer ein größerer sein
können, aber man muß eben bedenken, daß ein wissenschaftlicher Kon¬
greß keine politische oder sonstige Versammlung ist, wo Massenandrang
herrscht
Als »Einfahrender* hatte Prälat Dr. Schnabl-Wien die Versammlungen
liebevoll vorbereitet und sprach selbst als erster in prägnantester Weise aber
„Charakteristik der Kirchenmusik.* Die Diskussion ergab manche interessante
Gesichtspunkte: neu und psychologisch sehr plausibel schien mir der Erklä¬
rungsversuch des Vortragenden, warum in den Messen von Joseph Haydn
das Kyrie — ein demütiger, ernster Ruf um Erbarmen — vielfach so heiter
und dem Texte widersprechend vertont sei: Haydn habe schon beim Beginne
der Messe — also beim Kyrie, da der Introitus nicht gesungen wurde — den
Festcharakter des Tages zum Ausdruck bringen wollen. Eine weitere An¬
regung Dr. Schnabls ging dahin, die Komponisten möchten Introitus und Com-
munio für die Hauptfeste des ganzen Kirchenjahres im Geiste der Festzeit
mehrstimmig in verschiedenen Stilarten vertonen. So sehr die Realisierung
dieses Vorschlages im Interesse der Stileinheit zu wünschen wäre, so ent¬
stehen aber dadurch anderseits die schlimmsten Konsequenzen für den Cho¬
ralgesang.
Eine ganz vorzügliche Schlußbemerkung machte Prof. Bewerunge-
Maynooth (Irland). Er betont besonders das Zweckmäßigkeitsprinzip in der
Kirchenmusik, welche nebst den allgemeinen ästhetischen Eigenschaften noch
die besonderen auf den Zweck sich beziehenden haben müsse. Darüber zu
urteilen, habe nicht jeder Regenschori, Sänger oder Teilnehmer
am Gottesdienst das Recht, sondern nur derjenige, der mit dem
historischen Entwicklungsgänge der Kirchenmusik, insbesondere
mit dem Choral und den polyphonen Meisterwerken, vom 16. Jahr¬
hundert angefangen, vertraut sei.
Es folgten dann die Vorträge von Dr. Müller-Paderborn „Zur Ur¬
geschichte des deutschen Kirchenliedes“ und Dr. Wein mann-Regensburg
über „Alte und moderne Kirchenmusik,“ die wir nebst dem Choralvortrag
von Prof. Wagner-Freiburg (Schweiz) nachstehend bringen.
Daß die Tendenz des Kongresses nicht auf irgendeine bestimmte Richtung
in der Kirchenmusik eingestellt war, sondern alle zu Wort kommen ließ, be¬
weisen die Referate eines begeisterten Anhängers der Instrumentalmusik,
Dr. Schnerich-Wien, der in drei Vorträgen für die Wiener Klassiker und
speziell für die Messen Jos. Haydns eintrat: a) Die textlichen Versehen in den
Messen Jos. Haydns und deren Korrektur; b) Die Wiener Kirchenmusikver¬
eine; c) Kirchenmusikalische Denkmalpflege.
Es ist im Rahmen dieser kurzen Obersicht leider nicht möglich, die
äußeret lebhafte, aber interessante Debatte, welche sich an diese Vorträge
schloß, auch nur zu skizzieren, es wird sich jedoch noch Gelegenheit geben,
diese ganze Frage ausführlich in einem eigenen Aufsatz zu behandeln. Be¬
merkt sei hier nur noch, daß Prof. Müller in großzügiger und weitherziger
Weise den kirchlichen Standpunkt präzisierte, und daß seine und Dr. Wid-
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Wiener Musikkongreß
mann’s-Eichstätt Ausführungen geeignet waren, die verschiedenen Richtungen
und Anschauungen einander näher zu bringen.
Vor einem großen Zuhörerkreis aus allen Sektionen fand der hochinter¬
essante Vortrag Prof. Wagners statt „Ober gregorianischen Choral.“
In liebenswürdigster Weise war P. Michael Horn mit mehreren Benediktiner¬
patres und Sängerknaben aus dem Kloster Seckau herbeigeeilt, um zu den
Ausführungen die musikalische Illustration zu geben — ein ungemein lieb¬
liches Bild, so ganz an die Zeiten Guidos von Arezzo gemahnend. Wie
mir nachher mehrere Vertreter anderer Sektionen gestanden, hat dieser Vor¬
trag mit den eingestreuten Gesängen nicht nur von der wundersamen Schön¬
heit der gregorianischen Lieder überzeugt, sondern gerade durch die natürliche
Einfachheit derselben ergriffen.
Gleichsam ein Seitenstück zu diesem Vortrag gab Dr. Widmann-Eich¬
stätt aus dem Gebiete der Polyphonie „Einrichtung historischer Musikwerke
für Aufführungen.“ Auch hier begleitete in zuvorkommendster Weise der gut¬
geschulte Chor der Dominikanerkirche die interessanten, aus der lebensvollen
Praxis geschöpften Ausführungen des Vortragenden.
Die Schlußsitzung brachte nach einem Vortrag von Prof. Moißl-Reichen-
berg „Ober die Notwendigkeit unterbehördlicher Durchführungsvorschriften
zum Motu proprio vom 22. November 1903,“ eine ausgedehnte und interes¬
sante Debatte zur Einführung des traditionellen Chorals. Wenn man auch
die bisherigen Verhältnisse nicht unterschätze, so handle es sich hier, wie
Prof. Wagner betonte, um kirchliche Gesetze und wissenschaftliche Prinzi¬
pien, die sofortige praktische Arbeit und zwar von unten herauf fordern.
Ganz neue Momente boten die Erörterungen über die Instrumental¬
musik des 17. Jahrhunderts, die der Forschung neue Wege weisen. Die Re¬
sultate dieser Debatte, an der sich besonders Dr. Mantuani-Laibach, Dr. Waas-
Wien, Dr. Wagner und Dr. Weinmann beteiligten, wurden auf Anregung des
Vorsitzenden in einer eigenen Resolution (Nr. 2) zusammengefaßt und mit
den anderen Resolutionen der Versammlung zur Annahme vorgelegt:
1) Die Sektion für Kirchenmusik begrüßt vom wissenschaftlich-ästheti¬
schen Standpunkt aus die durch das päpstliche Motu proprio vom 23. No*
vember 1903 angeordnete Pflege des traditionellen Chorals und der klassischen
Polyphonie auf das freudigste. Sie verspricht ihrerseits an der Durchführung
der dort gegebenen Anweisungen energisch mitarbeiten zu wollen.
2) In der Erwägung, daß der allgemeine Verfall der kirchlichen Instru¬
mentalmusik erst im 18. Jahrhundert eingerissen ist, und daß anderseits
im 17. Jahrhundert eine Reihe kirchenmusikalischer Werke mit Instrumental¬
musik existiert hat, die — soweit man bisher zu beurteilen vermag — dem
Geiste und Ernste der Liturgie nicht widersprechen, erklärt die Sektion, daß
eine wissenschaftliche Untersuchung dieser Periode der Kirchenmusik nach
den Quellen eine dringende Aufgabe der Gegenwart sei.
3) Die Sektion erkennt es als ein dringendes Bedürfnis, daß a) an allen
Lehrerseminaren der Kirchenmusik, besonders auch der Pflege des Chorals
ein größerer Platz eingeräumt werde, b) an den Hochschulen Lehrstühle für
Kirchenmusik errichtet werden.
Außer der kirchenmusikalischen Sektion' tagten noch vier weitere Sek¬
tionen, in denen zusammen über 100 Vorträge gehalten wurden, so daß der
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Alte und moderne Kirchenmusik
Unterrichtsminister Dr. Graf Stürgkh bei der Begrüßung des Kongresses mit
Recht sagen konnte: „Die Musikwissenschaft ist heute kein einzelnes Fach
mehr, sie begreift eine ganze Fakultät in sich.“ Mögen die einzelnen Sektionen
hier wenigstens aufgeführt sein:
Sektion Ia: Alte Musikgeschichte,
„ Ib: Neue Musikgeschichte,
„ II: Folklore und exotische Musik,
„ III: Theorie, Ästhetik und Didaktik,
„ IVa: Bibliographie und Organisationsfragen,
„ IV b: Musikalische Länderkunde.
Neben dem wissenschaftlichen Kongreß liefen dann die musikalischen
Aufführungen der damit verbundenen Haydn-Zentenarfeier, beginnend mit der
Festmesse (Mariazeller Messe von Jos. Haydn) in der k. k. Hofburgkapelle und
schließend mit zwei Haydn-Opern. Dazwischen lagen historische Konzerte
mit Chor- und Orchesteraufführungen, Kammerkonzerte usw., ganz abgesehen
von den glänzenden Festabenden bei Hofe, im Unterrichtsministerium und
im Rathaus, kurz ein Programm, das kaum mehr überboten werden kann,
und das man trotz der Überfülle doch wiederum vollauf genießen wollte, er¬
schienen ja Werke in demselben, die wegen ihres gewaltigen Apparates zur
Aufführung nur äußerst selten zu hören sind; ich greife z. B. nur die ^stim¬
mige Messe heraus, die Orazio Benevoli zur Einweihung des Salzburger Doms
schrieb und die seit dieser Uraufführung meines Wissens keine zweite mehr
erlebte.
Die herrlichen Tage sind verrauscht, aber Kunst und Wissenschaft haben
in der Kaiserstadt einen Samen gestreut, der zur goldenen Frucht reifen wird.
In der Hauptstadt des britischen Inselreichs wird der nächste musikwissen¬
schaftliche Kongreß tagen; möge London ein zweites Wien werden 1
Regensburg Dr. Karl Weltmann
Alte und moderne Kirchenmusik
Historisch-kritische Bemerkungen zur Theorie und Praxis
I.
D ie Gegenüberstellung in meinem Thema läßt schon erkennen, daß ich nur
von der mehrstimmigen Kirchenmusik sprechen will und den kirch¬
lichen Gesang, *«’ # 0 * 7 *, den Choral, nicht in den Kreis meiner Betrachtung
ziehe, zumal ja demselben ein eigener ausführlicher Vortrag mit musikalischen
Illustrationen gewidmet sein wird.
Die Gesetze und Vorschriften, welche die Kirche in Betreff der liturgi¬
schen Musik erlassen hat, finden sich niedergelegt in dem denkwürdigen
„Motu proprio Pius X.“ vom 22. November 1903, der „Charta magna“ der
„Musica sacra“. Was sagt nun dieses „Motu proprio“ von der mehrstim¬
migen Musik?
In Ziffer II, Absatz 4, heißt es darüber: „Die vorgenannten Eigenschaf¬
ten — welche die liturgische Musik an sich tragen soll, nämlich die Heilig¬
keit, die Güte der Formen (wahre Kunst) und Allgemeinheit — besitzt
auch im höchsten Grade die klassische Polyphonie, besonders die der römi-
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Alte und moderne Kirchenmusik
sehen Schule, welche im 16. Jahrhundert ihre höchste Vollendung durch Pa-
lestrina erreichte und auch in der Folge Kompositionen von ausgezeichneter
musikalischer und liturgischer Güte hervorzubringen fortfuhr.“
Damit ist dem Palestrinastil die höchste kirchliche Sanktion gegeben
und ich kann es mir hier erlassen, alle jene Werturteile anzuführen, die im
Laufe der Zeit — von Beethoven bis Richard Wagner — diese Stilgattung
als die höchste Kunstform der Musica sacra gepriesen haben. Wichtiger wird
es für uns hier sein, die Bedingungen kennen zu lernen, welche der soge¬
nannte Palestrinastil zu seiner Ausführung fordert
Als die Hauptbedingung hiefür muß die geistige Auffassung gelten.
Ich wage die Behauptung, daß keine Musikgattung der Gegenwart so bis zur
Unkenntlichkeit verunstaltet werden kann, als wie der Palestrinastil. Der
Grund hiefür ist klar. Der Palestrinastil wurzelt in einer Zeit, die gut 300 Jahre
unserem Zeitalter vorausliegt, einer Zeit, die ihre Schöpfungen auf ganz an¬
dere Prinzipien aufbaute als die Gegenwart, einer Zeit endlich, in der die
Sängerrepublik unsere heutigen Chöre um ein Bedeutendes übertraf.
Schon bald nach des großen Pränestiners Tode fielen seine und seiner
Schule Werke der Vergessenheit anheim; der monodische Stil, der damals
seinen Siegeszug durch die Lande antrat, begann ihnen das Grab zu graben.
Und diese Verständnislosigkeit gegenüber dieser klassischen Stilperiode trug
das ganze 17. und 18. Jahrhundert zur Schau, bis endlich um die Mitte des
19. Jahrhunderts die Männer kamen, — allen voran Proske — welche diese
Werke wieder zu neuem Leben erstehen ließen. Es lag dieses Zurückgreifen
im Geiste der damaligen Zeit, der die Romantik im Leben und in der Kunst
ihr Gepräge gab; es lag in der Erneuerung des kirchlichen Lebens, das nach
allen Seiten hin nach einer Beseelung und Vertiefung strebte.
Doch wie kann die oben geforderte geistige Auffassung vermittelt und
erreicht werden? Hauptsächlich auf einem zweifachen Wege: Erstens durch
einen geschulten Dirigenten, zweitens durch oftmaliges Anhören dieser Stil¬
gattung.
Jeder Praktiker wird zugeben, daß ein Dirigent, der klassische Poly-
phonie nur den Noten nach kennt, dieselbe seinem Chore unmöglich zu ver¬
mitteln imstande ist; er wird das ebensowenig zuwege bringen wie einer, der
die Aussprache einer fremden Sprache aus Büchern dozieren will. Hier ver¬
sagt der beste Musiker; nur andauerndes Studium, das sich auf eine erprobte
Praxis gründet, kann zum Ziele führen.
Noch kürzer ist der Weg, wenn die Sänger selbst Gelegenheit haben,
Musteraufführungen in diesem Stile oft zu hören; denn diese werden ihnen
den geistigen Gehalt und die richtige Auffassung am besten erschließen.
Aus diesen Andeutungen ergibt sich schon, was von den sogenannten
modernen Bearbeitungen der alten klassischen Vokalkompositionen, das heißt
Umschreibungen der alten Schlüssel in unsere Violin- und Baßschlüssel zu
halten ist. Sie sind und können weiter nichts sein als Hilfsmittel, Erleichte¬
rungen zur Ausführung der alten Meisterwerke und als solche heißen wir sie
für die Praxis herzlich willkommen. Treten sie aber mit weiteren Ansprüchen
auf und suchen die Chöre in die künstliche Hypnose zu versetzen, daß
mit ihrer Benützung auch der richtige Palestrinavortrag schon fix und fertig
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Alte und moderne Kirchenmusik
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sei, so müssen wir ihnen die goldenen Worte entgegenhalten, die ein Refe¬
rent des Cäcilienvereines im Vereinskatalog niedergeschrieben (R. Quadflieg»
Seite 115): „Nicht mehr das Notenlesen in den alten Schlüsseln, nicht mehr
die Transposition, nicht mehr der Allabrevetakt sind heutzutage die Haupt¬
sache, was von den Sängern gelernt werden muß, sondern der polyphone
Stil, das heißt die Faktur, die Selbständigkeit der Einzelstimme so¬
wohl bezüglich des Textes und seiner Akzente als auch der Taktzeiten,
die Heraushebung der Themata und der Nachahmungen, die Über¬
windung der Taktstriche, beziehungsweise der betonten und unbetonten
Taktzeiten, die Gewöhnung an die Kirchentonarten, und ich möchte
noch hinzusetzen und doppelt unterstreichen, die Atemökonomie und Phra¬
sierung etc. etc. sind es, was not tut. Sämtliche Neueditionen können näm¬
lich allein noch nicht helfen; es muß eine systematische Schulung der
Sänger im Palestrinastil angestrebt und — erreicht werden."
Damit sind zugleich schon die Schwierigkeiten der klassischen Poly-
phonie ausgesprochen, und alle diese einzelnen Momente zusammengenommen
bilden die Grundbedingungen des geistigen Erfassens.
Freilich soll nicht geleugnet werden, daß der Palestrinastil anderseits
Eigenschaften besitzt, die seine Ausführung bedeutend leichter erscheinen
lassen als die mancher anderen Kirchenkompositionen, und dahin ist vor allem
das Treffen der Intervalle zu rechnen. Wer sich in das immerwiederkehrende
Tonmaterial dieser diatonischen Musik einmal eingesungen und eingelebt hat,
für den bieten neue Messen dieser Stilgattung soviel wie keine Schwierigkeit
mehr. Ich kann hier aus einer langjährigen Praxis sprechen — zuerst als
Chorknabe, dann als Gesanglehrer und Kapellmeister — und jeder, der die
gleichen Erfahrungen hinter sich hat, wird mir das bestätigen. Als wir als
zehnjährige Sängerknaben des Regensburger Domchors das erste und zweite
Rekrutenjahr hinter uns hatten, war es uns vollständig gleichgültig, welche
Messe oder Motette etc. der Kapellmeister auflegte, wir sangen — ganz außer¬
ordentliche Fälle ausgenommen — alles vom Blatte. Selbstverständlich wurde
aber dennoch immer alles genau und sorgfältig studiert und geübt, und so
ist es noch heute. Und diese ständige Übung und Schulung, bei der diese
Stilgattung eben sozusagen die tägliche Kost bildet, ermöglicht es auch dem
Regensburger Domchor alljährlich an die hundert neue Nummern von alten
Meistern der klassischen Polyphonie zu singen — man denke nur an die Kar¬
woche — eine Tatsache, die für die Fremden staunenswert, für die Einge¬
weihten etwas ganz Natürliches ist
Allein das Treffen ist eben noch nicht der Vortrag, mit dem der Pa¬
lestrinastil steht oder fällt Würde es nur auf das Treffen ankommen, so
müßten die Aufführungen der klassischen Polyphonie in den Hofkirchen un¬
serer Residenzstädte, wo erstklassige Kräfte, meist Mitglieder der Hoftheater,
zur Verfügung stehen, auch erstklassige sein. Meist sind dieselben aber sehr
weit davon entfernt; es fehlt hier an der geistigen Auffassung, an dem Mit¬
fühlen, an dem Sichhineinleben, ja in den meisten Fällen schon in der Er¬
kenntnis, daß diese Stilgattung sich von der modernen Kirchenmusik unter¬
scheidet wie in der Malerei ein Fiesoie von einem Mackart Wie sich dann
erst eine solche Aufführung gestaltet auf unseren Landchören, denen auch
noch das technische Können mangelt, wo der Chorregent Palestrina nicht
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Alte und moderne Kirchenmusik
einmal den Namen nach kennt und bei irgendeiner Feierlichkeit die nächst¬
beste Palestrinamesse aufführt, davon kann sich nur der eine Vorstellung
machen, der eine solche Aufführung gehört und miterlebt hat Als eine wei¬
tere Erfahrungstatsache mag noch ferner angeführt werden, daß sich die
Werke der klassischen Polyphonie am besten in der Besetzung mit Knaben¬
stimmen für Sopran und Alt aufführen lassen. Die Knabenstimmen eignen
sich hiezu wegen ihres gleichmäßigen Klangcharakters vielmehr als die Frauen¬
stimmen, die in diese objektive Stilgattung ein unruhiges, fast möchte ich
sagen sinnliches Moment hineintragen und mehr für die moderne Musik ge¬
schaffen sind.
Bedeuten nun unsere Ausführungen nicht einen direkten Warnungsruf
vor dem Palestrinastil? Gewiß nicht; sie legen nur die notwendigen Bedin¬
gungen für seine gediegene Ausführung dar und geben den Rat, die klassi¬
sche Polyphonie nur da zu singen, wo die Grundlagen hiefür gegeben sind,
sonst ist der kirchlichen Kunst mehr geschadet als genützt.
Der Weg zur klassischen Polyphonie ist ja nicht allzuschwer. Man
suche einen verständnisvollen Chorleiter und beginne nicht mit Werken die¬
ser Meister selbst, sondern mit den Kompositionen, welche die Brücke zu
ihnen schlagen. Dahin gehören die in diesem Stile geschaffenen Werke von
Haller, Nekes, Auer und anderen; auch die leichteren Schöpfungen der nach¬
klassischen Meist«;, besonders aus der Venetianischen Schule, wie sie uns z. B.
die treffliche Sammlung von Lück im I. Band (Regensburg, Pustet) bietet,
können herangezogen werden, bis man sich dann an die Originalwerke wagen
darf. Daß gute Aufführungen im alten Stil erreicht werden können, wenn
Begeisterung und Fleiß die Triebfedern sind, haben viele Chöre bewiesen;
ich erinnere z. B. nur an den seinerzeitigen Musterchor in dem abgelegenen
Gebirgsdörfchen Gaschurn in Tirol. Darum mutig voran; der Palestrinastil
ist des Schweißes der Edlen wert!
II.
Meinen Ausführungen über die moderne Kirchenmusik stelle ich die
schönen und weitausschauenden Worte des Motu proprio (Absatz II. Ziffer 5)
voraus, die das ganze Programm für diese Stilgattung künden:
„Die Kirche hat immer den Fortschritt der Künste anerkannt und be¬
günstigt, indem sie zum Gottesdienst all das, was das Genie im Laufe der
Jahrhunderte Gutes und Schönes zu erfinden wußte, zuließ, immer jedoch
unter Wahrung der liturgischen Gesetze. Daher ist auch die neuere Musik
in den Kirchen zugelassen, wenn sie ebenfalls Kompositionen von solcher
Güte, Ernsthaftigkeit und Würde darbietet, daß dieselben in keiner Weise der
liturgischen Verrichtung unwürdig sind.“
Zwei Momente von hervorragendster Bedeutung sind hier ausgesprochen:
1. Die katholische Kirche läßt die moderne Kirchenmusik zu;
2. sie fordert ihre Einfügung in die liturgischen Gesetze.
Mit hohem Danke muß die klare Ausdrucksweise des Motu proprio in
bezug auf die Zulassung der modernen Kirchenmusik begrüßt werden; denn
damit fallen alle jene ungerechten Anklagen, die im Laufe der Zeiten gegen
die Kirche als angebliche Unterdrückerin und Feindin des künstlerischen Fort¬
schrittes geschleudert wurden. Und gerade manche Komponisten konnten
sich in diesen Vorwürfen nicht genug tun; die so oft wiederholte Anklage:
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Alte und moderne Kirchenmusik
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„Warum hat die katholische Kirchenmusik unter den großen modernen Kom¬
ponisten keine Vertreter mehr?“ erfuhr immer wieder die stereotype Antwort:
„Weil sie den modernen Stil in ihrer Liturgie nicht duldet*
Eigentlich hätte schon die bisherige Praxis der Kirche diese Unzufrie¬
denen eines Besseren belehren können; denn einem gesunden Fortschritt hat
sich die Kirche niemals verschlossen. Sie sah ihre Gotteshäuser im romani¬
schen Stil ihre Pracht entfalten; sie sah die gotischen Dome zum Himmel
streben; sie schaute die Periode der Renaissance, des Rokoko und Barock;
sie zollt der Architektur der Gegenwart ihre Anerkennung, aberall die weit¬
gehendste Forderung. Und so auch in der Musik.
Als nach dem ersten Jahrtausend dem altehrwardigen Choral die junge
Polyphonie sich an die Seite stellte, da war es die Kirche, welche ihr die
Tore öffnete. Man hat zwar die Behauptung gewagt, daß die Kirche „in der
polyphonen Kunst Ketzertum und Kirchenschändung sah* (Dr. Viktor Lederer
„Ober Heimat und Ursprung der mehrstimmigen Tonkunst*, Leipzig, 1908,
Seite 117); man hat besonders das Dekretale Johann XXII. „Docta S. S. Patrum*
als Beweis hiefQr anführen wollen; mit welchem Rechte oder vielmehr mit
welchem Unrechte habe ich vor nicht allzulanger Zeit in einer kleinen Studie
(„Kirchenmusik“, Paderborn, 1908, Nr. 8, Seite 171 ff.) zur Genüge beleuchtet,
und es wäre nachgerade nicht bloß ein Postulat der Wissenschaft, sondern
auch ein Akt der Gerechtigkeit, wenn derartige Vorwürfe aus der musikhi¬
storischen Forschung für die Zukunft ausscheiden würden; denn keine Kunst
hat vielleicht der Kirche mehr zu danken als gerade die Musik.
Und als dann in Florenz, dem Brennpunkt des literarisch-schöngeisti¬
gen Lebens, die Monodie, der Einzelngesang seine Auferstehung feierte, hat
die Kirche der neuen Musikgattung ihre Tore verschlossen? Keineswegs.
Lodovico da Viadana war es (geb. 1564), der die neue Stilgattung in die
0 Hallen der Kirche einführte und ihr Heimatsrecht verschaffte. Freilich haben
dann die späteren Zeiten der Kirche schlechten Dank hiefür gezollt und ihre
geweihten Räume zum Konzertsaal umgewandelt
Aber eines wird und muß die Kirche stets verlangen, wenn sie nicht
selbst dem Verfalle sich weihen will, daß das Wesen, der Geist, der innere
Kern stets der gleiche bleibe, unberührt von dem Wandel der Jahrhunderte.
Der Kirche aber das Recht, für ihre Kultformen bestimmte Normen aufzu¬
stellen, absprechen zu wollen, wäre gleichbedeutend mjt einer Negierung
ihrer gesetzgeberischen Gewalt und deswegen kann dieses Moment hier wohl
vollständig ausscheiden.
Eine andere Frage ist die, ob bei den von der Kirche gegebenen Vor¬
schriften und Einschränkungen ein musikalisches Kunstwerk zustande kom¬
men kann, und diese Frage muß unbedingt bejaht werden. Die kirchlichen
Vorschriften in bezug auf die Musica sacra sind zum großen Teile nega¬
tiver Natur, das heißt die Kirche bezeichnet speziell, was sich für das
Heiligtum nicht eignet, also: die musikalischen Kompositionen modernen Stils
sollen „nichts Profanes enthalten, nicht an die in Theatern üblichen Motive
erinnern,* es sollen keine ungeeigneten Instrumente verwendet werden wie
Pianoforte, Trommel, Glockenspiele etc. Ferner: die Kompositionen sollen
nicht zu lang sein, speziell das Gloria und Credo, damit die heilige Handlung
nicht aufgehalten werde, die einzelnen Formen sollen auseinander gehalten
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Alte und moderne Kirchenmusik
werden, so daß sich ein Kyrie in der Komposition von einem Hymnus unter¬
scheidet, die Texte dürfen nicht verändert oder umgestellt werden, unnötige
Wiederholungen oder Zerstückelung von Silben müssen vermieden werden etc.
' Ebenso beziehen sich dann die positiven Vorschriften auf alle jene Mo¬
mente, welche die Heiligkeit und die Güte der Formen bedingen. Ich frage:
„Hindern diese liturgischen Vorschriften das künstlerische Schaffen? Sind
sie nicht vielmehr Wegweiser für die Komponisten, um sie vor Irr- und Ab¬
wegen zu bewahren?“
Bestehen innerhalb der weltlichen Musik manchmal nicht noch engere
Schranken? Denken wir an einen Satz für Männerstimmen, an einen
Acapella-Chor, an ein Streichquartett! Geht der Komponist über die Eigen¬
art und Sphäre dieser spezifischen Formen hinaus, indem er z. B. dem Streich¬
quartett orchestrale Effekte zumutet, so steht er nicht mehr auf dem Boden
der reinen Kammermusik, ebensowenig wie der Tonsetzer, der bei einem
Acapella-Werk nicht mehr gesangsmäßig, sondern orgel- oder instrumental¬
mäßig schreibt. Emanzipiert sich der Kirchenkomponist von dem kirchlich¬
liturgischen Text und verwendet Formen und Töne, wie sie nur die Profan¬
musik kennt, so trägt er eben ein wesensfremdes Prinzip in die Kirche hinein.
Denn das ist gerade der ausschlaggebende und leider zu wenig beachtete
Faktor in der kirchenmusikalischen Kunst, daß sie nicht für sich allein, los¬
gelöst von der liturgischen Feier, als musikalisches Kunstwerk be¬
trachtet werden darf, sondern nur in Verbindung mit der heiligen
Handlung, ganz in analogem Sinne — wenn dieser Vergleich gestattet ist
— wie das Richard Wagnersche Gesamtkunstwerk.
Gewiß ist die Kunst im allgemeinen und bei allem Dienste und aller
Unterordnung unter die höchsten Menschheitsideale eine Art höherer Hedo¬
nismus, aber die kirchliche Kunst überbietet und überflügelt diesen Egois¬
mus. Ästhetischer Genuß, hohe ideale Freude ist ihr noch nicht das
Höchste; sie strebt die kontemplative Hingabe an, die Verherrlichung des •
Allerhöchsten; sie will mit einem Worte Gottesdienst sein. Freilich muß
zugestanden werden, daß es hier nicht immer leicht ist, die Grenzlinie zu
ziehen, aber ein ästhetisch — ich sage nicht kirchlich — feinfühlender Mu¬
siker und Tonschöpfer wird sicher das Richtige treffen; es wird seinem
künstlerischen Empfinden widerstreben, eine Melodie zu schaffen, die sich
nicht für das Gotteshaus eignet. Zeitcharakter und nationale Eigenart mögen
hier kleine Verschiebungen verursachen, aber niemals eine vollständige Aus¬
schaltung dieses Prinzips; darum gilt auch hier das Wort der Heiligen Schrift:
„Gebet dem Kaiser, was des Kaisers und Gott, was Gottes ist*
Wir haben gesehen: in der mehrstimmigen Kirchenmusik bestehen zwei
Richtungen nebeneinander, die beide ihre Berechtigung haben und je
nach den vorhandenen Kräften und Umständen gepflegt werden sollen. Darf
die moderne Kirchenmusik im allgemeinen vielleicht auf größeres Verständnis
seitens des gläubigen Volkes, vielleicht auch mehr auf äußere Wirkung rech¬
nen, so kommt bei den Werken der alten Meister der Unterschied zwischen
profaner und kirchlicher Musik zur intensiveren Ausprägung; es liegt auf
ihnen ein aerugo nobilis, und wenn ich so sagen darf, die ehrwürdige Patina
der Jahrhunderte.
Regensburg Dr. Karl Wehmanii
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Zur Urgeschichte des deutschen Kirchenliedes
Z ur Geschichte des deutschen Kirchenliedes“ einen kleinen Beitrag für
diesen Kongreß zu spenden, hatte ich s. Z. versprochen. „Zur Urge¬
schichte des deutschen Kirchenliedes“: diese Fassung hatte ich vielleicht
besser und richtiger dem Thema des heutigen kurzen Vortrages geben sollen.
Der Ursprung des deutschen Kirchenliedes — so lesen wir in dem hüb¬
schen Überblick über das Kirchenlied, den unser verehrter Dr. Weinmann
seiner Geschichte der Kirchenmusik eingefügt hat — „der Ursprung dieser
allmählich auftauchenden Lieder mag wohl in dem aus der Liturgie wohlbe¬
kannten Rufe „Kyrie eleison“ zu suchen sein, den das Volk bald überall, wo
es nur immer sein religiöses Gefühl spontan zum Ausdruck bringen konnte,
ertönen ließ: vor und nach der Predigt, bei Bittgängen und Prozessionen,
sogar vor dem Kampfe.“
Auf die dem Musiker naheliegende Frage, nach welchen Melodien das
deutsche Volk seine „Kyrie eleison“ gesungen habe, versagen der Regel nach
die Musikhistoriker ebenso wie die Germanisten. Bäumker schreibt (im ersten
Bande seines Werkes über das kath. deutsche Kirchenlied, 'S. 7): „Melodien
dieses Volksrufes sind, wie es scheint, nicht aufgezeichnet worden. Es läßt
sich aber annehmen, daß die verschiedenen Singweisen des ,Kyrie eleison 1
im gregorianischen Choral, welche das Volk beim sonn- und feiertägigen
Gottesdienste in der Kirche singen hörte, die Grundlage seiner Rufe bildeten.“
Als ich vor einiger Zeit für das Buchbergersche „Kirchliche Handlexi¬
kon“ den Artikel „Kirchenlied" zusammenstellte, hatte ich Veranlassung, die¬
ser Frage wenigstens für einen Augenblick die Aufmerksamkeit zuzuwenden.
„Meist hat man diesen Ruf,“ so faßte ich damals kurz zusammen, „mit dem
Anfang der hl. Messe in Beziehung gebracht und vermutet, er sei nach einer
Kyrie-Melodie des Ordinarium gesungen worden. Eher wird indes an die
,Litanei von allen Heiligen 1 zu denken sein, die mit diesen Rufen beginnt und
schließt, und deren Melodie allgemein bekannt und zum Massengesang besser
geeignet war. Übrigens haben die reicheren Formen des Kyrie in der Messe
erst die früheren einfachen syllabischen Melodien verdrängt, nachdem die
Sängerschule dem Volke diesen Gesang genommen hatte. Auch das Kyrie
der Messe war ja ursprünglich Litaneigesang.“ Zu diesen Auffassungen war
ich gekommen durch mündliche Nachrichten, die mir über diesbezügliche
Forschungen des Universitätsprofessors Dr. Jostes in Münster (Westfalen)
zugegangen waren. Inzwischen hat Jostes unter dem Titel „Kyrieleison“ eine
Studie über den Ursprung des deutschen Verses in den Berichten und Mit¬
teilungen der Königlichen Vlämischen Akademie zu Gent, (Jahrgang 1908), ver¬
öffentlicht. Wie mir scheinen will, hat diese Studie in den Kreisen der
Kirchenmusiker nicht die Beachtung gefunden, auf die sie Anspruch machen
kann. Da es mir möglich ist, bei dieser illustren Gelegenheit eines interna¬
tionalen musik-wissenschaftlichen Kongresses ihren Hauptinhalt und ihr
Hauptergebnis, soweit beides für den Kirchenmusiker von Belang ist, zu skiz¬
zieren und etwas zu erläutern, mag die Hoffnung berechtigt sein, das Inter¬
esse der Freunde der Kirchenmusik und zumal des deutschen Kirchenliedes
für diese Forschungen zu erweitern und zu vertiefen. —
Hoffmann von Fallersleben hat in seiner „Geschichte des deutschen
Kirchenliedes“ die Bedeutung des uns hier interessierenden Rufes „Kyrie elei-
Ktrcheammik. Jahrbuch. 23. Jahrg. 8
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Zur Urgeschichte des deutschen Kirchenliedes
son“ erörtert. Er behauptet mit großer Entschiedenheit, in dieser frühen Zeit
sei unter Kyrieleison nur der Anfang der römischen Litanei, seien nur immer
die bloßen Worte: Kyrie eleison zu verstehen. Er lehnt ausdrücklich ab, daß
für jene Zeit Kyrie eleison die ganze Litanei bezeichnen könne. Die Hoff-
mannsche Ansicht ist heute weit, man kann vielleicht sagen, fast ausschlie߬
lich verbreitet. Aber sie ist unbegründet, sie ist direkt unrichtig. Sie wird
schon durch die Tatsache widerlegt, daß im Altfranzösischen ,Kyrielle‘ oder
,Quirielle‘ „Gott und die Heiligen" (Dieu et la Kyrielle) bezeichnet Es ist
nicht möglich, sich die Entstehung dieser Bedeutung zu erklären, wenn man
nicht ,Kyrielle' ursprünglich als die Bezeichnung für den Gesamtinhalt der Li¬
tanei faßt Es ging mit dem Worte Kyrieleison ebenso wie mit den Aus¬
drücken Pater Noster, Credo, Magnificat usw. Der Anfang eines Textes
wurde der Name für den ganzen Text. Auch heute ist es ja noch ähnlich
so mit den päpstlichen Enzykliken. Kyrieleison bezeichnet für die uns hier
interessierende Zeit und Gegend die mit diesen Worten anfangende Litanei;
und wo nicht ein positiver Grund diese Auffassung verbieten sollte, müssen
wir auch unter diesem Wort stets die ganze Litanei verstehen. Die gegen¬
teilige Anschauung Hoffmanns könnte nur dann Anspruch auf Annehmbarkeit
erheben, wenn die dreifache Wiederholung des Kyrie eleison, Christe eleison,
wie sie in der Meßliturgie noch heute geübt wird, ursprünglich wäre und
wenn sich aus ihr die Litanei entwickelt hätte. Aber das gerade Gegenteil
ist der Fall. „Es besaß schon," wie Grisar in der Zeitschrift für kath. Theo¬
logie, 1885, S. 567 f. bemerkt, „die kirchliche Liturgie, wie sie in den aposto¬
lischen Konstitutionen beschrieben ist, in der Vormesse eine Litanei als
Wechselgesang zwischen dem vorrezitierenden Diakon und dem Volke. In
derselben wurde vom Diakon für die verschiedensten Anliegen gebetet und
vom Volke jedesmal mit Kyrie eleison geantwortet... Unser verkürztes neun¬
maliges Kyrie in der Messe . . . erscheint als ein ehrwürdiger Rest jener Li¬
tanei der Urkirche.“ Der ursprüngliche Wechselgesang blieb in der Kar-
samstagsliturgie und in den Bittprozessionen bis auf unsere Zeit bestehen,
und zwar mit derselben Bezeichnung, die er bereits vor mehr als tausend
Jahren trug.
In der ersten Periode des Mittelalters, die hier allein in Betracht kom¬
men kann, wurden die Bittprozessionen nicht nur regelmäßig an bestimmten
Tagen des Kirchenjahres gehalten, sondern auch bei sonstigen Anlässen, so
oft König und Volk sich einen besonderen Schutz und Segen des Himmels
erflehen wollten. Diese Rogationsprozessionen bekamen ebenfalls den Namen
„litaniae“. „Notandum autem," so heißt es bei Walafried Strabo (de rebus
ecclesiasticis, cap. 28), „letanias non tantum dici illam recitationem nominum,
qua sancti in adjutorium vocantur infirmitatis humanae, sed etiam cuncta,
quae supplicationibus fiunt, orationes (al. rogationes) appellari." So kam es,
daß cum letaniis oder letanice procedere die Bedeutung gewann: eine Pro¬
zession halten, wobei die Litanei gesungen wurde. Zuweilen wurden vom
Kaiser oder König mit Vorbedacht außergewöhnliche Prozessionen für das
ganze Land angesetzt, denen hie und da ein Fasten voraufging. So heißt es
in einer Bestimmung Pipins aus dem Jahre 764: „Et ob hoc atque pro aliis
causis nostris opus est nobis illi gratias agere ... Sic nobis videtur, ut abs-
que jejunio indicto unusquisque episcopus in sua parrochia letanias faciat,
non cum jejunio nisi tantum in laude dei." Ähnlich bei Karl d. Gr. „Nos
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Zur Urgeschichte des deutschen Kirchenliedes 115
autem domino adjuvante, tribus diebus litaniam facimus, id est, Nonis Sep-
tembris quod fuit Lunis die, incipientes et Martis et Mercoris, dei misericor-
diam deprecantes, ut nobis pacem et sanitatem atque victoriam et prospe-
rum iter tribuere dignetur ... Et a vino et carne ordinaverunt sacerdotes
nostri, qui propter infirmitatem aut senectudinem aut juventudinem abstinere
poterant, ut abstinuissent ... et interim quod ipsas litanias faciebant, dis-
calceati ambulassent.“ In solchen Litaneien kamen gewöhnlich auch Gebets¬
anrufungen für den König vor; z. B. „pro summo pontifice Nicolao, Ludovico
rege, Hemma regina, prole regia, judicibus et exercitu Francorum et Aleman-
norum.* Aus dieser Verbindung des religiösen und weltlichen Momentes er¬
klärt es sich, warum man auch bei politischen Ereignissen so gern zur Li¬
tanei die Zuflucht nahm, und warum man sie auch vor und nach der Schlacht
sang. Im Berichte vom Siege Arnulfs über die Normannen (891 bei Löwen)
heißt es: „Eodem in loco (auf dem Schlachtfeld) letanias celebrare rex prae-
cipit; ipse cum omni exercitu laudes (Akklamationen!) deo canendo proces-
sit, qui talem victoriam suis tribuit, ut uno homine tantum occiso de parte
christianorum, compertum est, tanta millia hominum ex altera parte perie-
runt“ Arnulf sang also (allein oder unterstützt von einigen Sängern) vor,
und das ganze Lager antwortete. Das war die allgemeine Gewohnheit. So
berichtet auch das Ludwigslied von Ludwig III. nach dem Siege über die Nor¬
mannen im Jahre 881. Aus dieser Gewohnheit fällt übrigens auch Licht auf
eine Stelle, die m. E. nicht selten falsch gedeutet wird. Cosmas Pragensis
berichtet uns (irrig zum Jahre 967; es war im Jahre 973): Als der Mönch
Dethmar zum Bischöfe von Prag eingesetzt wurde, „juxta altare sancti Viti
intronizatur ab omnibus, clero modulante: Te Deum laudamus. Dux autem
et primates resonabant: Christe kinado, kyrie eleison und die heiligen alle
helfant uns, kyrie eleison et caetera; simpliciores autem et idiotae clamabant
kyrieleison.* Die Geistlichkeit singt das Te Deum. Nachher stimmt Herzog
Boleslaus II. von Böhmen, auf dessen Wunsch hin Dethmar Bischof gewor¬
den war, mit seinen Großen an** Christe kinado, kyrie eleison und die hei¬
ligen alle helfant uns kyrie eleison et caetera. Die Worte „und die heiligen
alle helfant uns* wurden wohl nicht so, wie sie dastehen, gesungen. Sie
sind vielmehr wahrscheinlich eine kurze Zusammenfassung der verschiedenen
Heiligen, die angerufen werden. Das „et caetera* des Cosmas Pragensis
scheint ebenfalls anzudeuten, daß hier von der allbekannten Litanei die Rede
ist Die einfachen und gewöhnlichen Leute (simpliciores et idiotae), die den
lateinischen Text der Litanei nicht kannten, clamabant kyrieleison, „fielen, so
würden wir heute sagen, jedesmal bei den Responsorien der Litanei mit ihrem
Gesänge ein.“
Die Worte „Litaniae* und „Kyrieleison“ waren von altersher in den
deutschen Landen Synonyma. Daran ändern auch die paar Stellen nichts,
die Hoffmann für seine gegenteilige Meinung anführt, z. B. aus der Regel des
hl. Benedikt, aus den Capitula monachorum Sangallensium, aus der Ur¬
kunde des Papstes Sergius III. von 910. Zu den Erwägungen des Professors
Jostes möchte ich hier vom Standpunkte des praktischen Musikers aus bei
fügen, daß eine Reihe von Texten, die über das Kyrieleison handelt, geradezu
als unverständlich erscheint, wenn man sie von einem in einfacher Melodie
oft und oft wiederholten Kyrieleison bezw. Christeleison verstehen soll. Die
Sache liegt vollständig anders, wenn es sich um ganze Litaneien handelt.
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Zur Urgeschichte des deutschen Kirchenliedes
Hier ist Abwechslung in Text und Melodie, in Wort und Stimmung. Dazu
erinnere man sich der psychologisch und kulturhistorisch interessanten Vor¬
liebe des breiten Volkes für Litaneiformularien bei Gebet und Gesang.
Jostes macht übrigens darauf aufmerksam, daß man bei der Gleichung
Kyrieleison-Litaniae nicht ohne weiteres annehmen dürfe, es sei als Kyrielei-
son immer die ganze Litanei gesungen worden. Man mag sie, zumal wenn
sie improvisiert werden mußte, zuweilen gekürzt haben, wie man den Gesang
der Volkslieder auf eine oder wenige Strophen beschränkt, wenn man den
Text nicht weiter kennt. Jedenfalls waren aber die charakteristischen Stich¬
worte wie z. B. Sancta Maria, Peccatores, Agnus Dei allgemein bekannt. Der
Einwand Hoffmanns, obschon das Kyrie eleison nur zwei Worte seien, so
seien diese doch dem Volke fremd und unverständlich gewesen und es habe
gewiß lange Zeit schwer gehalten, ihm das Singen oder vielmehr Rufen der¬
selben beizubringen, dieser Einwand wird von Jostes mit Recht zurückge¬
wiesen. Jostes betont, daß auch heute noch katholische Bauern, ohne Latein
und Griechisch studiert zu haben, den Inhalt der Litanei verstehen und, auch
ohne in der Schule viel Singen gelernt zu haben, frisch am Litaneigesang sich
beteiligen. Bei der Häufigkeit des Litaneigesanges lag die Sache im frühen
Mittelalter noch leichter wie heute.
Hier sei nun als Schlußfolgerung der Satz ausgesprochen, der dem Kirchen¬
musiker sehr wertvoll ist, obwohl der Germanist Jostes ihn nicht ausdrücklich
formuliert: Das „Kyrieleison“, das als Vorbote und Vater des deutschen Kirchen¬
liedes zu gelten hat, ist die Allerheiligenlitanei mit der damals übli¬
chen, vielleicht gegen die heutige Weise noch einfacheren Choral¬
melodie. Die Litanei war der populärste, beliebteste, meist gebrauchte Ge¬
sang des 9. Jahrhunderts. Wer auch nur etwas singen konnte, konnte we¬
nigstens die Litaneiresponsorien singen. Jetzt verstehen wir, weshalb man
für jene Kyrieleison kaum Gesangweisen aufgezeichnet findet: die Melodie
der Litanei war so bekannt, — damals noch mehr wie heute — daß man
sie wirklich nicht aufzuzeichnen brauchte.
Mit ein paar Sätzen, meine verehrten Herren, lassen Sie mich nun noch
auf die sog. »Leisen“ zu sprechen kommen. Man hat wohl meistenteils als
die erste Phase in dem mit unseren Kyrieleison beginnenden Entwicklungs¬
prozeß des deutschen Kirchenliedes den in der zweiten Hälfte des 9. Jahr¬
hunderts auftretenden Versuch bezeichnet, unter die Jubilationen dieser Ky¬
rieleison deutsche Texte zu legen, ein ganz ähnliches Verfahren wie bei den
Sequenzen Notkers; von dem am Schluß beibehaltenen und immer wieder¬
kehrenden „Kyrieleis“ hätten dann diese Gesänge den Namen »Leisen“ er¬
halten. Die Beziehung der »Leisen“ zum Kyrieleison oder, was dasselbe sagt,
zur Allerheiligenlitanei ist aber noch viel enger, sie ist geradezu organisch.
In bezug auf die Metrik haben wir in den ältesten Leisen wie im Otfrieds-
liede die Kurzverse mit den je vier Hebungen, die wir in den Responsorien
der Litanei vorfinden: T& rogämus aüdi nös. Oder Mlseröre nöbis. Oder
Christe aüdl nös. Schließlich ist ja das Kyriö elölsön und Christa eleisön
selbst jedesmal ein Otfriedscher Kurzvers, wie ja schon durch das dem
Kirchenmusiker geläufige Petruslied bekannt ist.
Ein zweites. Wie sich das Kyrie der Messe auswächst zu den Tropen,
in ähnlicherWeise entfaltet sich um die gleiche Zeit die Allerheiligenlitanei
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in deutscher Sprache zu den „Leisen“. Es ist wohl kein Zufall, daß Otfricds
Lehrer Rhabanus Maurus die Allerheiligenlitanei in lateinische Distichen um-
goß. Die ältesten Kyrietropen der Messe, des Rhabanus Maurus Distichen
zur Litanei und die ältesten Leisen stehen in derselben Reihe.
Und endlich drittens. Die Vermutung ist vielleicht nicht zu gewagt,
daß die Melodie der ältesten Leisen keine andere war als die der Respon-
sorien aus der Allerheiligenlitanei. Es ist wahr, das älteste uns mit der
Neumenschrift erhaltene deutsche Kirchenlied, das bereits erwähnte St. Petrus¬
lied, hat schon eine andere, etwas reichere Melodie. Die historische Ver¬
kettung der Zusammenhänge zwingt uns fast dazu, in den uns erhaltenen
Kyrietropen nach Ähnlichkeiten mit den Neumen des Petrusliedes zu for¬
schen und aus dem melodischen Material eines Kyrietropus heraus eine
Transskription dieser Neumen zu versuchen. Vielleicht kommt man so zu
sichereren Resultaten, als die sind, die Böhme und später Mathias mit ihren
Entzifferungen des Petrusliedes erreichen konnten.
Ich mag diese anspruchslosen Bemerkungen zur Urgeschichte des deut¬
schen Kirchenliedes nicht zu Ende führen, ohne dem Gefühle lebhafter Freude
darüber Ausdruck zu geben, daß durch die eindringenden, jahrelangen Stu¬
dien eines Germanisten die Musikwissenschaft in einem wichtigen Punkte
ihrer gelehrten Arbeit so wesentliche Förderung gewonnen hat. Wenn ich
recht sehe, sind die Forschungen von Jostes geeignet, uns für die Aufklärung
der ersten Zeiten des deutschen religiösen Volksgesanges neue Wege zu zei¬
gen. Jedenfalls stellen sie uns neue Probleme. Wir haben Grund, die bis¬
her landläufigen Urteile über die Entstehungsgeschichte des deutschen Kirchen¬
liedes zu revidieren.
Paderborn Dr. Hermann Müller
Ober gregorianischen Choral
E s war ein glücklicher Gedanke des vorbereitenden Komitees für die Haydn¬
feier, unter die künstlerischen Darbietungen dieser Tage eine Vorführung
gregorianischer Choräle aufzunehmen.
Haydns Beziehungen zum liturgischen Gesang der Kirche sind bisher
noch nicht untersucht worden. Ohne Zweifel hat der Knabe beim Schul¬
meister Frankh in Hainburg die erste Bekanntschaft mit ihm gemacht; das
gesangliche Repertorium der Stadtkirche wird nicht ausschließlich aus Figural-
musik bestanden haben. Wir erfahren von Haydn selbst, daß er schon „in
seinem sechsten Jahre ganz dreist einige Messen auf dem Chor herabsang". 1 )
Jedenfalls hat Haydn mit sechs Jahren auch schon Choral gesungen. Im
Kapellhaus zu St. Stephan war der musikalische Betrieb ein ungleich inten¬
siverer und reichhaltigerer. Der tägliche Chordienst war auch auf chorali-
sche Leistungen angewiesen und Haydn mußte da mithelfen. Inwiefern er in
den späteren Jahren, welche die Früchte seines Genies und unermüdlicher
Arbeit reifen sahen, mit dem Choral in Verbindung blieb, wird sich dann am
sichersten feststellen lassen, wenn einmal seine gesamten Kirchenwerke ih
kritischer Neuausgabe vorliegen. Der kindlich fromme Sinn des großen Man-
>) Vgl. C. F. Pohl, Jos. Haydn, Berlin 1875, Band 1, S. 21.
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Ober gregorianischen Choral
nes berechtigt uns zur Annahme, daß der Knabe seinen Choral andächtig ge¬
sungen hat. Ohne Zweifel ist daher eine ChoralaufFahrung bei einer Haydn¬
feier am rechten Platze und wäre es nur, um die Erinnerung an seine Knaben¬
zeit zu wecken.
Indem wir solcherart das Andenken Haydns ehren, verfolgen wir noch
einen anderen Zweck. Wir tagen unter den Auspizien der internationalen
Musikgesellschaft, welche vorzüglich der wissenschaftlichen Pflege der musika¬
lischen Kunst dienen will. Unter den Arbeitsgebieten der Musikwissenschaft
ist aber keines, das sich an Umfang, Bedeutung und Sicherheit der Resultate
mit der musikgeschichtlichen Forschung messen kann. Wie die Dinge liegen,
wird die Historie noch für lange Zeit die führende Rolle in der Wissenschaft
von der Musik einnehmen; die Verhandlungen unseres Kongresses illustrieren
dies Verhältnis zur Genüge. Unter diesem Gesichtspunkte möge die heutige
Vorführung als eine historische Demonstration gelten. Sie soll die interes¬
sante und ruhmreiche Kunst des liturgischen Chorals in alter Zeit Ihrem Ver¬
ständnis und, wie wir hoffen, auch Ihrer Wertschätzung näher bringen.
Ein hochherziger Entschluß des gegenwärtigen Oberhauptes der katho¬
lischen Kirche hat diese Kunst nach langer Vergessenheit der Übung der Ge¬
genwart wiedergeschenkt. Die vatikanische Ausgabe des traditionellen Cho¬
rals, obschon noch nicht in allen Teilen vollendet, schickt sich zum Einzug
auf unsere Kirchenchöre an. Sie wird eine Umgestaltung des Choralunter¬
richts und der Choralpraxis zur Folge haben, und wenn verständnisvoll
durchgeführt, wird diese Reform der Liturgie und der musikalischen Kunst
zum großen Nutzen gereichen. Für diese Reform möchten wir werben und
in Ihnen die Überzeugung befestigen, daß das Choralwerk Pius X. uns eine
eigenartige Welt von hoher Schönheit und künstlerischer Weisheit vermittelt.
So möge unsere Aufführung auch eine Huldigung sein für die verehrungs¬
würdige Person des Gesetzgebers der gregorianischen Restauration.
Wer die erstaunlich große Zahl liturgischer Melodien des Mittelalters
mit kritischem Blick überschaut, wird sogleich von einem Reichtum an For¬
men überrascht, wie ihn weder die Zeit der Polyphonie noch eine andere
Periode kirchlicher Gesangskunst zu Tage gefördert hat. Wenn man einen
Maßstab für die Wertung einer Kunst aus der Fähigkeit ableitet, innerhalb
der durch ihre Grundlagen gezogenen Grenzen — in unserem Falle der Ein¬
stimmigkeit — das ganze Gebiet möglicher Ausdrucksformen zu durchlaufen,
dann muß dem gregorianischen Gesänge eine Palme zuerkannt werden.
Unter den einfachen Formen sind diejenigen die bekanntesten, die noch
heute vom Altäre her aus dem Munde des Priesters erklingen. Trotz aller
Wandlungen der musikalischen Kunst hat die Kirche sie nicht abgeschafft,
so daß niemand im Zweifel sein kann, welches der eigentliche liturgische
Gesang ist. Der amtierende Geistliche singt niemals eine andere Weise als
eine gregorianische. Von solchen Formen geht die Stufenleiter der Choral¬
melodien weiter, alle Grade der Verbindung von liturgischem Wort und Ton
durchmessend, bis zu den höchsten Inspirationen solistischer Lyrik und für
alle Formen hat die Kirche einen unbestrittenen Platz in ihrer Liturgie ge¬
schaffen.
Halten wir uns an die Stücke, die nur für unsere Kirchensänger in Be¬
tracht kommen, so lassen sich alle Choralformen einteilen in solche, die der
gregorianischen Ordnung des Kirchengesanges angehören und solche, die
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Ober gregorianischen Choral
außerhalb dieser Ordnung stehen. Diese Teilung haben wir unserer Vor¬
führung zu Grunde gelegt. Gern hatten wir alle Stile der Reihe nach zu
Worte kommen lassen; die Kürze der Zeit’zwingt uns mit einigen Proben
uns zu bescheiden.
Außerhalb der gregorianischen Ordnung befinden sich diejenigen Stücke,
die wir heute als Ordinarium Missae zusammenfassen und die im Kyriale Va¬
ticanum enthalten sind. Manche darunter sind sehr alt, andere aber sind
jüngeren Datums. Sie wechseln bekanntlich in keiner Messe ihren Text und
haben daher ihren Namen. Bei ihrer Auswahl für die Editio Vaticana ist
der reiche Schatz von Gesängen mitherangezogen worden, den die Hand¬
schriften des Mittelalters überliefern. Unsere ältesten Aufzeichnungen stammen
aus dem 9. Jahrhundert. Schon die Dokumente seit dem 10. Jahrhundert ent¬
halten eine nicht geringe Zahl von Stücken des Ordinarium Miss«, von denen
manche in den Gemeinbesitz unseres Volkes eingehen könnten, wenn man
schon in der Volkschule ihre Einführung betreiben wollte. Diejenigen, die
Sie sogleich hören werden, sind so ausgewählt, daß das Kyrie, dasjenige der
Ostermesse, im 10. Jahrhundert überliefert ist; das Sanctus stammt aus dem
12. Jahrhundert, das Agnus aus dem 13., das Gloria aus dem 16. Jahrhundert
Das Osterkyrie erfreute sich im Mittelalter einer großen Beliebtheit, die
sein heller, aufstrebender Charakter hinreichend erklärt In kleinem Rahmen
bietet es eine interessante Modulation vom dritten Kirchenton, in dem es be¬
ginnt (wohl im Anschluß an die vorausgehende Allerheiligenlitanei am Kar-
samstage), zum achten Kirchenton, der im Christe angeschlagen wird, im
letzten Kyrie sieghaft zum Ausdruck kommt und fast wie Dur klingt Dieses
letzte Kyrie legt gewissermaßen dem Zelebranten die alte Intonation des Oster¬
gloria in den Mund. Es war das ein beliebtes Mittel zu einer Zeit, in wel¬
cher der Zelebrant noch nicht den Ton von der Orgel empfing.
(Vortrag des Kyrie der Missa I. des Graduale Vaticanum)
Das Sanctus der Missa V. ist von einem anderen Charakter; weniger
aufstrebend, mehr in sich gekehrt, atmet es eine stille Andacht, der nur beim
Hosanna ein kurzer Aufschwung sich zugesellt. Im ganzen ist es ein prächtiges
Beispiel des IV. hypophrygischen Kirchentones.
(Sanctus der Missa V.)
Ein merkwürdiges Choralstück ist das Agnus Dei der Fastenzeit. Im
V. lydischen Kirchenton geschrieben, ist es eine rechte Durmelodie mit seiner
Vorliebe für die Stufen des Dreiklangs und seinen Ruhepunkten auf der Do¬
minante. Wer sich daran stoßen möchte, daß eine so helle Melodie für die
Fastenzeit bestimmt ist, den möchte ich an das Wort des Herrn erinnern: Cum
jejunatis, nolite fieri sicut hypocritae, tristes.
(Agnus Del der Missa XVD.)
Das Gloria, auf welches unsere Wahl fiel, gehört zu den jüngsten Be¬
standteilen des ganzen Ordinarium Missae der Editio Vaticana; es stammt,
wie bemerkt, aus dem 16. Jahrhundert Am Ende des Mittelalters hat die
Choralkomposition nicht geruht, wie man meist glaubt Jüngst sind eine
Reihe solcher Stücke aus dem 15. Jahrhundert veröffentlicht worden. 1 ) Süd¬
deutsche Bibliotheken, wie München und Stuttgart, jedenfalls auch solche in
*) Vgl. Dr. Marxer: Zur spätmittelalterlichen Choralgeschichte St Gallens, 1908.
(Heft IO der Publikationen der gregorianischen Akademie zu Freiburg i. d. Schweiz,)
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Ober gregorianischen Choral
Österreich, sind nicht arm an spatmittelalterlichen Choralwerken. Ihre Rehabili¬
tierung in der heutigen Liturgie empfiehlt sich jedoch nicht Sie sind voll
von großen und kleinen Sprüngen, die uns unnatürlich klingen, von wenig
bedeutenden Gängen in die Höhe und Tiefe und mischen mensurale und cho-
ralische Elemente bunt durcheinander, gehören also der Gattung der Cantus
fractus an. Eines der wenigen brauchbaren Stücke dieser Periode bildet aber
das Gloria der Missa VIII. im Graduale Vaticanum. Seine Tonart ist wieder
lydisch, merkwürdigerweise mit konsequenter Vermeidung der vierten Stufe
der Tonleiter (h respektive b ); nur das Amen bringt einmal den Ton b.
Ebenso hat seine einfache syllabische Faktur, wie der Aufbau ausschließlich
aus Gängen von Tonika zur Dominante und umgekehrt, ihm eine große Sym¬
pathie überall da erworben, wo man es unseren Kirchensängem zu kosten
gab. Ein interessantes Gegenstück dazu ist das Gloria der Missa XV. (in
festis simplicibus), die älteste Gloriamelodie, wie unser Gloria die jüngste ist
Beide ähneln sich in der Faktur, sie sind aber in bezug auf die Entwicklung
der Tonarten Antipoden. Zwischen beiden liegt eine ganze Welt musikali¬
scher Arbeit von vielleicht acht Jahrhunderten. Hören Sie die jüngere Weise.
(Gloria der Missa VIII.)
Von einer Credomelodie müssen wir leider absehen, doch möge das
tonartliche Verhalten der Choralmesse mit einem Worte berührt werden. Die
mehrstimmige Messe mit und ohne Instrumentalbegleitung aus alter und neuer
Zeit wahrt in der Regel für alle ihre Teile die Einheit der Tonart. Diese
Regel ist im 15. Jahrhundert aufgekommen, als die Komponisten alle Teile
einer Messe über dasselbe Thema zu komponieren begannen. Die Identität
des Themas führte die Gleichheit der Tonart für alle Meßteile herbei. Vor¬
her war man um eine derartige Einheit nicht besorgt. Im Choralordinarium
herrscht eine tonartliche Verwandtschaft höchstens für Kyrie und Gloria, die
in der Liturgie unmittelbar aufeinanderfolgen und auch in den ältesten Bo¬
chern meist hintereinander geschrieben sind. Die Stocke des Ordinarium
Missae sind auch zu verschiedenen Zeiten der Liturgie eingefügt worden und
Gloria und Credo fehlen noch heute in manchen Messen. Die Erkenntnis,
daß aus den fünf Gesangstücken der Messe, deren Text sich gleich bleibt,
eine zyklische musikalische Form sich bauen ließe, ist eine Errungenschaft
der Polyphonie des 15. Jahrhunderts.
An melodischer und konstruktiver Einfachheit mit dem soeben gehörten
Gloria verwandt ist die Sequenz Veni Sancte Spiritus. Sie stammt aus der
Zeit um 1200 und ist ein treffendes Beispiel für die zweite Periode der Se¬
quenzkomposition, die durch Gleichbau der Strophen, Reime, überhaupt
durch Annäherung an die Liedform gekennzeichnet ist.
(Sequenz Venl Sancte Spiritus)
Die Ordnung des römischen Kirchengesanges, welche die Voraussetzung
der Choralübung der lateinischen Welt im Mittelalter und in der Neuzeit
bildet, muß, solange nicht neue Funde die bisherigen Forschungen Umstürzen,
immer noch in den Pontifikat Gregor I. des Großen, also in die Zeit um 600
gesetzt werden. Ihre Aufgabe war, die berufliche Arbeit der liturgischen
Sänger zu fixieren und zu normieren, der Solisten wie des Chores. Die Chor¬
partien, das heißt die Stücke, welche ausschließlich dem Chor oberantwortet
sind, heißen auch Antiphonen. In der Messe gehören dazu der Introitus und
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Ober gregorianischen Choral
121
die Comimmio; sie werden in der liturgischen Sprache Antiphona ad Introitum
und ad Communionem genannt Die Solostocke stellen in der Regel größere
Anforderungen, wie sich das von selbst versteht
Da sie auf der Wechselwirkung von Solo und Chor beruhen, heißen
sie auch responsoriale Stocke. Dahin gehören das Gradualresponsorium,
meist Graduale genannt, das Alleluja mit seinem Vers und der Tractus. Das
Offertorium steht in der Mitte zwischen beiden Gruppen, es heißt Antiphona
ad Offertorium, bewegt sich aber aus Gründen, die ich hier nicht darlegen
will, manchmal in der Ausdruckssphäre des Sologesanges, kann daher heute
noch im Notfälle von einem Solisten gesungen werden.
Der Introitus Exsurge Domine vom Sonntag Sexagesimae und die Pfingst-
communio Factus est repente mögen Ihnen einen Einblick in die musikalische
Eigenart dieser antiphonischen Meßgesänge vermitteln. Ihre melodische Fak¬
tur fließt aus ihrer Bestimmung als Chorgesang hervor; niemals stellen sie
Aufgaben, die unsere Kirchenchöre nicht bewältigen können, wenn sie nur
ordentlich angeleitet sind. Ich muß mir versagen, die hervorragend geist¬
volle Interpretation des liturgischen Textes in beiden Stücken zu beleuchten.
Der Introitus ist eine flehende Bitte um den Schutz des Herrn, innig und
warm und doch bescheiden und zurückhaltend. Im Gegensatz dazu ist die
Communio voll von Feierklängen und freudig gehobener Stimmung. Beachten
Sie auch den Unterschied der Tonarten 1
(Introitus Exsurge and Communio Factus est repente)
Diejenigen Meßgesänge, welche unter wesentlicher Mitwirkung des So¬
listen zustande kommen, hatten das Schicksal, am ehesten und am längsten
verkannt und unbillig behandelt zu werden. Die historische Grundlage der
für sie charakteristischen Melismen, Vokalisen, ruht in den Beziehungen,
welche den römischen Kirchengesang der alten Zeit mit dem liturgischen Ge¬
sang der orientalischen Kirchen verbinden, der Griechen, Syrer, Kopten und
Armenier, und indirekt mit dem jüdischen Synagogalgesang. Vielfach ent¬
halten die gregorianischen Solostücke altchristliches Gut. Dies Resultat der
neueren Forschungen ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was lange Zeit
unseren guten Kirchensängern immer wiederholt wurde, um sie mit Schrecken
vor den ausgedehnten Tonverbindungen über einem Vokal zu erfüllen. Das
Mißtrauen gegen die tonreiche Melodieführung solcher Lieder, an denen sich
im ganzen Mittelalter kein Mensch gestoßen hat, entsprang derselben Wurzel,
die am Ende des 16. Jahrhunderts den Kampf gegen den Kontrapunkt aus
sich hervorgehen ließ, der infolge der Bekanntschaft mit der Antike verän¬
derten Auffassung des Verhältnisses von Wort und Ton in der Gesangs¬
melodie. Die Abneigung gegen die Polyphonie ist längst überwunden, die¬
jenige gegen die Choralmelismatik noch nicht. Und doch hat die neuere
Forschung dargetan, daß die römischen Kantoren der alten Zeit einen
feinen Sinn für melodische Schönheit und kunstgerechten Aufbau längerer
melodischer Entwicklungen besaßen. Gerade darin überragten sie ihre Kol¬
legen im Orient und bis zur Stunde hat die hochausgebildete melismatische
Praxis der orientalischen Liturgien nichts aufzuweisen, was sich an geistvoller
Struktur, maßvoller und doch wirksamer Melodik mit den Schöpfungen oder
Bearbeitungen der römischen Meister vergleichen ließe. Die gregorianischen
Sololieder sind durchaus nicht arm an Wendungen, die zu den schönsten
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Ober gregorianischen Choral
Eingebungen des Genius gehören. Wo aber aus einem vernünftigen Grunde
diese Solostacke sich nicht regelrecht auffahren lassen, da gestattet die Kirche,
die gütige und nachsichtige Mutter, daß man mit der Rezitation ihrer Texte
sich begnüge. Wer also über die Länge mancher Melismen in Klagen aus¬
brechen möchte, der täte besser daran, der kirchlichen Behörde für diese be¬
queme Lösung aller Schwierigkeiten zu danken. Wenn manche aber Dinge
tadeln, die zu studieren sie zu bequem sind oder zu deren Verständnis ihre
Bildung nicht ausreicht, so sollte man dafür nicht die Kirche oder ihr Ge¬
sangbuch verantwortlich machen. Es ist auch keine unbillige Forderung, daß
diejenigen Sänger, die das ehrenvolle Amt des liturgischen Vorsängers be¬
kleiden, sich auf ihre Leistung gehörig vorbereiten.
Wir haben aus der reichen Menge prachtvoller Solostücke drei ausge-
wählt, die Ihnen als Muster ihrer Gattung gelten können.
(Offertorium Flliae regtun, Graduate Benedictas, Allelula f. Adorabo)
Die von der Leogesellschaft herausgegebene Zeitschrift „Die Kultur“
hat jüngst in einem an goldenen Gedanken reichen Aufsatz der liturgischen
Renaissance unter Gebildeten und Volk das Wort gesprochen. Das Verständ¬
nis des Wunderbaues der katholischen Liturgie solle in weitere Kreise ge¬
tragen werden, die meist die erhabensten und schönsten Riten ahnungslos
an sich vorüberziehen lassen. Es ist eine oft gemachte Erfahrung, daß der
traditionelle Choral sich am ehesten die Sympathien unserer Kirchensänger
erobert und bewahrt, wenn sein Studium von Darlegungen liturgiegeschicht¬
licher Art begleitet wird. Auch einfache, von hoher Gelehrsamkeit wenig be¬
rührte Kirchensänger nehmen die Erklärung der Entstehung der Choralfor¬
men aus der Liturgie mit großem Interesse entgegen. Daß die Kirche allen
musikalischen Stilen von ernster und würdiger Haltung wohlwollend gegen¬
übersteht, hat das Motu proprio Pius X. vom 22. November 1903 wieder aufs
klarste betont Daß sie aber außerdem eine Gesangsart besitzen muß, die
nicht auf den Geschmack dieses oder jenen Volkes, dieser oder jener Zeit
zugeschnitten ist, sondern über den Nationalitäten und Generationen hinaus
wahrhaft katholischen Charakter aufweist, die geographische und historische
Einheit der Kirche symbolisiert, und zwar diejenige, welche das Ineinander¬
greifen von Liturgie und Gesang noch heute in bewunderungswürdiger Weise
zur Anschauung bringt, solchen Gedanken wird kein katholisch fühlender
Mann seine Zustimmung versagen. Auf den Besitz und die Pflege einer ge¬
sanglichen Form, die sich verklärend neben die Einheit in Lehre und Leben
stellt, kann die Kirche nicht verzichten, solange sie dem Gesang eine Heim¬
stätte bei sich gewährt Man möge von dem hohen Wert dieser Idee des
einen liturgischen Gesanges nicht zu gering denken. Und wenn auch einmal
die zentrale Behörde auf diesen einheitlichen liturgischen Gesang verzichtete,
was ausgeschlossen ist, dann wäre ein erhabenes Band zerrissen, das die
Mitglieder der Kirche aneinanderschließt. Ich schätze die Empfindungen eines
kirchenmusikalischen Patrioten; ich gestehe aber, wenn man von Wien nach
Paris kommt, und von da nach Amerika, Asien und Afrika und überall die¬
selben liturgischen Lieder hören kann, dann überkommt auch den harten
Mann jene unaussprechliche Stimmung, die zu Tränen der Freude führt
Diese Einheit läßt sich aber nur durch den lateinischen Choral hersteilen.
Das ist gerade einer der Ruhmestitel des Chorals, daß er nicht die
Empfindungen dessen widerspiegelt, der ihn zufällig ausführt; seine musika-
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Zur Geschichte des altrussischen Kirchengesanges
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lische Sprache ist eine objektive, unpersönliche; sie hat als Ausdruck der gan¬
zen Christenheit zu gelten, für die an demselben Feste dieselben Gesänge vor¬
gesehen sind.
Papst Pius X. hat in dem erwähnten Motu proprio den Satz ausge¬
sprochen, daß eine Kirchenmusik des Heiligtums um so würdiger sei, je mehr
sie sich dem Choral nähert Dieses Wort hat mancherorts befremdet. Und
doch birgt es eine bedeutsame geschichtliche Wahrheit. Die kunstgerechte
Pflege des Chorals im Sinne der Kirche und ihrer Liturgie ist das wirksamste
Schutzmittel gegen die Verweltlichung der Kirchenmusik. Der andächtig aus-
geführte Choral enthält eine kräftige Einladung zur inneren Sammlung, zu
derjenigen Gesinnung, mit welcher man den Geheimnissen der Liturgie folgen
soll. Für nervöse Leute ist er freilich nicht geschaffen, auch nicht für solche,
die in der Kirche nur künstlerische Anregungen suchen oder gar eine per¬
sönliche Eitelkeit irgend welcher Art befriedigen möchten. Wir alle aber
wissen, dab seine tausendjährigen Klänge Millionen von Christen erfreut und
zur Andacht gestimmt haben und dab er noch seine ungeschwächte Kraft
dann beweisen wird, wenn unsere Nachkommen längst uns mit all unseren
Werken zu Grabe getragen haben. Sein unlösbarer Zusammenhang mit der
Liturgie bietet ihm die Gewähr der irdischen Unsterblichkeit; der Choral ist
die einzige musikalische Form, die gewissermaben sich sub specie aeternitatis
betrachten läbt.
Wenn Sie mich aber fragen, wie die Pianische Choralform am wirk¬
samsten eingeleitet und durchgeführt werde, so kann ich Ihnen hier nur das
eine sagen: Lassen Sie überall Choralkurse abhalten, damit die Chorregenten
den rechten Choralvortrag lernen und ihren Sängern vermitteln können. Diese
Aufgabe ist durchaus nicht so schwer, wie manche glauben, aber sie lohnt
reichlich die darauf verwandte Mühe.
Möchte doch ein jeder von uns in aufrichtiger Hingabe am groben Re¬
formwerke des Vaters der Christenheit mitwirken! Warum stehen so viele
abseits und sind mübig? Gilt es nicht der Wiedererweckung und der Be¬
festigung der Musica perennis der Kirche? Sie führt uns ja nicht auf reiz¬
lose Einöden, sondern zu lichten Höhen, in denen die Kunst und die himm¬
lischen Gnaden zusammenflieben.
Freiburg (Schweiz) Dr. Peter Wagner
Zur Geschichte des allrussischen Kirchengesanges 1 )
I rre ich nicht, so war es J. Thibaut, der in seiner Schrift: Origine byzantine
de la notation neumatique de l’Eglise latine (Paris 1907) zum erstenmal die
alte Tonschrift der Russen für einen Zweig der groben Familie an Gesangston¬
schriften in Anspruch nahm, die wir als Neumen bezeichnen. Er betonte
(S. 35 ff.) den byzantinischen Ursprung des russischen Kirchengesanges und
führte in gleicher Weise seine Tonschrift auf die byzantinischen Neumen zu¬
rück. Unter den photographischen Abbildungen, die er seinem Buche beigab,
figurieren drei Proben russischer liturgischer Schrift aus alter und neuer Zeit.
‘) Oskar von Riesemann, Die Notationen des Alt-Russischen Kirchen¬
gesanges. (Publikationen der Internationalen Musikgesellschaft. Beihefte. Zweite Folge
VIII. Leipzig, Breitkopf und Härtel. 1909. 108 Seiten mit 12 photograph. Beilagen. Preis
5 Mark.)
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124 Zur Geschichte des altrussischen Kirchengesanges
Eine detaillierte Untersuchung derselben lag freilich nicht in Thibauts Ab¬
sicht. Nur mit neueren gesanglichen Verhältnissen der russischen Liturgie
befaßt sich Rebours’ Werk: Trait£ de Psaltique, thdorie et pratique du chant
dans l’Eglise grecque, Paris 1906 in Appendice II. Dasselbe tut die Abhand¬
lung von L. Sacchetti: Le chant religieux de l’lglise orthodoxe russe, im Be¬
richte des internationalen musikhistorischen Kongresses zu Paris 1900 S. 134 ff.
Sacchetti konstatiert Analogien zwischen altrussischer, byzantinischer und
lateinischer neumatischer Schrift, weist jedoch der altrussischen Notierung
einen eigenen Charakter zu.
Unabhängig von diesen Gelehrten, deren Schriften ihm Oberhaupt un¬
bekannt geblieben sind, legt O. von Riesemann 1 ) eine dankenswerte Abhand¬
lung Ober den Gegenstand vor. Er erklärt, nicht auf selbständige Neuforschun¬
gen das Hauptgewicht zu legen, sondern auf eine Zusammenstellung und Bear¬
beitung der russischen Literatur, die sich namentlich seit der Mitte des 19. Jahr¬
hunderts dem Gegenstand mit Eifer zugewendet hat; er zählt die wichtigsten
Schriften und Abhandlungen auf, aus denen er schöpfte. Auch wer, wie der
Unterzeichnete, außerstande ist, in russischer Sprache verfaßten Werken
näherzutreten und die Darstellung Riesemanns auf ihr Verhältnis zu den Quel¬
len hin zu prüfen, gewinnt von ihr einen günstigen Eindruck. Sie hält sich
von Voreingenommenheit frei, ist ruhig und sachlich geschrieben. Zuweilen
ist sie etwas breit geraten und Wiederholungen sind nicht selten.*) Aber
Riesemann beherrscht seinen Stoff und je weiter die altrussische Kirchen¬
musik und ihre Notierung vom augenblicklichen Betriebe der Musikforschung
abseits liegt, um so dankbarer wird man ihm sein, daß er den in mancher
Beziehung interessanten Gegenstand in den Ergebnissen der bisherigen For¬
schung uns zugänglich macht.
Wenn ich im folgenden aus Riesemanns Schrift diejenigen Tatsachen
herausziehe, die unser Wissen um die Geschichte des liturgischen Gesanges
und der Neumen bereichern, so will ich auf die ganz merkwürdigen Parallelen
zu Vorgängen der lateinischen Choralgeschichte und Notierung aufmerksam
machen, die dem Kenner der älteren abendländischen Musikgeschichte auf
Schritt und Tritt bei der Lektüre der interessanten Abhandlung aufstoßen.
Ich möchte damit das Interesse bekunden, mit dem ich die Schrift durchge¬
arbeitet habe. Ich berücksichtige auch noch einen wichtigen Aufsatz, den
Riesemann selbst jüngst in der Riemann-Festschrift (S. 189 ff.) veröffentlicht
hat und der über die Funde einer Expedition einen vorläufigen Bericht bringt,
die im Sommer 1906 besonders in den Klöstern auf dem Berge Athos For¬
schungen nach altrussischen Gesangsdenkmälern veranstaltet hat.
Die Geschichte der russischen Kirchenmusik beginnt mit dem Jahre 988,
der Annahme des Christentums durch Großfürst Wladimir. Griechische Bi¬
schöfe tauften sein Volk. Wie aber die Frage nach dem Ursprung des lateini¬
schen Chorals noch bis in die letzte Zeit mannigfache Antworten erfahren
hat, so haben die russischen Gelehrten die Wiege ihrer liturgischen Lieder
bald in Byzanz, bald im griechischen Syrien, bald in Rußland selbst gesucht
’) Wohl ein Verwandter desjenigen Trägers des Namens, dem Spitta in seinen
Aufsätzen „Zur Musik“ S. 449 ff. so schöne Worte gewidmet hat
*) In der Reihenfolge der Anmerkungen zu den Seiten 101 bis 103 herrscht Un¬
ordnung. Druckfehler sind stehen geblieben auf den Seiten 10, 21, 41, 62 u. a.
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Zur Geschichte des altrussischen Kirchengesanges
125
Eine gewisse Verwandtschaft mit dem byzantinischen Kirchengesang wurde
allgemein zugestanden; die verbindenden Fäden sind zu zahlreich, um über¬
sehen zu werden. Bis ins 13. Jahrhundert kannte die russische Liturgie Ge¬
sangsstücke in griechischer Sprache, neben denjenigen in slavonischem Text
(Vergleiche über Ähnliches in der lateinischen Liturgie meine Einführung
2. Aufl. I. S. 51 ff.) Auch das Kyrie eleison ist als Volksruf bezeugt und er¬
hielt sich in der russischen Liturgie bis heute. (Vergl. ebenda S. 75 ff.) Ganz
alte liturgische Handschriften enthalten sogar griechische Gesangsstücke in
slavonischen Lettern aufgeschrieben. (Vergl. ebenda S. 105 Anm.) Zahlreiche
tonschriftliche Zeichen haben die Form griechischer Neumen oder griechische
Namen und zwar ältere Zeichen wie jüngere. (Vergl. meine Neumenkunde pas¬
sim.) Der griechisch-byzantinische Gesang muß also immer wieder auf den russi¬
schen eingewirkt haben. Dennoch hat es nicht an solchen gefehlt, die die
Abhängigkeit von Byzanz bedeutend einschränkten oder überhaupt leugneten;
Metallow vertrat die Auffassung, daß die Russen ihren liturgischen Gesang
von den syrischen Griechen erhalten hätten, und Smolenski erklärte ihn für
ein der Hauptsache nach autochthones Produkt (Vergl. dazu die heute wohl
allgemein aufgegebene Hypothese des römischen Ursprunges des lateinischen
Chorals.) Ein derartiger Widerstreit der Meinungen war möglich, solange
nur eine geringe Zahl authentischer Gesangsdokumente alter Zeit der For¬
schung zugänglich war. Je mehr aber die alten Gesangbücher dem Staub
der Vergessenheit entzogen wurden, um so eher lichtete sich das Dunkel,
das die Urgeschichte des russischen Chorals einhüllte. Mußten die erwähnten
Tatsachen, wie der allgemeine Gang der altrussischen Kirchengeschichte immer
wieder die Blicke auf die byzantinische Liturgie und ihre Musik lenken, so
scheinen die in der Riemann-Festschrift angedeuteten Funde die Frage zu
Gunsten dieser Auffassung abzuschließen. Preosbashenski hat zahlreiche ganz
alte Hss. byzantinischer und russischer Herkunft mit einander verglichen und
dabei nicht nur eine überraschende Ähnlichkeit, oft auch Identität der Ton¬
zeichen festgestellt, sondern sogar eine direkte Übernahme altbyzantinischer
Gesänge durch die russische Liturgie. Dabei wurde der griechische Text na¬
turgemäß durch den slavonischen ersetzt, die Führung der Melodie blieb aber
dieselbe, nur daß die Betonungs- und syntaktischen Verhältnisse des griechi¬
schen Originals bei der Übertragung des Textes in das Slavonische häufig
Akzentverschiebungen und Abweichungen von der gewöhnlichen Aussprache
und Verbindung der Worte im Gefolge hatten. Wenn der slavonische Text
silbenreicher war als der griechische, aus dem er übersetzt ist, so sind die
überzähligen Silben durchweg mit bloßen Rezitationszeichen versehen, die by¬
zantinische Originalmelodie ist also nur erweitert, nicht substantiell modifiziert
(Auch dieser Vorgang findet im gregorianischen Gesang seine Analogien.)
Jedenfalls darf man die Abstammung des russischen liturgischen Gesanges
aus dem byzantinischen für eine ausgemachte Tatsache halten. Daß dabei
slavischen Elementen der Zutritt nicht prinzipiell verweigert wurde, ist ebenso
verständlich. Immer aber müssen die griechischen Anklänge die Oberhand
behalten haben.
Die ältesten liturgischen Gesangbücher des russischen Ritus, Minaen, Trio¬
den, Sticherarien, Hirmologien u. a., ungefähr dreißig an der Zahl, gehören noch
der Urzeit russischen Christentums an, dem 10. und 11. Jahrhundert Merk¬
würdigerweise entbehren sie der Tonzeichen. (Dasselbe ist von den lateini-
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Zur Geschichte des altrussischen Kirchengesanges
sehen Büchern des 8. und 9. Jahrhunderts zu sagen. Das Cantatorium von
Monza und das Graduale von Rheinau, beide aus dem 8. Jahrhundert, haben
von den Gesängen nur den Text Vergl. Einführung I, S. 202.) Die ersten Hss»
mit Tonzeichen sind aus dem Ende des 11. Jahrhunderts überliefert. Sie sind
in einer Neumenschrift notiert, die nach Riesemann, der darin der Ansicht
Metallows beipflichtet, aus den byzantinisch-athontischen Neumen herausge¬
wachsen ist, einem derjenigen tonschriftlichen Systeme, die in Vervollkomm¬
nung der prosodischen Zeichen des 4.-7. Jahrh. (von andern „ekphonetische
Zeichen“ genannt) aus den griechisch-syrischen Umeumen des 7.—8. Jahrh.
sich herausgebildet haben. Die letzteren führten in anderen Ländern zu ähn¬
lichen Neumensystemen; auch die lateinischen Neumen gehen nach Metallow-
Riesemann auf die cheironomische Urneumenschrift der griechisch-syrischen
Kirche zurück. Manches spricht dafür, daß die Klöster auf dem Berge Athos
bei der Übeiigabe der Neumen an die russische Kirche beteiligt waren. Sie
waren der Hauptverkehrsstation zwischen dem griechischen Orient und
Rußland. Es gab daselbst im 11. Jahrhundert auch zahlreiche russische
Mönche. Die Resultate der jüngst daselbst unternommenen Forschungen,
von denen Riesemann in der Riemann-Festschrift berichtet, unterstützen die
Annahme einer führenden Tätigkeit dieser Klöster. (Man ist versucht, hier
das Kloster St. Gallen zum Vergleiche heranzuziehen, dessen Choralpflege für
viele nordische Kirchen vorbildlich wurde. Daß übrigens St. Gallen und
die Athontischen Klöster Beziehungen miteinander unterhielten, ist nicht
unwahrscheinlich.)
Die liturgischen Gesangbücher der Russen kennen drei Typen von Ge¬
sängen, denen auch drei verschiedene Notierungen entsprechen: 1. den
Oktoechos, den nach den acht Tonarten in seinen Einzelheiten rituell
(durch das Typikon) geordneten eigentlichen liturgischen Gesang. Seinen
Grundstock bildet der Snamennji Rospiew, der in der ältesten Form russi¬
scher Neumen aufgezeichnet ist, der sogenannten Sematischen oder Krjukino-
tierung; 2. den dreifältigen Gesang, den Metallow-Riesemann mit dem
ebenfalls ganz alten Kondakariengesang identifizieren, der aber schon im
14. Jahrhundert verschollen war. Dieser Kondakariengesang wurde so notiert,
daß zu einer Reihe Text zwei Reihen Neunten gehörten, daher (nach Metallow-
Riesemann) die Bezeichnung .dreireihig“ = .dreifältig“. Die Abhängigkeit der
Kondakarienneumen von den frühbyzantinischen Neumen ist unleugbar und
ergibt sich besonders aus den großen Hypostasen; 3. den demestischen
Gesang, den jüngsten Bestandteil, der besonders um 1600 beliebt war. Die
demestischen Hss. verwenden eine doppelte Notierung, kleine Neumen und
große Hypostasen, dazu die byzantinischen Martyrien.
Was der Kondakarien- und der demestische Gesang eigentlich war, ist
bisher noch nicht gelungen festzustellen. Die Zahl der Kondakarien-
handschriften ist sehr gering; nur fünf sind bisher bekannt geworden, sie stam¬
men aus der Mitte des 11. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts. Die älteren darunter
gehören zu den ältesten neumierten Hss. russischer Herkunft überhaupt Seit dem
Ende des 13. Jahrhunderts ist der Kondakariengesang verschwunden. Riesemann
glaubt, daß er mit seiner Notierung in den athontischen Klöstern seine Heimat
hat, da die Neumen der Kondakarienhandschriften in byzantinischen Gesang¬
büchern noch nicht angetroffen worden seien. Daran kann aber ebensogut
unsere sehr lückenhafte Kenntnis der byzantinischen Choraldokumente schuld
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Zur Geschichte des altrussischen Kirchengesanges
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sein. Eine energische Einwirkung byzantinischen Gesanges auf die Konda-
karienmusik nimmt auch er an; sie äußert sich namentlich in den zahlreichen
griechischen Textworten und Sätzen, die in slavonischem Alphabet nieder¬
geschrieben sind, in den byzantinischen Solmisationssilben und Tonarten¬
bezeichnungen. Von den beiden Tonzeichenreihen verwendet die untere
Zeichen, die den ekphonetischen Lectionszeichen ähnlich sind, die obere die
fuyaXa or/paSia der griechischen Neumen. An eine Entzifferung dieser Neumie-
rung kann vorläufig noch nicht gedacht werden; ebensowenig geht dasjenige,
was aber die künstlerische Eigenart des Kondakariengesanges gesagt wurde,
Ober bloße Vermutungen hinaus.
Etwas besser ist es um den demestischen Gesang bestellt. Um 1569
erscheinen seine ersten Notierungen, die mit den Kondakarienzeichen keinerlei
Ähnlichkeit aufweisen. Die Etymologie des Wortes „demestisch“ ist nicht
unbestritten. Die demestischen Neumen lassen sich aber deshalb der Haupt¬
sache nach entziffern, weil die Sekten der Altgläubigen, die sich infolge der
Reformen des Patriarchen Nikon (2. Hälfte des 17. Jahrh.) bildeten, den deme¬
stischen Gesang und seine Notierung weiterfahren. Auch ist diese in einigen
alten Schriften erklärt Sie hat sich manche der gleich zu erwähnenden Fort¬
schritte der sematischen Neumen zu eigen gemacht, die Merkzeichen des
Schaidurow und des Mezenez, die der Bezeichnung der Tonhöhe dienen. Me¬
lodisch sind diese Gesänge sehr reich entwickelt, weit mehr als die des
Snamennji Rospiew; sie entwickeln sich nicht selten gegenüber der Betonung
der Textworte ziemlich selbständig und werden vornehmlich in feierlichen
Gottesdiensten gebraucht
Die wichtigste der russischen Neumenfamilien ist aber die sogenannte
sematische Notation, die vom 11. bis zum 17. Jahrh., bis zur Einführung
des europäischen Liniensystems, die liturgischen Gesangbücher beherrschte
und deren Dokumente aus allen Jahrhunderten zahlreich auf uns gekommen
sind, mit Ausnahme des 13. und 14. Jahrhunderts, in welchen Mongolenhor¬
den Rußland mehrfach überschwemmten und verwüsteten. Da aus dem 15.
bis 17. Jahrh. theoretische Erklärungen der Krjukineumen in genügender Zahl
sich erhalten haben, kann man rückwärtsgehend auch die älteren Krjukihss.
der Hauptsache nach entziffern. (Ähnlich ist bekanntlich die lateinische Neu¬
menforschung vorgegangen. Wir schließen von den Hss. mit Guidos Linien¬
system zurück auf diejenigen ohne Linien; eine andere Methode hat bisher
immer noch versagt.) Dabei sind jedoch die zirka 40 Zeichen auszunehmen,
die nur bis zum 15. Jahrh. üblich waren, nachher verschwanden; sie lassen
sich durch die komparative Methode nicht enträtseln. (Auch die Geschichte
der lateinischen Neumen kennt eine Anzahl Zeichen, die nur in den ältesten
Hss. stehen, in den spätem durch gewöhnliche Neumen ersetzt sind; vermut¬
lich ist die Beseitigung der Hälfte der russischen Zeichen durch dieselben
Verhältnisse veranlaßt worden, welche zur Vereinfachung des lateinischen
Chorals in Tonfolge und Rhythmus führten.)
Die weiteren Schicksale der russischen Neumen knüpfen sich vornehm¬
lich an die Namen zweier Kirchensänger, Schaidurow und Mesenez. Da die Krju-
kizeichen die Tonhöhe nicht in allem genau angaben, so sann man auf Mittel,
sie dergestalt zu vervollkommnen, daß über den tonalen Verlauf der Ge¬
sänge in keinem Falle ein Zweifel obwalten konnte. Es ist das Verdienst des
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128 Zur Geschichte des altrussischen Kirchengesanges
Nowgoroder „Meistersängers“ Schaidurow (Ende des 16. Jahrh.) 1 ), durch
Beifügung von roten Tonbuchstaben die tonale Bestimmtheit der Zeichen
sichergestellt zu haben. Zu jeder Neume tritt hier ein rot geschriebener Buch*
stabe des slavonischen Alphabets, meist der Anfangsbuchstabe eines musika¬
lischen technischen Ausdruckes. Andere Buchstaben oder Zeichen dienten
zur Angabe dynamischer und wohl auch rhythmischer Nüancen. (Diese Schai-
durowschen Buchstaben erinnern an die St. Gallischen sog. Romanusbuch¬
staben, die ähnliche Zwecke erfüllen sollten, sowie an die Handschrift von
Montpellier. In der Auswahl der Buchstaben für die 12 Stufen der russischen
Tonleiter ist Schaidurow ähnlich verfahren, wie der Erfinder der sog. Dasia-
schrift, nur daß er neue Zeichen nicht durch Umlegung und Umstülpung,
sondern durch Punktierung und Strichelung vorhandener Buchstaben gewann.)
Ende des 17. Jahrhunderts lebte der Mönch Alexander Mesenez. Seine ton¬
schriftliche Neuerung steht in Zusammenhang mit der im 12. Jahrh. in Kon¬
stantinopel aufgekommenen und bald in Rußland verbreiteten Unsitte, tonreiche
Vokalisen derart mit Text zu versehen, daß auf jeden Ton eine Silbe kam.
Man wählte dazu merkwürdigerweise Silbenverbindungen, wie tetetererim,
titititiremterirem, anena u. a., denen ein logischer Inhalt nicht innewohnte.
(Die lateinischen Gegenstücke zu diesen Einschiebseln bilden die Tropen und
Sequenzen, deren außerlateinische Herkunft damit eine interessante Stütze
erhält Nur haben die Sequenzen- und Tropendichter ihre Aufgabe mit un¬
gleich mehr Geschmack gelöst, als ihre slavischen Kunstgenossen, da sie
den jedesmaligen lateinischen Text so interpretierten und erweiterten, wie es
dem Charakter des Tages angemessen war). Eine noch merkwürdigere Manier
bestand darin, die Teile eines ausgedehnten Melisma nicht hintereinander,
sondern um Zeit zu sparen, zu gleicher Zeit von verschiedenen Sängern vor¬
tragen zu lassen, eine barbarische Gewohnheit, der erst gegen die Mitte des
17. Jahrh. von seiten der Behörden energisch entgegengearbeitet wurde. Eine
durch den Zar Alexei Michailowitsch eingesetzte Kommission mit Alex. Mesenez
an der Spitze, säuberte die liturgischen Gesangbücher von den genannten
Auswüchsen in Text und Singweise. Für die geplante Drucklegung der ver¬
besserten Bücher werden die Schaidurowschen roten Buchstaben durch kleine
Merkzeichen ersetzt, die an jeder Neume angebracht werden. Da aber nach
wie vor Bücher geschrieben wurden, waren die Mesenezschen Zeichen neben
den Buchstaben des Schaidurow ein Pleonasmus. Als es zum ersten Drucke
der russischen Choräle kam, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrh., war
durch das siegreiche Vordringen des Liniensystems die ursprüngliche Krjuki-
schrift längst in den Hintergrund gedrängt worden.
Die Einführung des mehrstimmigen Gesanges in Rußland seit der Mitte
des 17. Jahrh. hatte die Annahme des Liniensystems im Gefolge. Zuerst
schrieb man die verschiedenen Stimmen in sematischen oder demestischen
Neumen übereinander in zwei, drei oder vier Zeilen und meist mit verschie¬
denfarbiger Tinte. (Dasselbe Verfahren war den Polyphonisten des 16. Jahrh.
bekannt; vergleiche die Notierung eines vierstimmigen Satzes des Heinr. Isaac
in einer Berliner Hs. bei Bellermann „Kontrapunkt“ 3. Auf!., S. 64.) Die eigent¬
liche Melodie (der lateinische Cantus firmus) ist meist dem Snamennji Rospiew
*) Ich entnehme dem Zusammenhang der Darstellung Riesemanns, daß die Angabe
„XII. Jahrh.“, S. 42, Zeile 15 ein Druckfehler ist.
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Zur Geschichte des altrussischen Kirchengesanges
129
entnommen, die andern Stimmen liefern primitive Akkorde dazu, wobei es
weder an parallelen Quinten und Oktaven noch an Sekunden und Septimen
mangelt. Bald aber adoptierte man das europäische Fünfliniensystem, das
sich dann überraschend schnell eingebürgert hat Die älteren russischen
Neumen wurden dabei verdrängt, sie machten einer neuen Form von qua¬
dratischen Noten Platz, die den europäischen nicht ganz entsprechen.
Der größte Teil von Riesemanns Schrift (Kap. 3—5) ist der Erklärung
der Krjukineumen gewidmet, deren Studium und Entzifferung weniger
Schwierigkeiten gegenüberstehen, weil die altgläubigen Sekten bis auf die
Gegenwart nach ihnen singen. Außerdem gibt es neuere Hss. mit Doppelnotie¬
rung, mit sematischen Neumen und der neueren Linienschrift; solche Hss. sind
seit dem Ende des 17. Jahrh. vorhanden. Es fehlt auch nicht an theoretischen
Lehrbüchern und Traktaten zum Schulgebrauch, welche die Krjukizeichen
erklären. Das wichtigste dieser Bücher ist das Buch Kokisy (erste Hälfte
des 17. Jahrh.), das alle Figuren und Melismen (Thetas und Lizas), aus
denen viele russische Kirchenlieder mosaikartig zusammengesetzt sind (nach
Art also vieler gregorianischer Gradualien, die mit beliebten melismatischen
Tonreihen operieren) in einfache Zeichen auflOst Oft steht auch in den Hss.
die Auflösung der melismatischen Figuren am Rande. (Das Analogon dazu lie¬
fert die Notierung der ältesten St Gallischen Sequenzenbücher, nur daß bei
ihnen die Vokalisen am Rande stehen, der Text sie aber in ihre Einzelbestand¬
teile auflöst.) Besonders wichtig zum Studium der Krjukineumen ist endlich
das Alphabet des Mesenez, dessen Zeichen ganz bestimmte Töne angeben.
Die russischen Tonzeichen beziehen sich auf ein Tonsystem von 12 Stufen,
das sich aus vier getrennten Trichorden zusammensetzt; wenn ich die Folge
Ganzton + Ganzton zugrunde lege, läßt sich dasselbe also darstellen:
G a J i c d t [ g j t ^ c j l
einfaches Gebiet tiefe« Gebiet helles Gebiet dreifech helle« Gebiet
Außer der Intervallfolge 1+1 kennt die Theorie und Praxis in gleicher
Weise Trichorde mit der Folge 1+ 1 /« und */*+l. Manche Tonzeichen entspre¬
chen nun der ersten Stufe eines Gebietes, andere der zweiten, andere der
dritten. Die Gebiete selbst werden durch besondere Zusätze zum Grund¬
zeichen unterschieden.
Für den einzelnen Ton zählt Riesemann nicht weniger als sieben Zei¬
chen auf, die sich meist durch verschiedene rhythmische Geltung unterscheiden,
die sich freilich mathematisch nicht bestimmen läßt 1 ) Das wichtigste dar¬
unter ist der Krjuk, der der Tonschrift den Namen gegeben hat Besondere
Zeichen deuten die Verlängerung und Verkürzung der rhythmischen Werte
0 Der russische Kirchengesang ist von lebendigem, abwechslungsreichem rhyth¬
mischem Fluß, der sich mit den modernen regelmäßigen Verbindungen von zwei- und
dreiteiligen Gruppen nicht messen läßt. (Anm. S. 39.) Oberhaupt ist nach Riesemann
eine Obertragung russischer Neumen in unsere Mensuralschrift nur möglich, wenn
man dem heutigen Rhythmus die weitgehendsten Konzessionen macht Nicht anders
steht es um die lateinische liturgische Melodie. Die kurze Zeit, während welcher Um¬
schriften in moderne Noten gebräuchlich sind, hat genügt, um bei einigen die Grund¬
lagen des gregorianischen Rhythmus vollständig zu verschieben. Mögen die Befürch¬
tungen nicht eintreffen, welche die mensurierten Übertragungen der alten Choräle lei¬
der zu erwecken imstande sind!
Ktrcbonaafc. Jahrbuch. 23. Jahrg. 9
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130
Ein musikalischer Besuch in deutschen Lehrerseminarien
an; auch der Punkt erscheint als Verlängerungszeichen. Die zweitönigen
Zeichen sind fallend und steigend; dabei können auch einstufige Neumen
durch Verbindung mit anderen zu zweistufigen werden. Dasselbe gilt von
den Zeichen für drei und mehr Töne. (Hier erblicken wir das Kon¬
struktionsprinzip der lateinischen Neumen, die aus wenigen Grundzeichen
eine große Zahl zusammengesetzter Zeichen for mehrere Töne bilden.) Einige
Zeichenverbindungen werden je nach den verschiedenen Tonarten verschie¬
den ausgefahrt. Andere deuten längere Tonreihen an, Vokalisen, Melismen,
die sogenannten Popjewki (Tropen), Figuren (Lixa) und Thetas. Auch bei
ihnen bestimmt die Tonart vielfach die besondere melodische Geltung. Ein¬
zelne dieser Figuren weisen auf ein überreiches Melisma hin, von mehr wie
zwanzig Tönen. (Es ist nicht unmöglich, daß auch der lateinische Choral
solche stenographische Aufzeichnungen einmal gekannt hat Die so häufig
wiederkehrenden Vokalisen der Gradualien und Tractus würden sich jeden¬
falls leicht mit solchen konventionellen Zeichen andeuten lassen. Einige alte
lateinische Hss., z. B. Cod. St Gallen 339, schreiben von solchen Vokalisen
oft nur die ersten Zeichen. Vergl. meine Neumenkunde S. 274 ff.).
Riesemann veranschaulicht die verschiedenen Stadien der russischen
liturgischen Schrift durch Faksimiles. Für die zahlreichen in den Text aufge¬
nommenen Neumenzeichen hat die Moskauer Synodal-Typographie die Typen
geliefert, wie dem Schlüsse des Vorwortes zu entnehmen ist Diese quellen¬
gemäße Ausstattung der Arbeit erhöht ihren wissenschaftlichen Wert Wenn
das Referat darüber so ausführlich geraten ist, so möge man es dem
Umstande zugute halten, daß hier zum ersten Male in ein den Freunden
alter Musik bisher verschlossenes, aber an neuen und wichtigen Tatsachen
reiches Gebiet hineingeleuchtet worden ist. Ob die Parallelen zur lateinischen
Choralgeschichte auf Einwirkungen des Westens zurückgehen, läßt sich heute
noch nicht sagen. Möglich wäre ebensogut, daß griechisch-byzantinische
Vorbilder die lateinische wie die russische Praxis bestimmt haben. Mit großem
Interesse darf man aber dem angekündigten ausführlichen Bericht über die
Forschungen auf dem Berge Athos entgegensehen, und ich möchte die Bitte
an den Verfasser unserer Schrift nicht zurückhalten, davon uns möglichst
bald Kenntnis geben zu wollen.
Freiburg (Schweiz) Dr. Peter Wegner
Ein musikalischer Besuch in deutschen Lehrerseminarien
I m letzten Jahrgang des Kirchenmusikalischen Jahrbuches (1909, S. 83 ff.)
habe ich mich über „Schule und Volkslied“ verbreitet und dabei die Frage
aufgeworfen, ob denn unsere heutigen Volksschullehrer durch den Seminar¬
unterricht genügend als Gesangslehrer vorgebildet seien, um den an sie zu
stellenden Anforderungen entsprechen zu können. Die verneinende Antwort
habe ich andere geben lassen und u. a. das Urteil Karl Storcks zitiert: „In
Wirklichkeit wird an der Volksschule nicht in Musik unterrichtet,
sondern es werden einige Lieder durch ewiges Wiederkäuen eingedrillt. Der
Gesangunterricht fällt ganz aus dem Charakter des übrigen Schulunterrichts.
Er ist unsystematisch, sinn- und zwecklos. Man darf überhaupt nicht von
einer Methode dieses Gesangunterrichts sprechen, ist aber dennoch eine
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Ein musikalischer Besuch in deutschen Lehrerseminarien
131
vorhanden, so ist sie grundfalsch: es werden Lieder so lange vorgedu-
delt, bis die Kinder sie nachsingen können. Was uns also not tut,
ist eine völlig neue Methode des Gesangunterrichts an unsern
Volksschulen!“
Das ganze damalige Ergebnis reizte mich, selbst einmal an verschiedenen
deutschen Lehrerbildungsanstalten Besuche zu machen in der Absicht, mich
von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit dieser Resultate selbst zu überzeugen.
Diesen Plan habe ich unterdessen ausgeführt und möchte im folgenden über
meine Eindrücke und Erfahrungen Bericht erstatten. Ich bin so ziemlich
überall gut aufgenommen und auch (mit Ausnahme des Seminars in Würzburg!)
zu den von mir gewünschten musikalischen Lektionen zugelassen worden.
Freilich glaubten die Seminardirektoren und Musiklehrer anfangs gewöhnlich,
ich bemühe mich vor allem um musikalische Produktionen des Seminarchors
und -Orchesters, wie man es eben bei sonstigen Besuchern der Anstalten
gewohnt ist, und die meisten waren erstaunt, oder etwas verblüfft, wenn sie
von meiner Absicht hörten, ganz bescheiden und ohne alle Störung dem
Musikunterricht in den einzelnen Fächern, namentlich in Gesang und Gesang¬
methode, sowie dem Gesangunterricht in der Obungsschule beiwohnen zu
dürfen. Ich bekam immer den Eindruck, als ob ich mit dieser Forderung
schon einen wunden Punkt berührt hätte und als ob die betreffenden Lehrer
selbst die Überzeugung oder wenigstens eine Ahnung von ihrer schwachen
Position hätten. Wenn ich eine Schule besuche, so wird mir im allgemeinen
der Lehrer auch viel lieber eine Produktion einiger eingepaukter Lieder vor¬
führen als seine Methode, weil er eben meistens keine hat. So ähnlich war
es dort, denn von eigentlicher Gesangsmethode war sowohl im Unterricht
der Seminaristen als auch in dem der Elementarschüler gar wenig zu ver¬
spüren und ich dachte mir oft, wie wahr hat doch Storck geschrieben: „Man
darf überhaupt nicht von einer Methode dieses Gesangunterrichts sprechen,
ist aber dennoch eine vorhanden, so ist sie grundfalsch . . . was uns also
not tut, ist eine völlig neue Methode des Gesangunterrichts an unsern Volks¬
schulen“ und — füge ich bei — dementsprechend zuerst an unsern Semina-
rien; zuerst müssen die angehenden Lehrer an den Seminarien nach einer
brauchbaren Methode im Gesang unterrichtet und zu Solosängern (cum grano
salis) herangebildet und dann in eine taugliche Gesangunterrichtsmethode
eingeführt werden, nach welcher sie in der Übungsschule und später die
Schulkinder unterrichten sollen und können, sie müssen Gesangsmethodiker
insoweit werden, daß sie in den Besitz einer bewährten und überall brauch¬
baren und ausführbaren Gesangsmethode gelangen. Ist das vielleicht bisher
so gewesen? Tun wir jemand unrecht, wenn wir ernste Klage führen? Man
überzeuge sich doch selbst von den „herrlichen“ Methoden in unseren Volks¬
schulen und wie herrlich weit man damit bisher gekommen ist! Man braucht
ja nur die Tatsachen sprechen zu lassen und man muß uns recht geben.
Sehen wir uns einmal die bisherigen und gegenwärtig in unsern Seminarien
und Schulen gelehrten und geübten Methoden etwas genauer an.
Das verhältnismäßig Beste, was ich hier kennen lernte, bot ein Ober¬
lehrer einer Seminarübungsschule, der, selbst ein guter Musiker und Metho¬
diker, auch den Musikunterricht und die methodische Einführung der Semina¬
risten an der Übungsschule leitete, im Unterschied von andern Lehrerbildungs¬
anstalten, an welchen gewöhnlich dem Seminarmusiklehrer obige Aufgabe zu-
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132 Ein musikalischer Besuch in deutschen Lehrerseminarien
fällt. Nicht als ob jener Oberlehrer eine neue bisher ungekannte und unbe-
nützte Methode angewandt hätte, aber darin unterschied er sich von vielen
andern, daß er Oberhaupt eine brauchbare Methode mit Geschick und Erfolg
konsequent in den verschiedenen Klassen durchführte; wie er die Methode
den Seminaristen zu eigen machte, konnte ich leider nicht beobachten, da er
sie mir persönlich vorführte, ich zweifle aber bei dem auch in den übrigen
Fächern bekannten vorzüglichen und praktischen Methodiker nicht, daß er
auch den angehenden Lehrern einen methodischen Fonds beizubringen wissen
wird. Er geht von der bekannten Stufenleiter aus und entwickelt einmal die
ersten 5 Töne der C-dur-Tonleiter (mit der absoluten Tonhöhe zwischen d und e);
ähnliche Übungen werden an das Bild einer Staffel mit 5 Treppen ange¬
schlossen und endlich erscheinen die Stufen und Treppen frei als wagrechter
längerer oder kürzerer Strich (Tondauer) in größerem oder kleinerem senk¬
rechtem Abstande (ganze und halbe Tonstufe), woraus dann leicht vollends
die Form der Note und Notenlinie entwickelt werden kann, die auch beizeiten
zur Anwendung kommen. Später wird die Quint zur Oktav erweitert, stets
am Bild der Stufenleiter und aus ihr wurden dann in der Oberklasse noch
die Tonleitern mit einem Vorzeichen (F und G) vordemonstriert; dabei werden
die vorgeschriebenen weltlichen und kirchlichen Volkslieder geübt und gesungen,
es wird auf richtigen, sinngemäßen, schönen Vortrag im Einzel-Gruppen- und
Chorgesang gedrungen, auch Stimm- und Tonbildung (Kopfstimme), soweit
es die gewöhnlichen Notennamen (c d e etc.) zulassen, verbunden, auf
rhythmische Übung und Ausbildung aber auffallenderweise kein besonderes
Gewicht gelegt. Ich konnte mich überzeugen, daß die musikalisch begabten
Schüler am Ende der Schulzeit die Befähigung erreichten, eine ihnen neue,
aber in den einfachsten Tonarten (C, F, G) und Rhythmen aufgezeichnete,
leicht singbare Melodie annähernd richtig aus dem Notenbiid ins Klangbild
zu übertragen, wie es z. B. der württembergische Normallehrplan wünscht. Ob
freilich die Schüler auch in den Lehrproben der Seminaristen soweit gefördert
werden, weiß ich nicht, habe aber später in andern Anstalten von diesen tasten¬
den Versuchen dieser jungen Leute einen recht unbefriedigenden Eindruck
erhalten; ich habe gefunden, in einem so schwierigen Fach wie es der Gesang¬
unterricht ist, taugt ein derartiges vielfach planloses Herumtappen noch
weniger als in anderen Fächern, da rächt es sich noch viel mehr, wenn
eine gediegene Methode fehlt und die Sicherheit und Vertrautheit damit, und
R. Heuler sagt nicht mit Unrecht: „Der Gesangunterricht bleibt nach wie vor
wohl die schwierigste Unterrichtsdisziplin, in der die Persönlich¬
keit des Lehrers von höchster Bedeutung ist.“ Immerhin habe ich
eine ähnliche gut durchgeführte mathematische Trefflehrmethode fast in keiner
der von mir besuchten Anstalten mehr getroffen, in den meisten sah es trostlos
aus. Meistens traf ich die Ziffermethode und konnte mich recht gründlich
davon überzeugen, was für ein schlechtes und schwerfälliges Silbenmaterial
gerade die Ziffern eins, zwei, drei etc. zum Singen abgeben, noch viel schlechter
und plumper als die gewöhnlichen Tonsilben (c, d, e etc.); da fällt für Stimm-
und Tonbildung gar nichts mehr ab, im Gegenteil, zumal wenn die Aus¬
sprache noch recht schlecht und ungenügend ist wie ich sie vielfach gehört
habe. Dazu kommt, daß auch die Ziffemmethode nicht einheitlich ist, der
eine benützt die Ziffer allein, der andere verbindet damit die Note mit und
ohne Linien, der eine bezeichnet die Oktave mit 8, der andere wieder mit 1 usw.,
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Ein musikalischer Besuch in deutschen Lehrerseminarien 133
kurz ich fand, daß die Schaler daraus nicht klug wurden und nur mühsam
zumal im Einzelgesang die Tonvorstellung damit verbanden. Dazu kamen
aber noch alle mögliche andere methodische Fehler: meist sangen die Kinder
überlaut, d. h., sie schrieen nach Belieben, ohne daß sie korrigiert wurden, ein
Hauptfehler; sie taktierten meistens nicht mit, oder aber, was fast noch
schlimmer, sie taktierten falsch, ungenau, unpünktlich, — wie sollen denn da
exakte rhythmische Vorstellungen entwickelt werden? Mit Anfängern bemühte
sich ein Lehrer gerade den Anfang der C-dur-Tonleiter einzupauken mittels
des Merkverses „in dem Gras sitzt der Has" (ähnlich wie es z. B. J. Osten¬
dorf „über das bewußte Singen nach Noten“, Düsseldorf, 1908, vorschlagt);
ich hätte nur die übrigen geistreichen Merkverse noch hören und ihren Erfolg
kennen lernen mögen! Doch der Erfolg: in den nächsthöheren Klassen stan¬
den schon Lieder mit Noten an der Tafel: „Christus ist erstanden“ in A-dur,
„Freu dich erlöste Christenheit“ in B-dur, während die Schüler natürlich
weder von A- noch B-dur eine Ahnung haben; sie werden wohl mit den
Vorzeichen überhaupt nicht vertraut, singen eben aufs Geradewohl ab- und
aufwärts meist von der Violine unterstützt, ein trostloses „Gehörsingen“.
Mich hat das in dieser Anstalt um so mehr verwundert, als der Musiklehrer
im übrigen ein äußerst tüchtiger und gewissenhafter Praktiker ist, was vom
folgenden keineswegs gesagt werden kann. In der obersten Klasse seiner
Übungsschule doktert (vom Seminarlehrer stets schmeichelhaft mit Herr Lehrer
angeredet!) ein Seminarist höchst unbeholfen und tappig an einem an die
Tafel geschriebenen 2-stimmigen Lied herum, kann die Notenwerte anschei¬
nend selbst kaum richtig lesen und führt die Kinder mit seinem Herumtasten
und Zeigen vielfach in die Irre, kurz es war ein klägliches Unterrichten. Ich
hatte auch vom übrigen Musikunterricht in dieser Anstalt einen ziemlich
schlechten Eindruck bekommen, es fehlte vielfach Plan und Einteilung und
Disziplin, man arbeitete auf Konzertproduktionen und bildete sich viel darauf
ein, anstatt ruhige, gediegene und solide Arbeit zu leisten und den einzelnen
Zögling für seinen späteren Beruf tüchtig zu machen. So war auch bei diesem
Unterricht kein Ernst, keine Energie, kein zielbewußtes Arbeiten, keine Me¬
thode und ich bemerkte in meine Notizen: der Gesangunterricht an dieser
Übungsschule ist schon das Allermindeste, was ich hier gesehen und gehört
habe! Der betreffende Seminarlehrer suchte mich auch wohl im Bewußtsein
seiner schwachen Position (von der er allerdings im übrigen nicht überzeugt
zu sein schien!) rasch von Klasse zu Klasse zu führen; wenn ich Notizheft
und Bleistift herauszog, begannen die Herren mitunter etwas nervös zu wer¬
den. Wie soll übrigens bei einem Unterricht etwas Vernünftiges geleistet
werden, wenn ein Seminarlehrer innerhalb einer Stunde in 3—4 Klassen
herumrennen soll, um den Gesangunterricht der Seminaristen zu überwachen,
der gleichzeitig stattfindet 1 Da weiß man kaum, wer schlechter wegkommt,
die Unterrichtenden oder die zu Unterrichtenden!
Wahrend in unseren Seminarien und Schulen meist mit den gewöhn¬
lichen Notennamen (c, d, e etc) gearbeitet wird, fand ich nun noch an einigen
Anstalten die Guidonischen Solmisations-Silben im Gebrauch, die sich wenig¬
stens für Ton- und Stimmbildung entschieden besser eignen. In einer dieser
Schulen benützen alle Kinder ein sogenanntes Tastenbild, einen Karton¬
ausschnitt aus der Klaviertastatur mit etwa 2 Oktaven mit Aufschrift der
gewöhnlichen Tonnamen und der Solmisationssilben; auf dieser Klaviatur
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134 Ein musikalischer Besuch in deutschen Lehrerseminarien
greifen die Kinder die Grundakkorde der gesungenen Lieder, wobei freilich
nicht überall kontrolliert werden kann, ob die Finger auf den richtigen Tasten
sitzen. Die Klaviatur soll eben der Veranschaulichung der Tonvorstellungen
dienen, mitunter müssen die Kinder die Akkorde auch auf dem Klavier spielen.
Dazu führen sämtliche Schülerinnen (es ist eine Mädchenübungsschule eines
Lehrerinnenseminars) noch ein Notenheft, in welches die Übungen und Lieder
eingetragen werden. Die Kinder singen allein und im Chor, wenn auch im
ganzen zu stark, so doch mit dynamischer Schattierung; daß die Kinder der
Oberklasse aber die Melodietöne des Liedes nicht selbständig suchten, sondern
sie von der Violine vorgespielt erhielten, war ein großer Fehler, wie auch,
daß sie nicht dazu taktierten, ln der Mittelklasse dieser Übungsschule fand
ich übrigens ganz hübsche rhythmische Übungen, an ästhetisierenden Erklä¬
rungen wird freilich den Kindern gegenüber des Guten zu viel getan, so wenn
vom halben Ton gesagt wird, er sei traurig, passe nicht in unsere Frühlings¬
zeit und Frühlingslieder, man meine dabei man müsse weinen; das Wort
„Leid“ müsse man leise singen, denn es sei traurig u. a.1
Auf die Lektion Gesangsmethodik für den obersten Kurs der Semina-
ristinnen war ich natürlich besonders gespannt und erfuhr keine geringe
Enttäuschung, als da von der Musiklehrerin der „protest Choral“ und „Luther
als Retter der Kirchenmusik“ behandelt wurde: der protest Choral sei der
Repräsentant der deutschen Musik im Gegensatz zur katholischen Kirchen¬
musik, die lateinisch seil Aber wo bleibt denn da das katholische
deutsche Kirchenlied? Fest und steif wird da noch voigetragen, Luther
habe eigene Choralmelodien erfunden, er habe den Gesang verdeutscht, in
der katholischen Kirche sei der Gemeindegesang nur geduldet gewesen, Luther
sei der Schöpfer eines neuen Choraltypus, das „Ein feste Burg“ sei so ein¬
fach und volkstümlich, das brauche man eigentlich gar nicht zu lernen, jedes
Kind könne es leicht merken und singen. Solche und ähnliche ganz falsche oder
äußerst schiefe und mißverständliche Behauptungen einer Musiklehrerin eines
protest. Lehrerinnenseminars, die nebenbei von einem „cantabile“ und in
unbewußter Selbstpersiflage von einem „diabölus *) in musica“ sprach, muteten
mich, zumal aus dem Munde einer Schriftstellerin (Musik in Schule und Hausl)
etwas eigentümlich an und ich erlaubte mir, ihr beim Abschied die Lektüre
meiner Musikgeschichte zu empfehlen. In der Einklassenübungsschule eines
außerdeutschen Seminars wird von dem Seminar-Musiklehrer ein langatmiger
gelehrter musikalischer Krimskrams vorgetragen, mindestens eine halbe Stunde
lang an einem einfachen Lied herumdisputiert über Tonnamen und Intervalle,
große und kleine Sekunden und Terzen (dabei heißt es beständig: re steht
in der 1. Linie, von do bis re ist ein ganzer Ton! u. a.). Dann nach all
diesen unnötigen und deplacierten Umschweifen wird endlich gesungen, aber
wie! Nicht etwa von einzelnen oder in Gruppen, nein gleich von allen unter
meist sogar 2stimmiger Begleitung der Violine! Also keine Ahnung von
Gesangsmethode — und es klang daher um so drolliger als mir der Musik¬
lehrer am Schluß der Stunde stolz bemerkte: „Sie sehen, man muß überall
Methode haben, auch bei den Kleinen, wenn sie*) es auch nicht merken 1“
*) Diese falschen Betonungen erinnerten mich an den „Musfker" und das
„choraliter“ vieler unserer Lehrer!
*) Ich weiß nicht, meinte er das ,sie‘ mit großem oder kleinem S; ich merkte
allerdings nichts von Methode und die ,KIeinen‘ wahrscheinlich noch weniger!
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Ein musikalischer Besuch in deutschen Lehrerseminarien
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Auch bei den „Großen“ (Seminaristen) war es ähnlich: viel Erklärungen
Ober einen lateinischen Männerchor, seine Akkorde mit der umständlichen
Benennung in Solmisationssilben, seine Transposition mit entsprechender
Änderung der Schlosset usw., dann endlich die bezeichnende Aufforderung:
„nun aber tüchtig drauf losgesungen !*, worauf mit aufdringlicher mehrstim¬
miger Violinbegleitung des Lehrers der ganze Chor von A—Z herunterge¬
schrieen wird I Und das heißt man in Lehrerseminarien Gesang und Gesangs¬
schulung und Methode und Ästhetik?
Man darf wohl sagen: Am Musikunterricht in unseren heutigen Lehrer¬
seminarien ist wohl der Unterricht im Gesang und in Gesangsmethodik das
Schwächste, und es war mir in dieser Hinsicht mehr als bezeichnend, daß
von diesen Seminarmusiklehrern und Unterlehrern nur ein einziger und außer¬
dem eine Lehrerin von der Existenz der Eitzschen Tonwortmethode
wußten. Und doch gehört sie nicht eigentlich mehr zu den neuesten Erschei¬
nungen und Erfindungen, denn ihre Geburt fällt schon in den Anfang der
neunziger Jahre. Um so mehr sollte man doch meinen, würden sich wenig¬
stens vor allem jene Männer dafür interessieren, die berufen sind, auf diesem
Gebiete so viele andere zu unterrichten und ihnen nach bestem Gewissen das
Beste zu bieten, die also berufen sind, sich über alle Neuerungen zuerst sich
selbst zu unterrichten, alles zu prüfen, um das Beste zu wählen und zu be¬
halten und zu empfehlen, und zu verbreiten. Ich hätte nicht gedacht, so viel Igno¬
ranz und Gleichgültigkeit gerade bei diesen tonangebenden Männern zu finden
einer epochemachenden Neuerung gegenüber, die, wie R. Heuler mit Recht
schreibt, berufen ist, „auf gesangsmethodischem Gebiete eine gänzliche Neu¬
ordnung der Dinge zu bewirken; nach dem Tonwort benennt sich ein neues
Unterrichtsverfahren, das an Originalität und Vollkommenheit in jeder Be¬
ziehung alles Dagewesene weit übertrifft, die Tonwortmethode. 41 Das klingt
fast wie eine marktschreierische Reklame, und doch ist es keine Übertreibung.
Heuler, der seit Jahren an seiner Schulklasse und an der Zentralsingschule
in Würzburg darnach unterrichtet, hat genug Erfahrung hinter sich, um das
zu wissen und sagen zu können und wer es trotzdem nicht glauben will,
dem empfehle ich eine Wallfahrt nach Würzburg und er wird gleich Heuler
„aus einem ungläubigen Saulus ein überzeugter Paulus“ werden. Und nun
nur noch kurz die Grundlinien dieses Systems: Es knüpft an Guidos Solmi¬
sationssilben an und was dort zufällig und unlogisch und unpsychologisch
ist, das wird abgestreift oder vielmehr ein ganz neues streng logisches und
psychologisches System entwickelt, Tonsilben, Tonworte, die in schönster
Harmonie der gesangstechnischen Ausbildung, der Ton- und Stimmbildung
dienen. — Soviel steht ja von vornherein fest, daß die Guidonischen Silben
nur zufällige, nicht logisch geordnete Bildungen sind und ähnlich den Ziffern
nur die diatonischen Tonstufen benennen ohne Rücksicht auf Chromatik
und Enharmonik. Die Tonworte dagegen sind fein logisch ausgedachte abso¬
lute Tonbezeichnungen, ähnlich unsem gewöhnlichen Tonnamen, aber auch
für jede chromatische resp. enharmonische Stufe vorgesehen, demnach zu¬
sammen 21 Tonworte, je aus einem anlautenden Konsonanten mit nachfol¬
gendem Vokal bestehend. Aus 6 Moment- und 6 Dauerlauten und den 5 Vo¬
kalen ist das ganze System in schönster Ordnung gebildet. Die 6 Moment¬
laute b t g p d k kommen zur Anwendung für die Ganztonstufen von c aus,
die 6 Dauerlaute r m s 1 f n für die dazwischenliegenden Halbtonstufen, die
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Ein musikalischer Besuch in deutschen Lehrerseminarien
Vokale a e i o u folgen sich z. B. in der G*Durtonleiter in dieser Reihen*
folge: la fe ni bi to gu pa la. Unsere C-Durtonleiter lautet beispielshalber:
bi to gu su la fe ni bi. Wir sehen schon hieraus: bei der großen Halbton¬
stufe haben wir den gleichen Vokal (ni bi — h c, gu su — e f, und pa la =
fis g). So wird es bei allen Halbtönen gehalten: wissen wir also z. B. daß
c = bi ist, so wissen wir auch, daß des im Tonwort den Vokal i bringen
muß, weil bi (c) der Leitton zu des ist; tatsächlich ist des — ri, c des = bi ri.
Ebenso muß der Leitton zu to (d), nämlich cis, im Tonwort den Vokal o
bringen und da cis enharmonisch mit des ist, so behält es den Konsonanten r
bei, heißt also ro, cis d — ro to, cis des ist demnach — ro ri, wobei in ein¬
facher und feiner Weise durch Wechsel des Vokals nebenbei noch der Komma¬
unterschied ausgedrückt wird. Die Vorzüge dieser Anordnung sind ohne
weiteres einleuchtend, sie sind aber nicht die einzigen des Systems. Wir
lernen sie am besten kennen, wenn wir die neue Methode mit den alten ver¬
gleichen, die ja doch heute noch vorherrschen und von welchen die meisten
nicht lassen wollen, weil sie das Alte für gut und erprobt halten, dem Neuen
aber skeptisch gegenüber treten, eben weil sie seine Vorzüge nicht kennen
und es um den Preis von viel Zeit und Mühe zu teuer erkauft halten. Es ist
aber bei näherer Betrachtung leicht zu sagen, wo der größere Erfolg ist und
wo sich Zeit und Arbeit besser rentieren. Das vielbeliebte Ziffernsingen gibt
ja allerdings eine gewisse Vorstellung der gesungenen Intervallengrößen oder
regt dieselbe wenigstens an, aber im übrigen sind die Ziffern nur Stufen*
nicht Tonnamen und als Stufennamen drücken sie nicht einmal den Unter¬
schied der kleinen und großen Stufen, der Ganz- und Halbtöne, noch viel
weniger die veränderten und übermäßigen Intervalle, die chromatischen und
enharmonischen Tonverhältnisse aus, womit wiederum die Schwierigkeit ihrer
Übersetzung in Noten und des Verständnisses der Notenschrift und der durch
sie bezeichneten Tonverhältnisse von selbst gegeben ist Modulation mit
Ziffern führt zu Künsteleien, die Ziffernmethode dient eigentlich nur der Dia-
tonik. Auf den nicht geringen Nachteil des Ziffernsingens für Ton- und Stimm¬
bildung wurde schon früher hingewiesen; e, i, ü, ei ist alles, was man an Vo¬
kalen zu hören bekommt. In letzterem Punkte wenigstens bietet die Solmi-
sationsmethode mehr: außer dem Vorteil der stets anlautenden Konsonanten
(wenn do statt ut gebraucht wird) hat sie noch den angenehmen Wechsel
von wenigstens vier (in Frankreich fünf) Vokalen: a, e, i, o, wenn wir von
der wenig geschmackvollen Bezeichnung der erniedrigten Stufen mit dö rö
mö fö schö lö sö und der erhöhten mit dä rä mä fä schä lä sä u. a. Altera¬
tionen absehen. Im übrigen teilt aber auch die Solmisation alle Nachteile der
Ziffernmethode. Was endlich das Singen mit unsern gewöhnlichen Noten¬
namen anlangt, so haben wir in letztem allerdings zugleich Ton- und Ton¬
höhenbezeichnungen, die neben der Diatonik zugleich die Chromatik und En-
harmonik berücksichtigen; aber zur Veranschaulichung des Leittons oder des
Höhenunterschieds enharmonischer Töne u. a. lassen sie sich doch nicht herbei
und der Ton- und Stimmbildung bieten sie ebenfalls viel zu wenig, wenn man
sieht, wie willkürlich die Silben mit Konsonanten oder Vokalen anlauten, wie
willkürlich letztere aufeinanderfolgen, wie z. B. Cdur gleich fünfmal den Vokal
e und nur zweimal a, F- und Gesdur siebenmal e, und Cisdur siebenmal i
bringt! Keiner dieser teilweise bedeutenden Nachteile findet sich bei der Ton¬
wortmethode, vielmehr bietet sie außer den schon genannten noch geradezu
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Ein musikalischer Besuch in deutschen Lehrerseminarien 137
ideale Vorzüge: Die mathematische Berechnung der Intervalle, die bisherigen
systematischen Vorübungen und alle andern Hilfsmittel werden entbehrlich,
da sich mit dem Tonwort und den Tonwortreihen allmählich ganz von selbst
die Ton- und Tonreihenvorstellungen, Sprachlaut und Tonbegriff im Wort¬
symbol verschmelzen, das so die Einheit zwischen Schriftzeichen und Ton
vermittelt und das Gefühl für absolute Tonhöhe und Treffsicherheit und nicht
weniger das harmonische Gefühl in einer bisher ungewohnten Weise ent¬
wickelt. Größere Anforderungen können wir an eine moderne wissenschaft¬
lich begründete Gesangsmethode gar nicht stellen und glänzender hat sich
noch gar keine bewährt, das kann man dort sehen, wo nach derselben unter¬
richtet wird: ich habe in Würzburg z. B. bei sechs- und siebenjährigen Kin¬
dern Resultate beobachtet, wie wir sie bei uns nach sechs- und siebenjährigem
Schulbesuch oft vergeblich suchen; das sind Erfolge, das sind Tatsachen, die
sich nicht einfach wegdisputieren und noch viel weniger totschweigen lassen.
„Wir haben im Tonwortsystem Eitz das erste und bisher einzige Ton¬
namensystem, das den Eigentümlichkeiten unseres modernen Tonsystems an¬
gepaßt ist 4 * (Borchers) und „so stellt sich das Tonwort als die gewaltigste
Neuerung auf gesang-methodischem Gebiete seit den Tagen Guidos von Arezzo
dar. Auf die Dauer kann die Gesangspädagogik diesen Markstein nicht um¬
gehen, mögen auch Arroganz und Ignoranz noch so geschäftig am Werke
sein, hier wie überall, wo es gilt, wahrhaft Großes zu verkleinern" (Heuler).
Es mutet einen sonderbar an, wie man bei diesem Tatbestand noch gegen
das Eitzsche System für die „rationelle Solmisationsmethode“ eine Lanze bre¬
chen mag, wie das neuerdings im „Kirchenchor“ (1909, Nr. 6, 7 und 8) ver¬
sucht wird. Wer das Eitzsche System verstanden hat, der sieht alle andern
Methoden mit vollem Grund als veraltet und rückständig an.
Also in die Zukunft schauen, die neue Methode ergreifen und nach' ihr
arbeiten, muß die Parole sein. Es ist die höchste Zeit Erst jüngst ist von
berufener Seite (die ersten deutschen Musiker und Musikgelehrten haben unter¬
zeichnet) ein für jedermann, namentlich für alle Interessenten höchst lesens-
und beherzigenswerter, offener Brief unter dem Titel „Das Elend des deutschen
Volksgesangs“ an den deutschen Reichstag, die deutschen Landtage, an die
deutschen Kultus- und Unterrichtsministerien und die kirchlichen Oberbehör¬
den beider Konfessionen gesandt worden. Darin wird u. a. geklagt, das Gros
der deutschen Volksschulgesanglehrer bediene sich in dem auf bloßer Nach¬
ahmung beruhenden Gehör- resp. Gedächtnissingen heute noch eines Unter¬
richtsverfahrens, das allen logischen und psychologischen Gesetzen der mo¬
dernen Unterrichtskunst Hohn spreche; mit der gänzlichen Ausschaltung von
Solmisationsmitteln habe man dem Gesangsunterricht die formal bildende
Kraft genommen. Vorbedingung zu besseren Leistungen, so heißt es, wäre
vor allem eine grundstürzende Revision der gesetzlichen Bestimmungen über
die Ausbildung der Seminarmusiklehrer, sowie über die Art des an Lehrer¬
seminarien zu erteilenden Musikunterrichts; ein Seminarlehrer müßte doch in
erster Linie ein ganz hervorragender Gesangsmethodiker und ein guter Stimm¬
bildner sein. Nur so sei eine sichere Gewähr gegeben, daß der angehende
Volksschullehrer die nötigen Qualitäten als Volksschulgesanglehrer mitbringt;
nur so könne dem Unheil, das heute Tausende fleißiger, aber ungenügend vor¬
gebildeter Gesanglehrer am Stimm material des Volkes anrichten und das nicht
selten zu schweren körperlichen Schädigungen führt, wirksam begegnet wer-
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138 Ein musikalischer Besuch in deutschen Lehrerseminarien
den. Leider gebe es heute noch deutsche Schullehrerseminarien, denen Volks-
schulgesangmethodik ein gänzlich unbekanntes Unterrichtsfach sei, Semi-
narien, die jahraus jahrein nur schulgesangmethodische Pfuscher in die Praxis
schicken, die keine blasse Ahnung haben von dem, was ein angehender Ge*
.sanglehrer wissen und können müsse. Zum Schluß stellt der Brief als For*
derungen einer zeitgemäßen Umgestaltung des Volksschulgesangunterrichts
u. a.: Ausschluß des reinen Gedächtnissingens; Einführung eines einheitlichen,
dem modernen Tonsystem angepaßten lautsprachlichen Symbols zum Zweck
der Vorstellungsverknüpfung zwischen Tonzeichen und Ton; Singenlernen nach
Noten (alle andern Tonzeichen sind zeitraubende Umwege) unter allen Um¬
ständen auch in der letzten Dorfschule; für das ganze deutsche Reich, soweit
dies nicht bereits der Fall ist, zwei wöchentliche Unterrichtsstunden für Ge¬
sang; täglicher Gesangunterricht von zwanzig Minuten; Einübung der Choräle
in den Religionsstunden; einheitliche Reorganisation des Prüfungsverfahrens
im Gesang mit gesteigerten Ansprüchen an geteilte Schulen; Ausbildung der
Seminarmusiklehrer im Sologesang und in der Geschichte der Schulgesang¬
methoden; bessere Ausbildung der angehenden Volksschullehrer im Lehrer¬
seminar sowohl im Sologesang als besonders in der Schulgesangmethodik.
Wir sehen, der Brief führt eine ernste und praktische Sprache und wir
können nur wünschen, daß ihm Gehör geschenkt würde. Was der Brief unter
dem „lautsprachlichen Symbol* verstanden wissen will, sagt R. Heuler in
seinem „Gesangunterricht“, wo er ähnliche Forderungen bringt, deutlicher:
„eine einheitliche Unterrichtsmethode an der Hand des Tonworts.“ Nur
um diese Methode kann es sich natürlich handeln, und da könnten viele in
ihrer Sphäre und ihrem Wirkungskreise schon jetzt beitragen, daß diese For¬
derung beachtet und durchgeführt würde. Die meisten Volksschullehrpläne
schreiben keine bestimmte Gesangmethode vor, sondern lassen dem Lehrer
hierin im allgemeinen ganz freie Hand. Darnach stände es in der Kompetenz
des Einzelnen, gerade mit der Tonwortmethode auf eigene Faust einmal einen
Versuch zu machen; eine diesbezügliche Anfrage um Erlaubnis beim Bezirks¬
schulinspektor dürfte kaum einen abschlägigen Bescheid erhalten, vielleicht
im Gegenteil eine Aufmunterung. Ebenso könnte ohne alles weitere die Ver¬
teilung der vorgeschriebenen Gesangunterrichtszeit auf täglich 10—20 Minuten
erfolgen. Die Bezirksschulinspektoren hätten es in der Hand, einigen tüchtigen
Lehrern ihres Bezirks den Unterricht nach der Tonwortmethode nicht nur zu
erlauben, sondern nahezulegen oder zu befehlen, zumal wenn das Unterrichts¬
ministerium der Neuerung nicht abgeneigt ist Unter den übrigen Mitteln und
Wegen wären zumal für die Übergangszeit noch Ferien- und sonstige Instruk¬
tionskurse für die Volksschulgesanglehrer zur Erlernung der Tonwortmethode *)
zu empfehlen und da könnten sich die Diözesan-Cäcilienvereine recht ver¬
dienstlich machen, wenn sie sich solcher Kurse annehmen würden: das brächte
der musica sacra, einer gediegenen Kirchenmusik, mehr Nutzen, als die oft
‘) Zur näheren Orientierung über das System nenne ich: die bei Breitkopf und
Härtel verlegten Eitzschen Schriften „Deutsche Singfibel", „das Tonwortsystem und
sein Verhältnis zu den in der Musik bestehenden 3 Stimmungsarten“, „die Schul¬
gesangsmethoden der Gegenwart“ u. a.; R. Heuler: der Gesangunterricht in den
unteren Klassen der Volksschule, Würzburg 1908, und der Gesangunterricht an der
Würzburger Zentralsingschule, in 3 Teilen, wie auch ein neues Liederbuch nach der
Tonwortmethode, beide Würzburg 1909.
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Die Generalversammlungen des Cäcilienvereins 139
planlos und nutzlos verlaufenden Cäcilienvereins-Versammlungen mit den be¬
kannten Produktionen aller möglichen Kirchenchöre mit Kompositionen, die
gewöhnlich nicht für sie geschrieben sind. Das Obel auch hier an der Wurzel
fassen: den Dirigenten das Unwflrdige und Nutzlose der geistlosen Einpauk-
methode darlegen und zum Bewußtsein bringen, sie zur Gründung kleiner
Chorsingschulen, in denen methodisch gearbeitet würde, anleiten, sie als Lehrer
zur entsprechenden notwendigen methodischen Vorarbeit in der Schule auf-
muntern, das wäre des Schweißes der Cäcilienvereine und aller Edlen wert!
Steinhausen (bei Scbußenried) Dr. A. MShler
--
Die Generalversammlungen des Cäcilienvereins
D er Cäcilienverein hat sich zur Aufgabe gestellt, die in den vorausgegan¬
genen Jahrhunderten tief gesunkene und entartete katholische Kirchen¬
musik emporzuheben und ihrem ursprünglichen Zwecke wieder zurückzu¬
geben. Hierzu bedient sich der Verein mannigfacher Mittel, unter denen be¬
sonders einem große Bedeutung zukommt: »Abhaltung von Versammlungen,
verbunden mit belehrenden Vorträgen und musikalischen Auffüh¬
rungen.“ (Statuten des Cäcilienvereins). 1 ) Unter diesen Versammlungen
nehmen naturgemäß die Generalversammlungen (G.-Vn.) die hervorragendste
Stellung ein. Nach dem Wortlaute der Statuten sind sie vornehmlich
nach zwei Richtungen hin zu betrachten und zu bewerten: Belehrung —
Wissenschaft, und musikalische Aufführungen — Kunst, beides unter steter
Beachtung des Kulminationspunktes: der hl. Liturgie. Das Bereich der G.-Vn.
ist demnach groß, so groß, daß eine Dauer derselben von zwei Tagen und
einem halben kaum genügt, um den Teilnehmern ein Bild von der Univer¬
salität der Kirchenmusik zu geben, zumal noch andere, mehr der tech¬
nischen Seite und der Verwaltung des Vereines dienende Aufgaben zu erle¬
digen sind. Die G.-Vn. sind eine Heerschau über den Verein, über seine
Ausdehnung, über sein Wirken und seine Erfolge; sie haben Rechenschaft
abzulegen über die Leistungen des Vereines im großen und im kleinen; sie
sollen reformatorisch wirken, belehren, begeistern und erbauen, die außerhalb
des Vereines Stehenden anziehen, die Mitglieder desselben aber in ihren
musikalischen Grundsätzen festigen. Dies ist nur zu erreichen durch die an¬
geführten zwei Punkte: a) Belehrung — Wissenschaft, und b) Aufführun¬
gen — Kunst.
a) Diese beiden wichtigsten Seiten der G.-Vn. stehen in reziprokem Ver¬
hältnisse zueinander. Was die Belehrung durch Worte demonstriert, wird
bei den Aufführungen durch die Tat gezeigt, die Theorie wird durch die Praxis
erläutert Man wendet vielleicht ein, die Belehrung habe bei G.-Vn. keinen
Platz, sondern sei Sache der Kirchenmusikschulen, kleineren Diözesanver-
sammlungen, oder der Instruktionskurse, einer Art musikalischer Wanderver¬
sammlungen. Zugegeben, aber nur zum Teil! Einen Leitfaden für Musikwissen¬
schaft oder eine Musikfibel geben die G.-Vn. allerdings nicht ab, obwohl sie
gerade der „misera contribuens plebs“, den unteren Schichten des Musik-
') Es bleibe dahingestellt, ob es nicht am Platze wäre, diesem Paragraphen
der Vereinsstatuten das Wörtchen .alljährliche“ voranzustellen, analog den alljähr¬
lichen Tagungen weltlicher Musikvereinigungen und -Kongresse.
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140
Die Generalversammlungen des Cäcilienvereins
volkes, vieles bieten sollen, wovon später. Die Besucher sind musikalisch
gebildete, der groben Mehrzahl nach ausübende Berufsmusiker oder Dilettanten,
d. i. Musikliebhaber im guten Sinne, die entweder „ganz allein mit Frau
Musika sinnige Zwiesprache pflegen“ oder mit „gleichgesinnten Freunden aus-
führend oder zuhörend sich vereinigen.“*) Die Tatsachen beweisen aber, dab
viele tüchtige, wohlgesinnte Musiker, Sänger, Lehrer und Chorregenten, zwi¬
schen weltlicher und kirchlicher Kunst nicht recht zu unterscheiden wissen,
dab sie sich nicht im klaren sind, was eigentlich unter liturgischer Musik,
einer Musik „im Geiste der Kirche* zu verstehen ist. Gar viele, vielleicht
die meisten Besucher der G.-Vn. hatten ja keine Gelegenheit, Kirchenmusik¬
schulen, deren Anzahl zurzeit noch nicht zu grob ist, oder Instruktions¬
kurse etc. zu besuchen, während in ihrer Heimat die Pflege wahrer Kirchen¬
musik noch keine Stätte gefunden hat. Die G.-Vn. haben nicht lokalen Cha¬
rakter, sondern sind für den die weitesten Lande umspannenden Verein ein
Sammelpunkt, wo sich Gelegenheit ergibt, die Koryphäen des kirchenmusikali¬
schen Lebens zu hören und ihren auf solidem Wissen und Können beruhenden
Belehrungen zu lauschen. Es bedarf also mehrerer Vorträge, die nicht nur
die in der Kirche zulässigen Musikzweige, sondern auch Geschichte, Ästhetik
und Theorie (vide Dr. Widmanns Vortrag über Phrasierung in Passau) zum
Gegenstände haben. Dabei könnten die Ergebnisse mitgeteilt und besprochen
werden, welche sich aus den Forschungen und Arbeiten der „Kommission
für Musikwissenschaft“, deren Konstituierung als „ständiger Ausschub für
Musikwissenschaft“ bei der 19. G.-V. beschlossen wurde, ergaben. Von Wich¬
tigkeit ist die möglichst populäre Form dieser Belehrungen, um das allge¬
meine Interesse zu wecken, da ja die G.-Vn. nicht nur für Fachleute,
Künstler und Gelehrte abgehalten werden, sondern auch für solche, die mit
musikalischer Kleinarbeit sich zu beschäftigen haben. Und diese bilden die
grobe Majorität der G.-Vn. Es sind dies, im musikalischen Sinne gesprochen,
die „Kleinen“, die voll Lernlust und Streben, ihren musikalischen Gesichts¬
kreis zu erweitern, zu den G.-Vn. wie zu einer Art von Hochschulkursen
herbeiströmen. Ihnen — und auch anderen 1 — kann nicht eindringlich und
oft genug bedeutet werden, dab nicht jede Art von Musik, die an sich schön
ist, auch für die Liturgie pabt; ihnen mub von Männern, deren Darlegungen
infolge ihres Ansehens, ihrer Stellung, ihrer Gelehrsamkeit und Tatkraft be¬
sonderes Gewicht beizulegen ist, aufe bestimmteste nahegelegt werden, dab
es Gesetze gibt, welche die Musik zwar nicht in ein Prokrustesbett legen,
wohl aber nach einer bestimmten, für den Gottesdienst tauglichen Richtung
leiten und heiligen wollen, und dab es Pflicht des Seelsorgers, Chorregenten
und Kirchenmusikers ist, diese Gesetze zu kennen.
Eine andere, mehr volkstümliche Art der Belehrung sind die instruk¬
tiven Proben, die, von einem kundigen Dirigenten geleitet, sich zu den
interessantesten Programmpunkten gestalten und eine Fülle von Anregungen
und Aufschlüssen in künstlerischer, ästhetischer, praktischer, technischer,
historischer, liturgischer und sprachlicher Beziehung geben; sie weisen auf
so viele landläufige Fehler und Mängel hin und zeigen in Wort und Beispiel
das Richtige; sie regen den Fleib an, und „die Hauptsache ist der Fleib“
(Schiller); sie leisten Kleinarbeit, die wichtigste Vorbedingung für tüchtige,
*) Storck, Vorwort zur 2. Auflage der Geschichte der Musik.
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Die Generalversammlungen des Cäcilienvereins 141
künstlerische Erfolge; sie geben den Hörern Gelegenheit, ihr musikalisches
Gewissen zu erforschen und zu prüfen, ob ihre Arbeiten zu Hause mit den
allgemein gültigen, ihnen hier vorgezeigten Normen übereinstimmen oder nicht,
kurz ob sie sich am richtigen oder falschen Wege befinden, und damit ist
ein grober Schritt nach vorwärts gemacht.
b) Hand in Hand mit diesen Belehrungen gehen die musikalischen Auf¬
führungen. Jetzt kommt die Praxis zur Geltung. Der Teilnehmer nimmt
wahr, wie die in die Praxis umgesetzte Theorie sich darstellt, und jetzt läßt
er die hl. Kunst auf seine Seele einwirken; hier schöpft er Begeisterung,
die Triebfeder des Fleißes; hier schleicht sich unvermerkt die Erbauung, der
Tau der Gnade, in sein Herz; hier kommt ihm so recht zum Bewußtsein die
Hoheit und Würde der hl. Kunst, die sich bei den G.-Vn. in ihrer ganzen
Schöne und Erhabenheit entfaltet Möchten doch die grollend abseits stehen¬
den Größen, die Dirigenten und Mitglieder der weltlichen Konzertvereinigungen,
sich entschließen, einmal eine andere Rolle als die des musikalischen Feld¬
herrn und siegreichen Kämpen zu spielen, ihren glänzenden Fürstenmantel
nur auf einige Tage mit dem schmucklosen Kleide der Demut und Bescheiden¬
heit zu vertauschen und als Hörer den musikalischen Darbietungen einer
G.-V. beizuwohnenI Sie würden die Muse, der sie sich geweiht haben, in
einer Metamorphose erblicken, die ihnen Bewunderung abringen müßte, wie
ja umgekehrt die Verehrer der kirchlichen Kunst mit Eifer und Verständnis
den weltlichen musikalischen Unternehmungen sich anschließen, wofür die
Musikkongresse etc. ein beredtes Zeugnis ablegen. Sie würden die Wahrneh¬
mung machen, daß auch der Cäcilienverein ausgezeichnete Dirigenten aufzu¬
weisen hat, die es zustande bringen, Musikliebhaber und musikalisch veran¬
lagte Kinder zu vorzüglichen, ja künstlerischen Leistungen zu erziehen, die
es verstehen, aus dem reichen Schatze kirchlicher Musik mit hohem Kunst¬
verständnisse das Interesse der Kunstkenner und -Freunde wachrufende Pro¬
gramme auszuwählen und diese kunstgerecht durchzuführen.
Die Programme der G.-Vn. haben die Aufgabe, die Universalität der
K.-M. zu zeigen, und zwar innerlich und äußerlich. Innerlich: Alle Zweige
der K.-M. sind vertreten: Choral, Palestrina-Stil, moderner Stil, Orgel, deutsches
Kirchenlied und — Rezitation. Besonderes Glück wäre den Dirigenten zu
wünschen in der Auswahl von Instrumentalwerken. Dieses Feld ist inner¬
halb des Cäcilien-Vereins relativ noch wenig bebaüt, obwohl auch hierin
schon Achtungserfolge zu verzeichnen sind. Und vielleicht eröffnet sich in
nicht allzuferner Zeit eine ungeahnt reiche Fülle von edler, kirchlich würdiger
Instrumentalmusik, wenn, wie zu hoffen ist, die Resolution Weinmann auf
dem III. Kongresse der Intern. Musikgesellschaft zu Wien Erfolg hat, die
lautet: »In der Erwägung, daß der Verfall der kirchlichen Instrumentalmusik
erst im 18. Jahrhundert eingerissen ist und daß andererseits im 17. Jahrhun¬
dert kirchenmusikalische Werke mit Instrumentalbegleitung existiert haben,
die, soweit man bisher zu beurteilen vermag, dem Geiste und dem Ernste
der Liturgie nicht widersprechen, erklärt die Sektion, daß eine wissenschaft¬
liche Untersuchung dieser Periode der K.-M. nach den Quellen eine drin¬
gende Aufgabe der Gegenwart ist."
Zur Erzielung einer ästhetisch befriedigenden Wirkung der Instrumen¬
talmusik gehören jedoch Berufsmusiker oder doch gut geschulte Musiklieb¬
haber, die wohl in größeren Städten, niemals aber auf dem Lande zu finden
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142 Die Generalversammlungen des Cäcilienvereins
sind. Zudem verlangen die Instrumente einen größeren Gesangschor, an dem
es auf dem Lande ebenfalls fehlt Die Hausmusik, die ehedem in Städten
und Märkten, ja in Dörfern so liebevolle Pflege fand, ist nahezu verschwunden,
und das musikalische Leben und Treiben fast ausschließlich in die großen
Konzertsäle verlegt. Auf dem Lande also, wo die Instrumente, besonders
Blasinstrumente, nur schlecht oder mangelhaft besetzt werden können, möge
Instrumentalmusik ganz beiseite gelassen und nur Gesangsmusik gepflegt
werden. Und hierin haben die General-Versammlungen eine große er¬
ziehliche Aufgabe. Ist der Gesang an und für sich das Ideal der K.-M.,
— »Und das Schöne blüht nur im Gesang“ (Schiller) — weil nur durch
ihn der erhabene Inhalt des liturgischen Textes am besten zum Ausdruck
gebracht wird, so soll dem Gros der Teilnehmer, den Chorregenten und
Sängern der kleineren Chöre, etwas in möglichst musterhafter Aus¬
führung geboten werden, was auch sie in ihrem kleinen Kirchlein zustande
bringen. Nicht nur in den Domen, sondern auch im bescheidenen Dorfkirch¬
lein erklinge das Lob Gottes in würdiger, möglichst kunstgemäßer Art! Und
das gehört zur äußeren Universalität der K.-M. Viele mögen von den G.-Vn.
schon nach Hause .zurückgekehrt sein mit dem traurigen Empfinden: ja, schön
war es, aber das übersteigt meine Kräfte, so etwas bringe ich auch nicht
annähernd zusammen. Darum wird der Mut und Fleiß auch des Kleinen
angeregt durch Absingung eines vollständigen liturgischen Amtes mit durchaus
leichteren, keineswegs aber völlig kunstlosen Gesangsstücken mit und ohne
Orgel, in den alten und modernen Tonarten. Bei den Choralgesängen mag
der eine oder andere Vers rezitiert werden. Schön rezitieren ist nicht leicht;
wer aber nicht richtig rezitiert, kann auch nicht richtig den Text deklamieren
beim Gesänge. Auch dieses scheinbar so einfache, bisweilen von der Not
diktierte Hilfsmittel muß gezeigt und gehört, und ebendadurch gelernt werden.
Einzelne Verse, von einem Chore mezza voce unter leiser Begleitung rezitiert,
üben eine erhebende Wirkung aus.
Eine „reformatorische Tat“ (Dr. Haberl) bot die 19. G.-V. in Passau
durch den liturgischen Kindergesang beim einfachen Amte. Die Gesänge,
nach Art der syllabischen Gesangsstücke des gregorianischen Chorales kompo¬
niert, wurden von einer so großen Kinderschar ausgeführt, daß ihr Gesang
in den Riesenräumen des Domes voll und gesättigt erklang. Die Kleinen
sangen unerschrocken und begeistert in rührender Einfalt ohne jede Künstelei,
aber nicht ohne gewisse Kunstfertigkeit. Auch die Responsorien erfolgten
präzise, ein Beweis gespannter Aufmerksamkeit und guter Disziplin. Das war
ein Vorbild für den in bescheidenen musikalischen Verhältnissen lebenden
Chorregenten, ein Fingerzeig, wie er zu Hause die Reform einleiten könne.
„Wißt ihr, wie auch der Kleine was ist? Er mache das Kleine
Recht; der Große begehrt just so das Große zu tun.“ (Göthe.)
Der Cäcilien-Verein ist für die Länder deutscher Zunge gegründet.
Und mit Recht sehnt sich das Volk nach dem deutschen Liede, nach dem
Gesänge in der Muttersprache, nach jenen empfindungsreichen und altehr¬
würdigen Gesängen, die in vielen Gesangsbüchern bereits gesammelt, aber
nicht, oder doch nur selten gesungen werden. Es fehlt den an sich guten
Gesangsbüchem die einheitliche Redaktion an Melodie und Text, ein Mangel,
der die allgemeine Einbürgerung der Lieder behindert. Auch hierin bedeutet
ein Antrag Müller bei der 19. G.-V. einen Fortschritt: „Der Allgemeine
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UNIVERS1TY OF MICHIGAN
Die Generalversammlungen des Cäcilienvereins
143
Cäcilienverein wird ersucht, die wissenschaftliche Kommission zu beauftragen,
sich mit dem Hochw. Episkopat des deutschen Sprachgebietes in Verbindung
zu setzen, damit die Schaffung einer kleinen Sammlung von vielleicht
52 deutschen Kirchenliedern ermöglicht werde, die überall in demselben
Texte und nach derselben Melodie gesungen werden können.* Wenn
man aber weiß, wie die deutschen Lieder, zuweilen durch die Schuld der
Organisten, vom Volke verschleppt, infolge dessen nach Text und Melodie
zerrissen werden, so resultiert für die G.-Vn. die Gelegenheit und Pflicht,
diese Lieder im richtigen Tempo, und die Begleitung in der angeme$ßenen
Stärke vorzuführen. Mögen die G.-Vn. das deutsche Kirchenlied nicht als
Stiefkind, sondern als Liebkind behandelnI
Hat die Orgel bei der Begleitung der lateinischen und deutschen Ge¬
sänge schon eine bedeutende Aufgabe geleistet, so bieten die G.-Vn. Gelegen¬
heit genug, daß der Meister den Meister uns zeige, daß der Organist aus der
älteren und neueren Orgelliteratur das eine oder andere bedeutende Werk
vortrage. Vor und nach den Hochämtern, beim Ein- und Auszuge des Bi-
schofes, während oder nach dem Nachmittagsgottesdienste kann der Organist
seine Kunstfertigkeit und seinen Geschmack zeigen. Sein eigenes Können,
das „von Gottes Gnaden“, das nicht erlernt werden kann, sondern der Künst¬
lerseele eingeboren ist, kann er entfalten beim Einspielen der Musikstücke,
beim Verbinden derselben, beim Fortspinnen des melodischen Fadens eines
bereits vollendeten, und beim Ergreifen des Hauptthemas des folgenden Stük-
kes. Es ist hier nicht der Platz, Personen und Orte zu nennen; es genügt
festzustellen, daß auch hierin die G.-Vn. wahre und große Kunst an den
Tag legen.
Mit all dem Gesagten ist schon angedeutet, daß bei den G.-Vn. der
Gottesdienst in möglichst feierlicher Weise abgehalten wird, daß die Li¬
turgie in voller Herrlichkeit erstrahlt Die G.-Vn. bieten ein religiöses Gesamt¬
kunstwerk, das den ganzen Menschen erfaßt und an sich zieht. Exempla
trahunt. Die Träger der höchsten kirchlichen Würden geben schon durch
ihr Erscheinen, noch mehr durch ihre aktive Beteiligung ihr Interesse für
kirchliche Kunst, für genaue Befolgung der kirchlichen Gesetze, wie über¬
haupt für reges kirchliches Leben kund. Und hat die 19. G.-V., wie schon
erwähnt, eine „reformatorische Tat“ geboten, so erglänzte sie in noch hel¬
lerem Lichte durch die apostolische Tat des kirchlichen Oberhirten der
Passauer Diözese. Exempla trahunt. Die G.-V. stand unter den liebevoll
schirmenden Fittichen des kunstbegeisterten Bischofes, der kein Opfer scheute,
um die Festtage für religiöse Kunst zu verherrlichen, der mit beredten Worten
die Tagung einbegleitete, sich selbst in den Mittelpunkt der G.-V. versetzte
durch zwei von ihm unter Aufwand aller kirchlichen Pracht zelebrierte Ponti¬
fikalämter, und der zum Schlüsse abermals eindringliche, Mut und Begeisterung
zusprechende Worte fand und den versammelten Männern und Jüngern kirch¬
licher Kunst seinen Segen mit nach Hause gab. Das ist eine echte und
wirksame Reform, das ist eine wahrhaft apostolische Tat. Exempla trahunt.
Es lebe die Tatl
Stift Göttweig P. Kob. Johaadl O.8.B.
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144
Was tut unserer Kirchenmusik vor allem not?
Der I. Vizepräses des Allgemeinen Deutschen Cäcilienvereins, Prof. Müller-
Paderborn hat auf dem III. Musikgelehrten-Kongreß in Wien in der Sektion für
Kirchenmusik anläßlich einer Debatte, die sich an die Vorträge Dr. Schnerichs
knüpfte, offene Worte von so weittragender Bedeutung für das Wesen unse¬
rer Kirchenmusik gesprochen, daß eine Wiedergabe derselben — wenigstens
soweit sie allgemeiner Natur sind — nur von größtem Nutzen sein kann.
Der Redner führte unter anderem aus:
Der Kirchenkomponist muß die liturgischen Formen und Normen
wahren. Das erfordert schon die Stellung der Kirchenmusik, die sich als
Teil eingliedem muß in das liturgische Gesamtwerk. Keine gesunde Ästhetik
wird den Kirchenmusiker von dieser Forderung dispensieren können. Diese litur¬
gischen Vorschriften sind indes nicht so enge und nicht so schlimm, als man
hie und da zu glauben scheint. In Bezug auf die Betonung dieser Gesetze
ist freilich von manchen gefehlt worden durch ein zu wenig, von manchen
durch ein zu viel. Es soll gar nicht geleugnet werden, daß im Cäcilien¬
verein zuweilen eine Art liturgischer Hyperkasuistik getrieben worden ist
Diese übertriebene und egoistische Auslegung und Anwendung
liturgischer Regeln hat man im Anfang der auf die Reformation
der Kirchenmusik abzielenden Bewegung, die sich jetzt im Cäci-
lienvereine organisiert hat, nicht gekannt. Sie wird auch inner¬
halb des Cäcilienveines von vielen einflußreichen Persönlichkei¬
ten nicht gebilligt. Und die Statuten des Vereines wissen nichts
von ihr. Wo man in der Diskussion über das Wesen kirchlicher Musik das
ästhetische Feinempfinden, die historische Schulung und die besonnene Pasto-
ralklugheit zu ihrem Rechte kommen läßt, wird es kaum jemals zu ernsten
Kollisionen bezüglich der liturgischen Gesetze kommen. Das zeigt sich auch
in der vielerörterten Frage der Wiederholung der Intonationsworte.
Die Beachtung der recht verstandenen und besonnen angewendeten litur¬
gischen Formen und Normen ist eine conditio sine qua non — nicht weniger
und nicht mehr — für die Kirchenmusik. Es ist nicht so schwer, in Bezug
hierauf eine Verständigung zwischen den verschiedenen Richtungen der katho¬
lischen Kirchenmusiker mit der Zeit zu erreichen.
Was uns allen, die wir an der Hebung und Förderung der religiösen
Musik arbeiten, am Herzen liegt, was wir gerade in unseren Zeitläuften
anstreben müssen mit Klugheit und Energie, was uns nottut an allen
Ecken und Enden der katholischen Kirchenmusik, das ist die kon¬
sequente und praktische Anerkennung des Grundsatzes: Die Kirchenmusik
ist eine Kunst. Die Kirchenmusik ist ein Teil, wahrhaftig nicht der schlech¬
teste Teil der Tonkunst. Wo keine Kunst, da keine Kirchenmusik. Und in
demselben Maße, in dem die wahre Kunst zurücktritt, in demselben Maße wird
die Kirchenmusik inferior. Im einfachsten und schlichtesten Tonsatze kann
ein wahrer Goldbarren tiefer, lauterer Kunst geboren sein: die Haydnsche
Volkshymne ist ein echtes Juwel profaner Tonkunst.
Aber es ist ein verhängnisvoller Irrtum, Tonreihen und Akkordfolgen,
die vom Zauberstabe innerlichen Kunstempfindens unberührt blieben, deshalb
zur Kirchenmusik zu zählen, weil sie den liturgischen Text in einer liturgi¬
schen Form herunterdeklamieren, ohne mit dem Wortlaute eines liturgischen
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Der kirchenmusikalische Kurs in Pilsen 1909
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Gesetzes äußerlich in Konflikt zu geraten. Gerade diese allgemein künstle¬
rischen Erwägungen sind es, die wir nachdrücklich betonen möchten — nach
rechts und nach links.
Wir sind uns anderseits der Verpflichtung bewußt, jener
Dutzendware, die die Produktion unserer Tage an den Strand
wirft, mehr und mehr, soweit es die jeweiligen Umstände und
Verhältnisse möglich machen, den Zugang zu jenem Tempel zu
verwehren, wo nur echte Kunst in den Dienst des Allerheiligsten
gerufen wird. Es ist kein Zweifel: im Cäcilienvereine ist man
auch hier nicht immer auf dem rechten Wege geblieben. Man hat
kleinliche und unkünstlerische Maßstäbe zuweilen bei der Beurtei¬
lung wirklich künstlerischer Leistungen angelegt; man hat noch
öfter die künstlerischen Erwägungen zurücktreten lassen hinter
die Markierungslinie leichter Verwendbarkeit oder „schulgerechter“
Handwerkerweisheit Es ist dem Cäcilienvereine ergangen, wie es jeder
geistigen Bewegung im Anfang ergehen wird, die zu früh auf unmittelbar
praktische Aufgaben gedrängt wird und dabei hauptsächlich die Dienste der
Vertreter der Praxis für sich zu gewinnen bestrebt sein muß. Der künst¬
lerischen Beurteilung unserer Kirchenmusik wollen wir eine Gasse
zu bahnen suchen. Welches Maß von Vorkenntnissen, Kenntnissen und
Erkenntnissen diese Beurteilung von Werken kirchlicher Tonkunst erfordert,
ist hier nicht näher zu untersuchen. Es sollte nur hingewiesen werden auf die
dringende Notwendigkeit, — in unseren Tagen wieder die künstleri¬
sche Bedeutung und den künstlerischen Charakter der Kirchenmusik mit
besonderem Akzent zu betonen.
(„Kongreß-Bericht“ S. 548ff.)
Der kirchenmusikalische Kurs in Pilsen 1909.
D er Präses der kirchenmusikalischen Vereine und intellektuelle Urheber
aller kirchenmusikalischen Reform in Böhmen, Mons. Ferd. Lehner,
welcher im Sinne von Dr. Witt und Dr. Haberl 34 Jahre lang seine kirchen¬
musikalische Monatschrift „Cyrill“ leitete, kann am Abende seines Lebens mit
Freude die vielen Früchte seiner langjährigen Arbeit begrüßen. Die von ihm
gegründeten Vereine „Jednoty cyrillskä“ entfalten überall ein sehr reges Leben
und veranstalten in den Städten oder Klöstern alljährlich instruktive Kurse.
Sehr bemerkenswert war besonders der heurige, von mehr als 200 Chor¬
regenten, Kirchenmusikern und Priestern besuchte Kurs in Pilsen am 9. und
10. September. Man wählte mit Vorliebe diese Stadt, weil hier durch den
unermüdlichen Eifer des weit über die Grenzen Österreichs bekannten Chor¬
direktors Norbert Kubät ein vorzüglich geschulter Sängerchor zu Gebote stand.
Am 9. September um 8 Uhr früh hielt der Vizepräses der „jednota
cyrillskä" Mons. A. Wünsch in der Erzdekanalkirche eine treffliche Predigt
über die Worte „Lobet den Herrn und singet Ihm,“ an die sich das Ponti¬
fikalamt, zelebriert vom Erzdechant von Pilsen, Joh. Öerny, schloß, wobei
die prächtige „Missa jubilaei“ von Jos. Förster unter der Leitung des Direktors
N. Kubät gesungen wurde; darnach spielte der Organist von Pilsen Sychra jun.
meisterhaft den dritten Satz der Orgelsonate von Ed. Tinel, op. 29.
KlrcbenmiHik. Jahrbuch. 23. Jahrg. 10
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Der kirchenmusikalische Kurs in Piken 1909
Um 11 Uhr vormittags eröffnete Mons. Wünsch die Versammlung
mit einer herzlichen Begrüßung, der ein Vortrag von Prof. V. Müller—Prag
über „Kunst und Moralität“ folgte. Nachmittags wurden nach einer An¬
sprache des Präses der Kirchenmusikvereine von Königgrätz, Dr. J. Mrstlk,
einige Übungen im Choral nach der Editio Vaticana, gehalten; Herr Chordirektor
B. Kaspar aus Smichov nahm dieselben sehr praktisch und gründlich vor.
Daran reihte sich ein Vortrag des Dechant von Tachau, P. Emilian Paukner,
Ord. Crucig., über die „Instrumentalmusik in der Kirche“ und später ein
zweiter des gleichen Redners über das „Stabat mater“. Pfarrer Pavlicek gibt
dann verschiedene Mittel an, wie man auch in den kleinsten Gemeinden eine
gute Kirchenmusik erreichen könne: ein ständiger Chor, unermüdliche Übung
und gute Harmonie zwischen dem Seelsorger und dem Chorregenten seien
die Hauptsache.
Am Abende des ersten Tages wurden in der Erzdechanalkirche folgendes
Programm aufgeführt: Ign. Mitterer: „Caligaverunt“, M. Haller: „Tenebrae,
factae sunt“, M. A. Ingegneri: „Jerusalem surge“, „Plange“, L. Ebner: „Adora-
mus te“.
Den Glanzpunkt der Produktion bildete jedoch das prächtige Stabat
Mater von P. Griesbacher, wobei auch der Dirigent N. Kubät seinen Fleiß
und sein großes Können an den Tag legte. Nach dem Segen kam als Ab¬
schluß der bis jetzt unbekannte 3-stimmige Gesang zu Ehren des hl. Wenzl
aus dem XV. Jahrhundert, bearbeitet von dem Veranstalter des Kurses, dem
unermüdlichen Redakteur des „Cyrill“, Prof. D. Orel—Prag, zur Aufführung.
Die Zusammenstellung eines Informations-Programms und dessen Verteilung
unter das Volk hat sich als eminent praktisch bewährt; der Kirchenbesuch
und das Verständnis aller Chöre wurden dadurch wesentlich gefördert.
Am zweiten Tag früh 8 Uhr hörten wir bei dem Hochamte die einfach
edle Messe „Stella matutina“ von P. Griesbacher und beim zweiten Hochamte
um 9 Uhr die interessante „Missa jubilaei“ von N. Kubät für gemischten Chor
mit Orgel, 2 Trompeten und 2 Posaunen. Nach dem Gottesdienste spielte
M. Sychra zwei Sätze aus der (als Beilage zum „Cyrill“ erschienenen) Orgel¬
sonate von F. Musil. Der Präses Dr. Mrstlk sprach dann über die Auf¬
gaben der Kirchenmusiker nach dem „Motu proprio“ und der fürsterz¬
bischöfliche Sekretär aus Prag, Dr. Hrubik, „Über die liturgische Bedeutung
des Kirchenchors.“
Nachmittag hielt Ph. C. Sychra einen Vortrag über die Geschichte der
Orgel und des Orgelspieles in Böhmen.“ Seine gründliche Arbeit, ein Resultat
langjähriger Forschungen, brachte viel Neues über das Orgelspiel des 17. und
18. Jahrhunderts. Während des Vortrages beehrten die Herren Dr. Wein¬
mann—Regensburg und Bischöfl. Rat Kappenberg — Wesel, von der Ver¬
sammlung begeistert begrüßt, den Kurs mit ihrem Besuche.
Von reicher Erfahrung zeigte der Vortrag des Pfarrers A. Soukup „Uber
die Hindernisse der kirchenmusikalischen Bewegung in Böhmen und ihre
Beseitigung“ und die geistreiche Schlußrede von Prof. Orel, in welcher der¬
selbe auch mehrere Beratungspunkte für die zukünftigen Diözesansynoden
vorschlug.
Um 3 Uhr Nachmittags war Schlußandacht. Es kam zur Aufführung:
Credo aus der „Missa S. Godehardi“ von P. Griesbacher und „Domine Deus*
von Haller; bei dem Pontifikalsegen sang das Volk abwechselnd mit den
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Papst Gregor der Große ein Ire?
147
Priestern am Altäre eine Litanei zum heiligen Joseph von N. Kubät Mit
dem feierlichen „Te Deum“ 4-stimmig mit Orgel von V. Goller, schloß die
erhebende Feier und damit der lehrreiche Instruktionskurs, der für die Zu¬
kunft der Musica sacra in Böhmen die reichsten Früchte zeitigen möge!
Stift Tepl V.J. Vacek
Papst Gregor der Gro&e ein Ire?
Unter diesem Titel bespricht Dr. Viktor Lederer-Wien im Kirchenmusi¬
kalischen Jahrbuch (XXL Jahrgang 1909. S. 172) die Behauptung von
der irischen Abstammung des heiligen Gregor in meiner „Geschichte der
Irischen Musik.“ Vielleicht ist es von Interesse, den Stammbaum des berühmten
Papstes mitzuteilen, wie er in dem Buche von Lecan, einer äußerst vertrauens¬
würdigen Hs. des 14. Jahrhunderts erwähnt wird. Bekanntlich hieß der
Vater des heiligen Gregor Gordianus. Dieser latinisierte Name wird in dem
irischen Stammbaum mit Crannfoltach gegeben, welche Bezeichnung ein ge¬
naues Äquivalent für Gordianus ist. Hinwiederum gibt das Buch von Lecan
den Großvater des heiligen Gregor mit Femolt, was als gleichbedeutend mit
Felix IV. gelten kann. Hier ist der irische Stammbaum:
Cairbre Muse
I
Core -Duibhne
I
Cormac Finn
I
Jorcuinn
I
Cor
I
Nathi
I
Arda
I
Connla
I
Femolt
I
Crannfoltach
I
Gregoir “beloir”
(of the golden mouth)
Cairbre Muse stattete dem Kontinent mehrere Besuche ab und ist eine
wohlbekannte historische Persönlichkeit Er ist der Sohn von Conaire II.,
des Oberkönigs von Irland (212—220); sein Stamm hieß Muscraidhe, nun
bekannt als Muskerry, Co. Cork. Und es darf nicht vergessen werden, daß
der hl. Columban ein Freund des heiligen Gregor war.
Enniscorthy (Irland) Dr. W. H. Grattan Flood
10 *
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ODO
s
15
Kritiken und Referate
£1
S1
I. Musikwerke
Denkmäler deutscherTonkonst. Erste
Folge, Band XXXIV. — Newe
Dendsche Geistliche Gesenge für
die gemeinen Scholen. Gedrnckt
zn Wittemberg durch Georgen
Rhau. 1544. — Heraasgegeben
von Johannes Wolf. Leipzig,
Breitkopf & Härtel. 1908. Preis
20 Mk.
Rhaws „Neue Deudsche Gesenge“ neh¬
men in der Literatur der ersten evangelischen
Liederbücher einen hervorragenden Platz ein.
Sie sind nach Walters Wittembergisch Geist¬
lich Gesangbüchlein von 1524 das erste Sam¬
melwerk, in dem sich eine Reihe der bedeu¬
tendsten Tonsetzer der Zeit in der kunstvollen
Bearbeitung entweder älterer Choralmelodien
oder weltlicher, in den Schatz des Kirchen¬
gesangs aufgenommener Weisen zusammen¬
fanden. „Für die gemeinen Schulen“ sind
sie bestimmt, d. h. zum Absingen für den
Schulchor, der bis auf weiteres noch statt
der ungeübten Gemeinde die Funktion des
Choralgesangs im Gottesdienst übernahm. In¬
folgedessen liegen die Choralmelodien nach
alter niederländischer Art noch im Tenor,
nicht in der Oberstimme, wie das später seit
1586 durch Osiander Brauch wurde. Es sind
ganz köstliche Früchte, die hier der jungen
Gemeinde in Fülle dargeboten werden als
Entschädigung für das, was sie an Chormusik
zugleich mit dem älteren Bekenntnis aufeuge-
ben im Begriff war. In den Dienst der Sache
stellten sich Männer wie Arnold de Bruck,
Sixt Dietrich, Thomas Stoltzer, Benedikt Du-
cis, Ludwig Senfl, Martin Agricola, Stephan
Mahu, Balthasar Resinarius, aber auch be¬
scheidene Talente wie Johannes Stahl, G.
Voglhuber, Virg. Hauck u. a., bei denen die
Begeisterung für die neue Lehre größer war
als das technische Können. An Vielseitigkeit
läßt es die Sammlung nicht fehlen: neben
kleinen, zum Teil im schlichten Satz Note
gegen Note gehaltenen Bearbeitungen finden
sich solche mit Aufgebot höchster kontra-
punktischer Kunst, neben kurzen Stücken mit
nur einer Durchführung stehen mehrteilige
große Motetten, und bei einer ganzen Anzahl
von Melodien hat der Sangmeister Gelegen¬
heit, unter vier oder fünf verschiedenen Be¬
arbeitungen zu wählen. Mit Prachtstücken
sind vertreten Senfl, Sixt Dietrich (darunter
die schöne vierteilige Motette „Vater unser
im Himmelreich“), Ducis, Stoltzer, dem man
mit fünf auserlesenen Sätzen (vor allem Nr. 34
über den 34. Psalm) zu begegnen sich beson¬
ders freut. Resinarius wurde von Rhaw mit
30 Gesängen vor allen andern bevorzugt,
rühmte er doch von ihm „Magna eius est
facilitas et suavitas, nihil habet detorti, con-
fracti et asciti.“ In der Tat fließen seine
Tonsitze trotz der häufigen kanonischen Füh¬
rungen der Oberstimmen ungemein glatt dahin
und kennzeichnen ihre suavitas schon äußer¬
lich durch den Reichtum an Fiorituren und
lebhaften Durchgängen. Man wünschte ihm
freilich sehr oft etwas mehr von der Herb¬
heit und markigen Kraft eines Senfl oder
Ducis oder Rhaw selbst, der wohl als Ver¬
fasser der zwölf anonymen Stücke angenom¬
men werden darf. Ein paar recht tüchtige
Tonsätze rühren auch von Lupus Hellingk
her, der sein Leben in Brügge verbrachte,
schon 1540 gestorben war und wohl nur
schriftlich mit Rhaw und dem Wittenberger
Kreise in Verbindung getreten war. Ganz
ungeschickt und verlegen stellen sich die un¬
bekannten Ulrich Bretel, Viig. Hauk, Vogl¬
huber an, bei denen es nicht nur freie Quar¬
tenparallelen regnet, wie freilich auch noch
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Kritiken und Referate
149
bei vielen anderen des Bandes z. B. Senfl,
Resinarius, sondern sogar Quintenparallelen.
Irgendwelche persönliche Verpflichtungen mö¬
gen sowohl hier wie bei Weinmann, Stahl,
Heintz und Nicolaus P. (den der Heraus*
geber als Nik. Piltz rekognosziert) Rhaw zur
Aufnahme ihrer bescheidenen Beiträge be¬
stimmt haben.
Der Band ist eingeleitet und mit dan¬
kenswerten Angaben der Text- und Melodie¬
quellen versehen von Johannes Wolf. Als
Kunstbeilage ist beigeheftet die Abbildung
einer aus Schleusingen stammenden, vermut¬
lich für die Hochzeit des Grafen Georg Emst
von Henneberg mit Elisabeth von Württem¬
berg 1568 in Plattstickerei angefertigten Lei¬
nendecke aus dem Berliner Kunstgewerbe¬
museum, die neben allerlei tanzenden und
spielenden Figuren an jeder ihrer vier Seiten
ein Notensystem mit je einer Stimme der
von Martin Agricola herrührenden Bearbei¬
tung des Lutherliedes „Ein feste Burg“ trägt,
derselben, die Rhaw auf|genommen hat. Ein
kleineres Quadrat enthält in derselben Weise
die vier Stimmen eines Instrumental-Tanzes
nebst Proporz.
Leipzig Dr. A. Schering
Denkmäler der Tonkunst in Öster¬
reich. XVL Jahrgang. Erster Teil.
Heinrich Isaac, Ghoralis Con-
stantinus II. Herausgegeben
von Anton von Webern. Mit ei¬
nem Nachtrag zu den weltlichen
Werken von Heinrich Isaac.
Herausgegeben von Job. Wolf.
Wien, 1909. Artaria & Go. Leipzig,
Breitkopf & Härtel. Preis 21 M.—
Die allgemeine Bedeutung des berühmten,
monumentalen Choralmotettenwerkes Isaacs
ist im Kirchenmusikalischen Jahrbuch bereits
bei Besprechung des 1898 erschienenen ersten
Teils kurz gewürdigt worden. (Jahrgang 1905,
Seite 168 ff.) Der nunmehr veröffentlichte
zweite Teil, im Original 1555 gedruckt, um¬
faßt fünfundzwanzig Offizien für die Haupt¬
feste des Kirchenjahrs und für die Feste der
Heiligen Geberhardus, Martinus, Konradus
und der Maria Magdalena. Da die drei erst¬
genannten Konstanzer Ortsheilige sind, ist
damit aus dem Werk selbst der sicherste
Nachweis für Isaacs Aufenthalt in Konstanz
und die Verwendung eines Konstanzer Gra-
duales als Vorlage zu führen. In einer präch¬
tigen Spezialstudie hat der Herausgeber als
Einleitung den Stil und die künstlerische Be¬
deutung des Werkes und seines Schöpfers
analysiert. Mit der das Höchste an polyphoner
Kunst bietenden Stimmführung erweist sich
Isaac als ächter Sprößling der niederländischen
Schule: dabei schwebt über dem Ganzen eine
solche Fülle künstlerischer Phantasie, daß
man bei aller Kunstfertigkeit doch nirgends
den peinlichen Eindruck eines musikalischen
Rechenexempels hat. Besondere Wirkungen
weiß Isaac dadurch zu erzielen, daß, obwohl
die Stimmen ganz gleichberechtigt neben¬
einander hergehen, doch immer die in ihrer
Entwicklung jeweils bedeutendste in den Vor¬
dergrund tritt. Das ist schon ein Anzeichen
der nahenden Zeit des Stile nuovo und seiner
Unterscheidung von Haupt- und Nebenstim¬
men. Auch an Kontrasten ist Isaaks Tonsatz
reich und zwar nicht nur in der feinen Nach¬
tönung der verschiedenartigen künstlerischen
Stimmungen der heiligen Texte, sondern auch
in dem Wechsel der musikalischen Ausdrucks¬
mittel. Dabei ist es namentlich von großer
Wirkung, wenn dem in reichster Polyphonie
schwelgenden Ganzen gelegentlich ein kleines
homophones Sätzchen eingereiht erscheint,
wie z. B. die schlichten Akkordklänge der
Prosa „Qui cceli qui terra regit sceptra.“ —
Die editionstechnische Seite der Ausgabe ver¬
dient alle Anerkennung; insbesondere in der
akzidentalen Frage zeigt der Herausgeber eine
sehr geschickte Hand und scheint mir den
rechten Mittelweg zwischen historischer Strenge
und modernem Empfinden gefunden zu haben.
Als Anhang sind dem Band Nachträge
zu Isaacs weltlichen Werken (Denkm. d. T.
in Österreich, 1907, I. Bd.) beigegeben. Es
sind einige deutsche, französische und italieni¬
sche Lieder, ein lateinischer Gesang und
diverse Instrumentalstücke, die nach einer
Reihe neuentdeckter Quellen, namentlich aus
der Bibliotheca Nazionale in Florenz von Jo¬
hannes Wolf in bekannt streng philologisch
gründlicher Edition vorgelegt werden.
Starnberg Dr. Eugen Schmitz
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
150
Kritiken und Referate
Denkm&ler der Tonkunst in Öster¬
reich. XVL Jahrgang. Zweiter Teil.
Johann Georg Albrechtsberger»
Instrumentalwerke. Herausge¬
geben von Oskar Kapp. Wien»
1909. Artaria & Go. Leipzig» Breit¬
kopf & Härtel. Preis 12 M.
Der Band bietet einen weiteren Beitrag
zur Geschichte der Wiener Instrumentalmusik
in den Anfängen des klassischen Zeitalters.
Albrechtsberger» dessen Lebenszeit (1736 bis
1809) beiläufig mit der Haydns zusammen¬
fällt». ist mit der Geschichte der klassischen
Musik ja noch besonders als einer der Lehrer
Beethovens verknüpft» wie überhaupt die
Musikgeschichte den Namen des Meisters
seither hauptsächlich in den Reihen der Theo¬
retiker buchte. Der Herausgeber des Bandes
hat eine in dankenswerter Weise kurz orien¬
tierende, biographische Skizze vorgelegt, die
über den an äußeren Ereignissen nicht sehr
reichen, in stets ansteigender Linie vom Or¬
ganistendienst im Benediktinerstift Melk zum
Kapellmeisteramt am Wiener Stephansdom
führenden Lebenslauf Albrechtsbergers Auf¬
schluß gibt. Eine Spezialuntersuchung über
den Instrumentalstil des Meisters wird als
Separatveröffentlichung für später in Aussicht
gestellt; sie wird nicht unnötig sein, denn
die diesbezüglichen dem Band vorläufig bei¬
gegebenen Notizen sind nicht nur sehr dürf¬
tig, sondern gehen auch vielfach von unklaren
und historisch unrichtigen Voraussetzungen
aus. Namentlich Albrechtsbergers entwick¬
lungsgeschichtliche Stellung zu Beethoven
dürfte mit dem Satz: „Seine (Albrechtsber¬
gers) höchst kunstvoll gebauten kanonischen
Kompositionen liegen auf dem Wege, welcher
von der Instrumentalfüge Seb. Bachs zu der
Beethovens führt,“ kaum den Tatsachen ent¬
sprechende Charakterisierung erfahren haben.
Mit Recht sagt der Beethovenbiograph Marx:
„Die Beethovenschen Fugen lassen bei allem
Geistvollen und künstlerisch, namentlich für
den jedesmaligen Zweck Bedeutenden gerade
das vermissen, was das Ergebnis einer tüch¬
tigen Schule ist, bald die vollkommene Fugen¬
mäßigkeit des Themas, bald die Gediegenheit
des Baus und seine Gliederung im Sinne der
Fugenform. M Also gerade das, was Albrechts¬
berger ihm hätte vermitteln können, das
technische Rüstzeug, hat Beethoven nur
mangelhaft angenommen. „Gehen Sie nicht
mit dem um, der hat nichts gelernt und wird
nie etwas Ordentliches machen,“ sagte darum
Albrechtsberger, als die Quartette opus 18
erschienen waren, zu einem befreundeten
jungen Musiker. Und wo sich Beethoven in
jener früheren Epoche seines Schaffens —
selten genug — einmal bemühte, etwas Fu-
giertes oder Kanonisches zu schreiben, wie
z. B. in den Prometheus-Variationen, opus 35,
da wird man den Eindruck des „Studien-
haften“, Gezwungenen, künstlerisch Unfreien
nicht los. Zu seinem Heil riß der Faden,
der ihn mit Albrechtsbergers Geisteswelt ver¬
knüpfte, ab, ehe er nur zu festem Halt ge¬
sponnen war, und als der „letzte Beethoven“,
der Beethoven der grandiosen Bdur-Quartett-
fuge dem kontrapunktischen Stil zum ersten¬
mal breiteren Raum im Rahmen seines Schaf¬
fens gönnte, geschah es in einer Art und
Weise, für die „verantwortlich“ zu sein, der
wackere weiland Domkapellmeister von St
Stephan wohl als erster mit Entsetzen und
Abscheu abgelehnt hätte. Hier also eine ent¬
wicklungsgeschichtliche Linie konstruieren zu
wollen, muß als durchaus verfehlt abgelehnt
werden.
Die praktisch künstlerischen Beispiele
von Albrechtsbergers Kontrapunkt, die unser
Denkmälerband mit einer Reihe Präludien
und Fugen vorlegt, muten im übrigen keines¬
wegs „trocken“ an; sie klingen vortrefflich
und sind teilweise so „unterbaltlich“ (z. B.
gleich das erste Adur-Präludium) wie man
es von solch strengen Formen kaum erwarten
sollte. Allein gerade darin liegt ihr Deka¬
denzcharakter; trotz der technisch tadellosen
Gediegenheit ists geistig, künstlerisch genom¬
men, doch recht leichte Ware, was Albrechts¬
berger hier bietet. Dem Zeitgeschmack
hätte dieser Mangel künstlerischer Tiefe zwar
keineswegs widerstrebt, dagegen tat dies die
Wahl des fugierten Stils überhaupt; die we¬
nigen ernsteren Elemente der Musikwelt
aber, die den fugierten Stil schätzten, forderten
andererseits wieder mehr künstlerische Tiefe
und hielten sich darum lieber, wie der Her¬
ausgeber zu Recht bemerkt, an die eben
damals zu neuem Leben erstehenden Denk¬
mäler einer großen Vergangenheit, wie Bachs
1800 zum ersten Male gedrucktes „Wohltem¬
periertes Klavier.“ So konnten Albrechts¬
bergers fugierte Stücke also weder bei den dem
Modegeschmack huldigenden, noch bei den
ernster veranlagten Musikern und Musik¬
freunden rechten Anklang finden, woraus sich
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UNIVERSfTY OF MICHIGAN
Kritiken und Referate
151
ihre ziemlich geringe Verbreitung und ihr
rasches Vergessenverden erkürt
Interessanter als die fugierten sind die
Kammermusikwerke und Sinfonien Albrechts¬
bergers, deren unser Band einige neu vorlegt.
Freilich des Meisters konservative Richtung
ließ ihn auf diesem damals wichtigsten Ge¬
biet musikalischen Neulandes nur mit ziem¬
lich zager Zurückhaltung sich bewegen; jenen
frisch vorwärts drängenden Geist, der uns
bei Künstlern wie Monn und Genossen be¬
gegnet — von Haydns sinfonischem Jugend¬
schaffen, das nunmehr in den drei ersten
Bänden der Gesamtausgabe zutage gefordert
ist, ganz zu schweigen — treffen wir in Al¬
brechtsbergers Werken kaum je an, und auch
formal ist in ihnen der Übergangsstil vom
Alten zum Neuen stärker ausgeprägt, als sich
mit einheitlicher künstlerischer Wirkung ver¬
trägt. Als Bausteine des klassischen Instru¬
mentalstils können diese Werke daher, wie im
Gegensatz zu den allgemeinen Bemerkungen
des Herausgebers bemerkt werden muß, nur
sehr teilweise in Betracht kommen. Das den
Reigen der Kammermusikwerke eröffnende
„Quintuor“ in Cdur und die folgende vier¬
stimmige Asdur-Sonata gehören nach Form
und Inhalt noch ganz ausgesprochen der Wel£
der alten Sonata da camera an. Namentlich
die 1792 (!) datierte Sonate mit der Satzfolge
Adagio-Fuga könnte äußerlich genommen recht
wohl dem Kreis dal’Abacos entstammen.
Auch das in der Zusammensetzung Andante-
Menuetto-Trio-Scherzando ziemlich buntfarbige
„Quartetto II“ erinnert noch stark an die Zeit
der Divertimenti, Cassationen etc. In der
Form entschieden den neuen Bahnen folgen
dagegen Quartetto I und Quartetto III, die
beide viersätzig sind, an dritter Stelle Me¬
nuett und Trio haben und in einem Finale
(Quartetto III) die Rondoform bringen. Aber
der Tonsatz hat sich doch auch hier noch
nicht ganz von den Banden der alten kontra¬
punktischen Schreibweise freigemacht, und
die thematische Erfindung beruht namentlich
in den raschen Sätzen, wie etwa im Allegro
moderato des ersten Quartetts, zu einem gu¬
ten Teil auf der inhaltlosen äußerlichen Ak¬
kord- und Skalenmelodik der neapolitanischen
Opernsinfonien. Noch schärfer tritt dieser
Zug bei den beiden Sinfonien Albrechts¬
bergers , deren Kenntnis unser Denkmäler¬
band vermittelt, zutage. Gleich das Thema
des ersten Satzes der Cdur-Sinfonie:
ist dafür charakteristisch. Im übrigen ent¬
spricht der Stil dieser Sinfonie in dem Schwan¬
ken zwischen alten und neuen Elementen bei¬
läufig der charakterisierten Kammermusik Al¬
brechtsbergers, nur daß das Neue doch etwas
mehr vorwiegt, wobei eine Stelle des ersten
Satzes als besonders merkwürdig hervorgeho¬
ben sei. Nach dem Abschluß der ersten The¬
mengruppe auf der Dominante g geht es da
folgendermaßen weiter:
Die dynamisch feinsschattierte originelle
Terzen- und Unisonoüberleitung, die zu dem
jähen modulatorischen Ruck nach Esdur führt:
das ist ächter „Stile nuovo“, ein leider nur
sehr vereinzelter Zug, der an die bevorstehende
Meisterzeit des Haydnstils (Albrechtsbergers
Sinfonie ist von 1768 datiert) gemahnt. Die
zweite Sinfonie, als „Sinfonia concertino“ be¬
zeichnet, ist eine jener damals noch häufigen,
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
152
Kritiken und Referate
bekanntlich auch in Haydns früherem sinfo¬
nischen Schaffen nicht seltenen Erinnerungen
an das alte Concerto grosso, aus dessen Schoß
sich ja die neuere Sinfonie entwickelte. Da¬
mit ist von vorneherein gesagt, daß auch in
diesem Werk der ältere Stil noch reichlich
dominiert. Namentlich die bombastische aber
nichtssagende Opemsinfonienthematik tritt hier
im ersten Satz noch ganz besonders deutlich
hervor:
Allegro
auch die für solche Tonstücke stereotype
Tonart Ddur ist in diesem Sinne charakteri¬
stisch. Als konzertierendes Instrument tritt
ein Violino principale auf; außerdem sind im
Andante noch Fagott und Horn, im Trio die
Flöte solistisch behandelt.
Der Revisionsbericht scheint, soweit sich
dies ohne Vergleich der Originalquellen be¬
urteilen läßt, mit Sorgfalt behandelt. Dagegen
vermißt man eine Äußerung über die bei allen
derartigen Publikationen sehr wichtige Con-
tinuofrage. Es liegen in diesem Punkt die
Verhältnisse bei Albrechtsberger wohl ähnlich
wie bei Haydns Jugendsinfonien, bezüglich
deren Hermann Kretzschmar mit bekannt
meisterhafter Klarheit die einschlägige Frage
behandelt hat. Jedenfalls erfordert die Ddur-
Sinfonie ihrer Herkunft vom Concerto grosso
halber das Akkompagnement; die Cdur-Sin-
fonie kann seiner fast durchweg entbehren;
nur im Andante scheinen es einige leere
Stellen zu fordern, während die Kammermusik¬
stücke wohl durchaus ohne Continuo gemeint
sind.
Starnberg Dr. Engen Schmitz
Orlando di Lasso. Sämtliche
Werke. 19. Band. Herausgegeben
von F. X. Haberl. Leipzig, Breit¬
kopf & Härtel. Preis 20 Mk.
Der vorliegende 10. Teil des magnum
opus bringt die sechsstimmigen Motetten zum
Ende, enthält alle siebenstimmigen und eine
Anzahl achtstimmiger Motetten. In meiner
„Geschichte der Motette“ habe ich die neun
ersten Bände des magnum opus einer näheren
Betrachtung unterzogen. Als Ergänzung jenes
Lasso-Kapitels sei hier der zehnte Band in
ähnlicherWeise behandelt. Aus Nr.671, Quam
bonus Israel, sei die Verwendung des nea¬
politanischen Sextakkordes angemerkt, b in
der a-moll Kadenz:
$ - ^ -^=4
""rr
-~a!—
mo - ti
12=^- - _-=i
— 1 —— •
sunt
— -
pe
des
Im folgenden Stück Nr. 672, Quia non
est respectus mortis, fällt wiederum eine
merkwürdige Verwendung von b in der Cdur-
Kadenz auf, die Akkordfolge Bdur, Cdur,
Gdur, Cdur bei den Worten „in plagaeorum.“
Nr. 673> Timor et tremor, ist ein alt¬
berühmtes Stück, eine der allerwertvollsten
unter Lassos Motetten. Nicht minder ergrei¬
fend und großartig ist der dazu gehörige zweite
Teil Nr. 674, Exaudi Deus, deprecatio-
nem meam. Beide Stücke sind im wesent¬
lichen homophon, stellen das harmonische
Element in den Vordergrund, freilich nicht
rein akkordisch, sondern mit der feinsten ko¬
loristischen Abtönung durch immer wech¬
selnde Verteilung auf die sechs Stimmen. Die
Hauptwirkungen werden erzielt durch frap¬
pierende Verwendung des Querstandes und
durch harmonische Sequenzen (s. den Schluß
von Nr. 674). Dieses Doppelmotett stammt
aus des Meisters früherer Zeit, als er eine
Zeitlang stark mit Chromatik experimentierte
(zuerst 1566 erschienen). Zu vollen Ehren
kommt die eigentliche polyphone Motetten¬
schreibart nach alter niederländischer Weise
in dem kunstvoll gesetzten Quemadmodum
desiderat cervus (Nr. 677), mit durchge¬
führtem Kanon zwischen Alt und Tenor.
Hellere Farben, dialogische Schreibart herr-
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Original from
UNIVERSITX0F-MO4JGAN
Kritiken und Referate
153
sehen vor in Nr. 675, Voce tnea ad Domi¬
num clamavi und Nr. 676, Cantate Do¬
mino canticum novum. Man beachte in
Nr. 675 die prachtvolle, erhebende Wirkung
des ersten Eintritts aller sechs Stimmen (in
der Mitte bei den Worten: „renuit consolari
anima mea“) und die hochinteressante Durch¬
führung des Schlußmotivs (S. 13). Nr. 676
ist durch zuversichtlichen, glaubensfreudigen
Ton gekennzeichnet; in dieser Hinsicht von
großer Stärke und mächtiger Wirkung; um
nur zwei Einzelheiten hervorzuheben: wie
packend in der Mitte der Höhepunkt: „Do¬
minus autem coelos fecit“ mit dem strahlen¬
den Edur und Adur; wie von Ehrfurchts¬
schauern durchbebt wirkt dagegen der Bdur
Eintritt am Schluß, die großartige Phrase:
„adorate Dominum in atrio sancto;“ man
sollte die Stelle trotz des tutti aller sechs
Stimmen, beim Vortrag mehr mezzo-piano
halten, um ihren starken Gefühlsausdruck
ganz herauszubringen. Nr. 679 ist eine Kom¬
position des gesamten Te Deum laudamus,
ein sehr umfangreiches Stück in fünfzehn
kürzeren Abteilungen, in kunstvoller Weise
mit Einflechtung des gregorianischen cantus
firmus komponiert, im einzelnen voll von
feinen Zügen. Damit sind die sechsstimmigen
Motetten im eigentlichen Sinne zu Ende ge¬
bracht. Es folgt noch eine Reihe sechsstim¬
miger Stücke über lateinische Gedichte meist
unbekannter Autoren, die sich ähnlichen
Stücken in den früheren Bänden der Gesamt¬
ausgabe anschließen. Lasso bindet sich ziem¬
lich streng an das Metrum des Textes, skan¬
diert ihn sozusagen in seiner Musik, bald in
ziemlich homophoner Weise, bald mehr in
Motettenart. Es finden sich unter diesen
„Konzertmotetten,“ wenn man sie so nennen
darf — für die Kirche kommen sie kaum in
Betracht — höchst bemerkenswerte Stücke.
Das genialste darunter ist zweifellos der Chor
der Verdammten Heu quos dabimus(Nr.687)
samt seiner Fortsetzung Mens mala con-
scia terrore labat (Nr. 688). Hier lebt
eine so finstere Gewalt, etwas dermaßen Gi¬
gantisches, machtvoll Tragisches, daß man
wohl glauben kann, so und nicht anders mü߬
ten die Verdammten in Michelangelos Jüng¬
stem Gericht sich vernehmen lassen. Sehr
bedeutend ist auch Nr. 693, Musica Del do-
num, ein weihevoller Lobgesang auf die
Musik. Von ein paar anderen interessanten
Stücken kann man leider keinen vollen Ein¬
druck erhalten, weil durch ein bedauerliches
Versehen beim Druck die Seiten 67 und 68,
77 und 78 fehlen und dafür die Seiten 57, 58
dreimal abgedruckt sind. Allen Inhabern des
Bandes sollten vom Verlag die fehlenden Sei¬
ten noch nachträglich geliefert werden.
Die siebenstimmigen Stücke sind fast
alle von außerordentlich hohem Werte. Leider
fehlt auch der Anfang des ersten Stückes, Ne
reminiscaris Domine, infolge des angege¬
benen Versehens. Gerade diese Motette scheint
eine der erhabensten des ganzen Bandes zu
sein. Welchem der herrlichen siebenstimmi¬
gen Stücke man den Vorzug geben soll, ist
schwer zu sagen. Für sich allein steht Nr. 712,
13 Heu quos dabimus miseranda co-
hors, eine zweite Komposition desselben
Klagegesanges der Verdammten, von dem oben
schon die Rede war. Auch das siebenstim¬
mige Stück ist voll von genialen Zügen, wie
z. B. der packende Querstand c—cis gleich
zu Anfang auf das Wort „gemitus:“
mi - tus
Von großartigem Pathos ist der Dialog
in Nr. 713 von der Stelle an: Cur haec mi-
seris invisa parens?, immer je vier hohe und
tiefe Stimmen abschnittweise gegeneinander,
bis zum Schluß. Alle anderen siebenstim¬
migen Stücke sind kirchliche Motetten, im
reinsten klassischen Motettenstil geschrieben.
Meistens handelt es sich um Psalmkomposi¬
tionen. Technisch besonders interessant ist
von diesen Nr. 705 Providete Dominum,
dialogisch gesetzt für je einen Chor von drei
hohen und vier tieferen Stimmen. Im Schlu߬
abschnitt von den Wörtern an „videre corruptio-
nem“ brachte man die treffliche Verwendung
der Sequenz bei der Steigerung. Einfacher
gehalten sind Nr. 703 und 704.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
154
Kritiken und Referate
Nr. 705, Decantabat populus Israel,
ist ausgezeichnet durch volkstümliche Melo¬
dik, die )a Lasso nicht selten anwendet Man
verfolge z. B. den Verlauf der ersten Melodie-
phrase in den b
Jtl» gV -\ar—
eiden Sopranen:
|~pTT~J J
=j=g=j
* L Sopn
Rf
in.
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Jürfe - l"~°
- 1 i J-E-r
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iu . ♦ »,* r - 1 •
—u
'ß m m gm
Tr fl
< y f r i ■ —
) JJ.
n. Sopran.
Einfach im Sinne der Durtonleiter har¬
monisiert, ergibt diese Phrase ein reizendes
marschartiges Thema.
Nr. 704, Laudate pueri Dominum, ist
von großer Klarheit, schwungvoll, kräftig, hell.
Vom höchsten Wert sind Nr. 700 und 702.
Estote ergo misericordes (Nr. 702), ein
ziemlich einfach, zumeist dialogisch gehaltener
Gesang, ist von einem kostbar milden Klang,
dabei aber doch von großer Erhabenheit; ruhige,
breite Entfaltung. Nr. 700, Vide homo qu®
pro te patior, auch dialogisch behandelt, ist
von einer höchst bemerkenswerten Eindring¬
lichkeit. Man verfolge z. B. nur den Gang
der Oberstimme, beachte die Steigerung der
Rede bis zu den Worten „non est dolor“ in
der Mitte, die Art, wie die Eindringlichkeit
des Tons bis zum Schluß nun festgehalten
wird.
Eine Anzahl achtstimmiger Motetten
bildet den Abschluß des Bandes. Zuerst
stehen Gesänge, die Lasso für festliche Ge¬
legenheiten am Münchener Hofe geschrieben
hat, Nr. 714 Quid vulgo memorant, zur
Begrüßung des Kaisers Rudolf, ein pracht¬
volles pompöses Stück, das sich den besten
Stücken dieser Art aus den früheren Bänden
des magnum opus würdig anschließt. Eine
ganze Reihe ähnlicher Festgesänge folgt. Ganz
am Ende stehen noch zwei geistliche Stücke,
Nr. 720 Bone Jesu und 721 Benedic Do¬
mine, domum, beides hervorragende Kom¬
positionen von herrlichem Klange. Die Schlüsse
insbesondere sind von gewaltiger Wirkung.
Die Redaktion dieses Bandes lag in den
bewährten Händen des Herrn Dr. Haberl.
Unnötig, zu sagen, daß sie mit der größten
Sorgfalt und Sachkenntnis durchgeführt ist.
Eine willkommene Beigabe bilden die von
Herrn Dr. A. Patin aus Regensburg bewirk¬
ten Übersetzungen einiger schwieriger latei¬
nischer Texte.
Berlin Dr. H. Leichteotritt
Werke von Jakob Obrecht Heraus¬
gegeben für die „Vereenigung
voor Noord-Nederlands Muziek-
Geschiedenis“ von Prof. Dr. Jo¬
hannes Wolf. Amsterdam, Johannes
Müller. Leipzig, Breitkopf & Härtel.
Preis 1. Heft 5 M., 2. Heft 5 M.
Von der Gesamtausgabe der Werke des
großen niederländischen Meisters Jakob
Obrecht liegen die ersten beiden Hefte vor.
Sie enthalten die vierstimmige Messe: Je ne
demande und vier Motetten.
Ganz abgesehen von dem hoben künst¬
lerischen Wert der Messe ist die vorliegende
Publikation schon deswegen bedeutsam, weil
sie einen klareren Einblick gewährt in die
niederländische Kompositionstechnik, als wir
bei irgend einer bekannten Messe bis jetzt
hatten. Dem Herausgeber ist zu danken für
Beifügung der vollständigen chanson Je ne
demande von Busnoys, die der Messe
Obrechts zugrunde liegt. Es ist so die Mög¬
lichkeit gegeben, Obrechts technisches Ver¬
fahren Schritt für Schritt verfolgen zu können.
Zumeist wird ein Motiv des Liedes als osti-
nate Stimme in den Tenor gesetzt, die anderen
Stimmen kontrapunktieren dagegen thematisch.
Also im wesentlichen eine kontrapunktische
Variationstechnik über ein ostinates Motiv im
Tenor; Zwischenspiele füllen die Pausen des
Tenors aus. Mit Vorliebe werden strecken¬
weise zwei Stimmen in Terzen geführt, sehr
häufig gehen die Außenstimmen in Decimen
bisweilen seitenweise miteinander. Als can-
tus firmus dient zumeist die zweite Stimme
von oben, der zweite Tenor des Busnoisschen
Liedes.
1. Kyrie, vierstimmig. Anfangsmotiv der
Melodie von Busnois, 5 Töne im Tenor drei¬
mal, immer auf F eintretend, das letztemal
Notenwerte auf die Hälfte verkürzt
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Kritiken und Referate
155
Christe eleison, dreistimmig. Behan¬
delt ein nebensächliches Motiv des c. f. in
freier polyphoner Weise.
2. Kyrie, vierstimmig. Ober zweite Phrase
der Melodie, 4 Töne, Motiv des c. f. im Te¬
nor, dreimal von c ausgehend, das dritte¬
mal Notenwerte auf die Hälfte verkürzt.
Gloria. Dritte Phrase der Melodie voll¬
ständig (16 Töne) im Tenor, dreimal in immer
kleineren Notenwerten; ziemlich lange Zwi¬
schenspiele.
Qui tollis, vierstimmig. Vierte Phrase
der Melodie (15 Töne) im Tenor, dreimal in
wechselnden Notenwerten, das erstemal jede
Melodienote = 5 Halben, das zweitemal =
4 Halben, das drittemal = 3 Halben; kurze
Zwischenspiele.
Cum Sancto Spiritu, vierstimmig.
Fünfte Phrase der Melodie, (5 Töne) dreimal
im Tenor, das letzte Mal in halben Noten¬
werten.
Credo, vierstimmig. Sechste Phrase der
Melodie, 18 Töne im Tenor, viermal, die ersten
Male in langen Noten, die beiden folgenden
Male zweifach, das letztemal vierfach verkürzt.
Et incarnatus est, vierstimmig. Sie¬
bente Phrase der Melodie, 24 Töne, im Tenor
viermal, in immer kleineren Notenwerten,
Noteneinheit das erstemal 12 Halbe, das zweite-
und drittemal 4 Halbe, das letztemal 2 Halbe.
Et in Spiritum Sanctum, einstimmig.
Achte Phrase der Melodie, 6 Töne im Tenor,
fünfmal, gegen das Ende zu in immer kür¬
zeren Notenwerten.
Sanctus vierstimmig. Neunte Phrase
der Melodie, 23 Töne, viermal im Tenor, in
immer kürzeren Notenwerten.
Pleni sunt cceli, dreistimmig. Die noch
nicht behandelte zehnte Schlußphrase der Me¬
lodie (32 Töne) bleibt hier außer acht. Hier
greift Obrecht wieder auf das allererste Mo¬
tiv (s. 1. Kyrie) zurück und behandelt es als
ostinaten Baß; zwölfmal tritt die Baßphrase
auf, bald auf f, bald auf c, einmal auf b, bis¬
weilen mit ausgezierter Kadenz.
Osanna. Das am vollsten gesetzte Stück
der ganzen Messe; durchwegs singen alle
vier Stimmen, nur ganz kurze Atempausen
hier und da. Im Tenor die zehnte Phrase
der Melodie zweimal, das zweitemal stark
verkürzt in Notenwerten. Die anderen Stim¬
men in freier Polyphonie, ohne Nachahmun¬
gen bestimmter Motive.
Benedictus, dreistimmig. Nachdem in
den früheren Sätzen fast alle Phrasen der
Melodie des Busnois der Reihe nach behan¬
delt waren, die Melodie also ziemlich erschöpft
ist, greift Obrecht hier auf die dritte Stimme,
den 1. Baß des Busnois zurück. Obrechts
Baß ist eine notengetreue Wiederholung der
1. Baßstimme des Busnois in ihrem gesamten
Umfang, die Oberstimmen jedoch sind ganz
neu hinzukomponiert. Gegen Schluß treten
Quintparallelen in der Sequenz auf, die ich
hier besonders erwähne, weil merkwürdiger¬
weise noch Monteverdi in seinen Madriga¬
len eine ganz besondere Vorliebe für diesen
Effekt hat, der bei ihm fast zur Manie aus¬
artet. Die Stelle bei Obrecht lautet:
Monteverdi hat übrigens solcher altnie¬
derländischer Eigentümlichkeiten eine ganze
Reihe geerbt, wie die Vorliebe für Sequenzen,
überhaupt für ostinate Bässe.
Agnus Dei I, vierstimmig. Im Tenor
die elfte, letzte Phrase der Melodie, dreimal
in wechselnden Notenwerten.
Agnus Dei II, vierstimmig. Die vollstän¬
dige Liedmelodie des Busnois notengetreu im
Tenor.
Agnus Dei III. Eine neue Bearbeitung
der vollständigen Melodie im Tenor.
Diese technische Analyse läßt die höchst
interessanten Gegenstimmen ganz außer Be¬
tracht. Sie wird aber vielleicht auch schon
so einen klareren Einblick in diese keines^
wegs leicht zu übersehende Messe gewähren.
Das zweite Heft der Obrecht-Ausgaben
bringt vier große Motetten. Die Anmerkun¬
gen, die ich zu diesen Stücken hier mache,
seien aufgefaßt als Ergänzung dessen, was ich
in meiner „Geschichte der Motette“ (S. 43
bis 47) über Obrechts Motetten zu sagen hatte.
Obrecht war bisher in neuen Partiturausgaben
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156
Kritiken und Referate
so unzulänglich berücksichtigt — es gab bis¬
her nur drei seiner Motetten in Partitur ge¬
druckt — daß die Gesamtausgabe hier noch
fest alles zu tun übrig hat.
Am kürzesten und am leichtesten faßlich
ist Nr. 4* Hsc^Deum cceli, für fünf Stim¬
men, ein feierliches, strenges Stück; der gre¬
gorianische cantus firmus im Kanon zwischen
Tenor, Sopran I, auch der Alt nimmt an der
kanonischen Arbeit teil, wenn schon mit eini¬
gen Freiheiten. Diesen drei ganz in breiten
Noten gehaltenen Stimmen gegenüber zwei
figurierte, nämlich der 2. Sopran und Baß.
Insbesondere der Discantus ist nach älterer
Motettenart rein melodisch figuriert, in immer¬
währender Bewegung, ohne thematischen Zu¬
sammenhang mit den anderen Stimmen. Die
übrigen drei Motetten sind sehr ausgedehnt,
von verwickelter Faktur. Ein Stück vom ersten
Range ist das große sechsstimmige Salve
regina. Erstaunlich in Anbetracht der frühen
Entstehungszeit (Obrecht lebte etwa 1450 bis
1505) ist der farbenreiche, der wohlklingende,
durchaus an italienische Kunst gemahnende
Satz — Obrecht lebte lange in Italien; — keine
Spur hier von den verzwickten niederländi¬
schen Künsten, die in der oben besprochenen
Messe noch eine große Rolle spielen. An die
venezianische Doppelchörigkeit findet sich hier
bei Obrecht, wie auch sonst gelegentlich bei
Josquin eine deutliche Annäherung. Drei hohe
Stimmen sind drei tieferen hier öfters plan¬
voll gegenübergestellt, und im übrigen sind
die sechs Stimmen in erstaunlich mannig¬
facher Weise gruppiert, so daß eine reiche
Abwechslung, eine feine Abtönung der Klang¬
wirkungen zustande kommt, die durchaus
an Palestrinas Weise erinnert. Der freien
Polyphonie hat er in diesem Stück viel mehr
Raum zugewiesen als der imitatorischen
Schreibart, die nur stellenweise aufrritt. Ein¬
zelne Abschnitte, wie die ersten 30 Takte
etwa sind gesetzt als Kanon für zwei Stim¬
men (Sopran und Tenor), denen die anderen
ganz frei kontrapunktierend gegenübertreten.
Homophone, akkordische Stellen, fauxbourdon-
artige Fortschreitungen treten häufig ein. Der
künstlerische Wert dieser umfangreichen Mo¬
tette ist so groß, daß ich nicht anstehe, sie
zu den allerbedeutendsten Vertonungen des
Salve Regina-Textes in der gesamten Litera¬
tur überhaupt zu zählen. Ähnlich in der
Technik ist die zweiteilige, fünfetimmige Mo¬
tette Factor orbis. Auch hier überwiegt
die freie Polyphonie vor der Imitation. Be¬
sonders merkwürdig ist hier die altertümliche,
auf altfranzösische Muster zurückgehende Mi¬
schung der Texte; in manchen Abschnitten
werden nicht weniger als fünf verschiedene
Texte in den fünf Stimmen gleichzeitig ge¬
sungen. Dann gibt es wieder ganz homo¬
phone, akkordische Partien („esto refugium
pauperum“, S. 19), die ganz deklamatorisch,
fast psalmodisch behandelt sind. Auch dies
eine hochinteressante, wertvolle Komposition.
Schließlich ist zu nennen das fünfstimmige
Salve crux arbor vitae, eine großartige
Komposition, von der schon Ambros schreibt,
sie sei „ein völliger riesenhafter gotischer
Münster aus Tönen.“ Von allen Motetten
des Bandes ist diese am meisten „niederlän¬
disch“ im üblichen Sinne; ein dichtes Ge¬
flecht von fünf reich ausgeführten Stimmen,
in der Klangwirkung viel nordischer, herber,
strenger als das ganz in Licht getauchte Salve
Regina, eine Komposition von mächtiger Er¬
habenheit. An genialen Zügen kein Mangel.
Ein solcher findet sich z. B. S. 31 in der Art,
wie der breite Tenor „O crux lignum trium¬
phale“ hindurchstrahlt durch das Dickicht der
dicht verschlungenen vier Gegenstimmen.
Ähnlich die Parallele Seite 35, wo die
Hymnenmelodie im Tenor sich gleichsam ge¬
waltsam herausarbeitet aus der Umschlingung
der Gegenstimmen. Leider verschuldet der
glatt durchgeführte Taktrhythmus auch hier
eine Verdunklung des herrlichen Schlusses.
Daß der Tenor im % Takt gegen den */i Takt
der anderen Stimmen verschoben ist, davon
merkt man in der Niederschrift nichts; sie
lautet, den Sänger durchaus irreführend, fol¬
gendermaßen :
fron-de, flo-re ger
|wff^
mi - ne.
mi - ne.
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Kritiken und Referate
157
Ich kann mich des Eindrucks nicht er-
wehren, als wenn wir in manchen Stücken
die alte Notationsweise, insbesondere den
alten Taktbegriff ganz gründlich mißverstehen,
wenn wir glauben, ein Meister wie Obrecht
hätte (S. 42) mit seiner Vorzeichnung 8 /i Takt
das folgende gemeint, wie die Neuausgabe
S. 42 notiert:
11 >3
i -
O crux
li-gnum tri
umpha - le,
tet
b j-,—
V-
m
jpg
±± =z
-2?-
O crux li-gnum tri-
-fc--
. V
“ es
1 J
mun • di
ve - ra sa
lus, va - le
& ' g --~-
es ®
f >W||r — —
■ ° ^
umpba-le, mun-di ve - ra sa-
Derartig im wahren Sinne des Wortes
„verrückte“ und sinnlose Rhythmik und De¬
klamation kann ein Meister wie Obrecht
unmöglich gemeint haben. Die Stelle ist offen¬
kundig so gemeint:
um-pha- le mun-di ve - ra sa-
Warum geht die Ehrfurcht vor einer
(mißverstandenen) Taktvorzeichnung so weit,
die Absicht des Meisters zu verdunkeln? Es
ist dies ein Punkt, in dem ich mich in ent¬
schiedenen Gegensatz stelle zu der allgemein
in den kritischen Neuausgaben gehandhabten
Praxis. Abgesehen von dieser prinzipiellen
Verschiedenheit der Ansichten kann ich der
sorgfältigen text-kritischen Arbeit des Her¬
ausgebers Prof. Johannes Wolf nur hohe
Anerkennung zollen. Die Obrechtschen Mo¬
tetten bedeuten nicht nur einen erheblichen
Zuwachs an bedeutenden Kunstwerken, sie
sind auch für die Geschichte der Motette
wichtig, indem sie vollendete Muster eines
bestimmten, bis jetzt nicht genügend gekann¬
ten Motettentyps darstellen, in dem die freie
Polyphonie vor der Nachahmung bevorzugt
wird, der klanglich zweifellos den meisten
der gemeinhin „niederländisch^ genannten
imitatorischen Motetten erheblich^uvor steht
Berlin Dr. H. Leichtentritt
Heinrich Schütz. Historia von der
Geburt Jesu Christi. Herausgege¬
ben von Arnold Schering. Leipzig,
Breitkopf & Härtel. Preis 6 Mk.
Vor einiger Zeit überraschte Dr. Ar¬
nold Schering die musikalische Welt durch
die Mitteilung, er habe ein bisher verscholle¬
nes Werk von Heinrich Schütz wieder
aufjgefunden, 1 ) die Historia von der Geburt
Jesu Christi vom Jahre 1664. Das Werk
liegt nunmehr im Neudruck vor als Supple¬
ment zur Gesamtausgabe Schützscher Werke.
Es bietet nicht nur ein wertvolles Stück
Schützscher Kunst dar, sondern hat auch im
allgemeinen Anspruch auf Beachtung, weil es
den Typ des italienischen Oratoriums im
17. Jahrhundert gut darstellt, von dem bisher
nur sehr wenige Proben uns eine genügende
Anschauung gewähren; fast nur einige Ora¬
torien von Carissimi kommen in Betracht.
Die Form des Schützschen Werkes, italieni¬
schen Mustern entsprechend, ist die folgende:
Zu Anfang und zum Schluß je ein tutti-Satz
für 4 Vokal- und 5 Instrumentalstimmen, in
der Art eines Doppelchors gesetzt; dazwischen
stehen acht „Intermedien“, abgerundete Stücke
verschiedener Art, bald für eine Solostimme
mit Instrumentalbegleitung, bald als Ensemble¬
stücke gesetzt. Diese Intermedien werden
zumeist durch Rezitative des Evangelisten
miteinander verbunden. Also eine erheblich
verschiedene Form von der des späteren Ora¬
toriums mit seiner Abwechslung von fugen¬
artigen Chören, Arien und Rezitativen. „Arien“
kommen hier bei Schütz überhaupt noch nicht
i) f. Zeitschr. d. Internat. Mus.-Geseüsch.
Dezember 1908.
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158
Kritiken und Referate
vor, obschon um die Zeit der Entstehung
dieses Weihnachtsoratoriums arienartige Kom¬
positionen in der italienischen Oper und Kan¬
tate schon eingeführt waren. Bemerkenswert
ist eine verhältnismäßig reiche und interes¬
sante Verwendung der obligaten Instrumente:
2 Violinen, 3 Violen, Baß, 2 Flöten, Fagott,
2 Cometti, 2 Posaunen sind vorgeschrieben,
dazu als Generalbaßinstrumente Orgel, Klavier,
Kontrabaß. Ober das Werk hat Dr. Schering
selbst in dem schon genannten Aufsatz ein¬
gehend berfentet Es kann hier also genügen,
auf diese ausführliche Besprechung hinzu¬
weisen; sie beschäftigt sich nicht nur mit
dem musikalischen Gehalt des Oratoriums,
sondern gibt auch Winke für die geschicht¬
liche Einordnung. Einige Bemerkungen über
die beachtenswertesten Stücke seien hier noch
beigefügt. Das zweite Intermedium „Chorus
angelorum“, für sechsstimmigen Chor mit
Instrumenten ist vielleicht das wertvollste
Stück des ganzen Werkes, ein Chor, der an
Carissimische Stücke seiner Gattung erinnert.
Das fünfte Intermedium, ein Quartett für vier
Solobässe mit continuo und zwei Posaunen
ist eines jener jetzt sehr seltenen, früher öfter
vorkommenden Baßensembles, von denen ein
Nachzügler noch in Mozarts Don Giovanni
sich findet. Erinnert sei an Cyprian de Rores
berühmtes Madrigal: „Calami sonura“, an
etliche Baßstücke von Job. Kasp. Kerll (in
der Ausgabe der Denkmäler der Tonkunst in
Bayern), an einige der Priesterchöre in Mo¬
zarts „Zauberflöte.“ Interessant ist die ton¬
malerische Verwendung eines ostinaten Ba߬
motivs :
in mehreren Stücken, das ganze Werk hin¬
durch zur Veranschaulichung der „Christkind¬
leinswiege“, wie Schütz selbst es ausdrückt.
Auch dieser Gedanke des ostinaten Basses
läßt sich in Wiegenliedern und ähnlichen
Scblummerstücken in Oper, Kantate, Lied,
Klavierstück durch die Jahrhunderte hindurch
verfolgen bis zu Chopins „Berceuse“. Auch
der Schlußchor (vierstimmig mit Instrumen¬
ten) hat trotz der Einfachheit seines homo¬
phonen Satzes etwas Schlagendes, sehr Kräf¬
tiges. Alles in allem möchte ich das Weih¬
nachtsoratorium nicht gerade als eines der
genialsten Schützschen Werke bezeichnen,
aber doch als ein gutes Werk, das starke
Spuren Schützschen Geistes trägt Die sorg¬
fältige kritische Redaktion durch den Heraus¬
geber Dr. Schering ist des Lobes wert Nur
mit einem Grundsatz mag ich mich nicht
einverstanden erklären, das ist die übertrie¬
bene Ehrfurcht vor dem Taktstrich, dem ganz
regelmäßig durchgeführten Taktrhythmus, die
leider bei fast allen neueren Ausgaben, auch
den Denkmälern, wie es scheint, zur unum¬
stößlichen Maxime geworden ist Ober die
Schäden dieses Systems mich zu verbreiten,
ist hier nicht die passende Gelegenheit Nur
ein paar Kleinigkeiten seien hier angeführt.
Das Vorwort teilt z. B. mit, daß die Hemio-
len, d. h. die Unterbrechung des regelmäßi¬
gen Taktes durch eine andere Taktart hier
„dem laufenden Takte eingegliedert“ sind. War¬
um wird ein rhythmisch so interessanter Ef¬
fekt wie die Hemiole in der Neuausgabe un¬
kenntlich gemacht? Die neue Ausgabe no¬
tiert z. B. (S. 0):
oder S. 45:
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Kritiken und Referate
159
i i\ ^
y — • L
Jf |% ® ^ 1 Xi®
frls Ge-
rfri
walt
Warum muß die neue Notation gewalt¬
sam lauter falsche Betonungen in das Noten¬
bild hereinbringen?
Berlin Dr. H. Leichtentritt
P. Hartmann von An der Lan-Hoch-
brnnn. Septem ultima verba Christi
in crnce. Oratorium in zwei Teilen
für Soli, gemischten Chor, grosses
Orchester und Orgel. Orchesterpar¬
titur M. 12, Klavierauszug M. 5.
J. Fischer & Bro., New-York.
Wer den Stil Pater Hartmanns aus sei¬
nen früheren Werken kennt, der bewegt sich
auch bei diesem neuesten seiner Oratorien
auf gewohntem Boden. Die schlichte Wahr¬
heit der Auffassung, der herbe Ernst des
Ausdrucks bannt auch bei diesem Werk die
Sympathien des Hörers; auch in der äußeren
Form und Technik der Gestaltung hält sich
der Komponist in den erfolgreichen Bahnen
seiner früheren Schöpfungen. Das Stim¬
mungsgebiet des zweiteiligen Oratoriums ist
naturgemäß nicht übermäßtig abwechslungs¬
reich, der Ausdruck mehr lyrisch betrach¬
tend als dramatisch. Es bietet in diesem
Sinne ein Seitenstück zu Hartmanns früherem
Werk „Der Tod des Herrn.“ Immerhin hat
der Künstler durch Hervorhebung einzelner
dramatischer Momente, z. B. in den kräftig
belebten Volkschören „Alios salvos freit“
und „Eliam vocat iste“ dem Ganzen einige
wirkungsvolle Kontraste beigemischt. Auch
erscheint die herbe Leidensstimmung ver¬
schiedentlich durch weichere Ausdrucksmo¬
mente sehr glücklich schattiert, als deren
schönster einer das empfindsame Larghetto
„Beati qui lavant stolas“ hervorzuheben ist.
Vom Herkommen teilweise abweichend er¬
scheint die Auffassung des Stabat mater;
was zum Beispiel der ff-Schluß „Fac ut
tecum lugeam“ soll, ist nicht ohne weiteres
klar. Auch die leidenschaftlichen ffe-Akzente
im Psalmvers „Quemadmodum cervus“ wol¬
len etwas gesucht erscheinen. Den tiefrten
Ausdruck hat der Komponist natürlich in die
Vertonung der Worte Christi selbst gelegt;
wie in seinem Oratorium „Das letzte Abend¬
mahl“ hat Hartmann auch hier die Stimme
des Heilands durch die jeweils dazutretende
Orgel klanglich besonders auszuzeichnen ge¬
sucht; neben der Orgel treten aber gelegent¬
lich auch noch andere Instrumente solistisch
stimmungsmalend hervor, so etwa bei dem
Wort „Sitio“, ein besonders schönes, aus¬
drucksvolles Cellosolo. Oberhaupt ist die In¬
strumentation trotz ihrer Einfachheit und her¬
ben Schlichtheit reich an schönen Einzelhei¬
ten. Zu dem Wort „Eli lamma sabbaethani“
ist keine der bekannten liturgischen Melodien
verwendet, doch erscheint der Ausdruck nicht
minder ergreifend getroffen, wie denn über¬
haupt das ganze Werk den Freunden einer
ernsten, kirchlichen Musik reiche Anregung
und Erbauung zu bieten vermag.
Starnberg Dr. Eugen Schmitz
Gauss Otto, Orgelkompositionen ans
alter und neuer Zeit zum kirch¬
lichen Gebrauch wie zum Studium.
Regensburg, H. Pawelek 1909. —
1. Aufl., 3 Bd. ä 0 M., zusammen
15 M.
Diebold Johannes, Orgelstücke mo¬
derner Meister zur Übung sowie
zum gottesdienstlichen und Konzert¬
gebrauch. Leipzig, Otto Junne,
1906—1909. 3 Bd. ä 0 M.
Die Gaußsche Sammlung imponiert vor
allem durch die großz&gige Anlage nach
Zeit und Lindern. Von der Venezianl-
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
160
Kritiken und Referate
sehen Schule aus, in deren Schoße die Orgel¬
musik geboren wurde, geht der Pfad hinan
zu Sebastian Bach, wohl dem glänzendsten
Orgelmeister aller Zeiten, und von da bis
herauf in die Gegenwart. Diesen weiten und
langen Weg der Entwicklung fuhrt uns der
Herausgeber und bietet von jedem bedeuten¬
deren Komponisten eine Auswahl, die seine
und seiner Zeit Eigenart charakterisiert.
Andrea Gabrieli eröffnet die Sammlung, Max
Reger schließt sie: eine Musikgeschichte
in Beispielen.
Das Bild wäre aber unvollständig, würden
nicht alle Länder in die Entwicklungslinie
einbezogen. Auch das hat der Herausgeber
getan. Die englischen Virginalisten mit ihrem
Orgelmeister Byrd kommen ebenso zur Sprache
wie die Franzosen mit ihrem Titelouze und
die Niederländer mit ihrem Sweelinck und in
besonders reichem Masse die Neuzeit mit den
klangvollsten Namen. Allerdings müssen
wir gestehen, daß hier nicht alle Nummern
von gleicher künstlerischer Bedeutung sind.
Gerne könnte man auf die Stücke jener Kom¬
ponisten verzichten, die zwar auf vokalem
Gebiete Großes geleistet haben, aber als
selbständige Orgelkomponisten nie¬
mals hervorgetreten sind, und nur solche
sollten in einem derartigen Muster¬
werke vertreten sein. Dagegen könnten
in neuer Neuauflage mehrere sehr bedeutende
Meister eingesetzt werden, deren Namen man
ungern vermissen wird; ich nenne nur die
Franzosen Camille Saint-Saöns (mit seinen
herrlichen Fugen!), C6sar Frank, Theodor
Dubois, den Engländer William Best und die
Deutschen Franz Ladiner und Max Gulbins.
Was die äußere Anlage betrifft, so hat
der Herausgeber sämtliche Nummern auf
drei Systeme notiert — ein Umstand, der
große Klarheit für den Pedalsatz gibt —,
genaue Phrasierung, Tempo, Dynamik, Finger-
und Pedalsatz vorgezeichnet und damit das
Ganze zu einem wertvollen Studienwerk
gestaltet. Daß er Kadenzen und ganz kurze
Stücke grundsätzlich ausgeschaltet, gereicht
der Sammlung nur zum Vorteile; dieselben
wären bei der großzügigen Anlage gar nicht
denkbar. Auch gegen die vom Herausgeber
mitunter vorgenommenen Kürzungen ver¬
schiedener Nummern kann von künstleri¬
schem Standpunkt ein stichhaltiger Einwand
nicht gemacht werden, zumal man überall
die fein und pietätvoll arbeitende Hand des
Fachmannes fühlt; ebensowenig ist gegen die
auffeenommenen Arrangements zu erinnern.
Was Gauß von der Verwendung des Chorals
und des deutschen Kirchenliedes (Vorwort)
sagt, scheint mir hier gar nicht ins Gewicht
zu fallen; denn die meisten der betreffenden
Nummern sind so modern konzipiert, daß
sie mit dem Choral keinen weiteren Be¬
rührungspunkt haben als das Thema und sich
spezifisch von den anderen Kompositionen
nicht unterscheiden; selbstverständlich soll
damit ihre künstlerische Qualität nicht in
Frage gestellt sein.
Das ganze Werk ist für den kirchlichen
Gebrauch gedacht; viele Nummern — nicht
bloß des III. Bandes — schließen jedoch
denselben vollständig aus und sind nach
meiner Meinung ausgesprochene Konzert¬
stücke; sie stammen meistens aus der Feder
neuerer Meister und eignen sich, wie Gauß
selbst angibt, mehr für außerordentliche Ge¬
legenheiten, wie Orgelübernahmen, geistliche
Musikaufführungen usw. Ihre Aufnahme
wird von jedem Organisten mit Freuden be¬
grüßt werden, nur wäre es vielleicht gut ge¬
wesen, wenn der Herausgeber sie als solche
eigens bezeichnet hätte (— vielleicht mit
einem *). Mit besonderem Danke müssen
die den einzelnen Bänden beigegebenen kurzen
Biographien der Komponisten begrüßt
werden; denn es ist eine Erfahrungstatsache,
daß selbst tüchtige Organisten — und nur
für solche ist das Werk gedacht — in der
Musikgeschichte vielfach nur wenig zu
Hause sind. Ein paar kleine Versehen in
diesen Biographien lassen sich für eine Neu¬
auflage leicht korrigieren.
Eine Frage ist mir ungelöst geblieben,
nach welchen engeren Gesichtspunkten der
Autor die einzelnen Komponisten geordnet
hat. Bei dem I. Band ist es ja ohne weiteres
klar; er zeichnet die Entwicklungslinie von
Gabrieli bis Bach und seine Ausläufer. Wie
aber bei dem II. und III. Band? Gauß sagt
„nach ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten
Schulen und Nationen" (Vorwort). Das trifft
nicht durchweg zu. Wie kommt es sonst,
dass er die drei berühmten R. (Rheinberger,
Renner, Reger) voneinander trennt, die einen
in den II. Band, den andern in den III. Band
und Rheinberger neben Haller setzt, zwei
Komponisten, die sich stilistisch ungefähr
so voneinander unterscheiden, wie Makart
von der Beuroner Malerschule.
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Kritiken und Referate
161
Noch ein Wort über die Ausstattung des
Werkes. Wie die Sammlung selbst, so ist
auch die Ausstattung ein Unikum in unserer
Literatur. Wer die großen Denkmäler-Aus-
gaben Deutscher, österreichischer und Bayeri¬
scher Tonkunst kennt, weiß, was man
»splendide“ Edition nennen kann. Die
Gaußsche Sammlung steht den genannten
Werken würdig zur Seite: großes Format
in 4°, ein herrlicher, ungemein deutlicher
Stich, vorzügliches Papier, endlich ein Preis,
der — buchbfindlerisch betrachtet — jedem
rätselhaft erscheinen wird. Soeben kündet
der Verlag — nach 4 Monaten — eine
2. Auflage in 4 Bänden an, sowie einen Er¬
gänzungsband für die Besitzer der 1. Auflage
— gewiß der beste Beweis für die Gediegen¬
heit der Sammlung.
Was ich von der Gaußschen Sammlung
gesagt, gilt teilweise auch von der Dieboldschen.
Prinzipiell unterscheidet sie sich von der
enteren durch ihre Beschränkung auf die
modernen Meister, die hier natürlich um
so zahlreicher und großzügiger vertreten sind,
so z. B. auch Camille Saint-Saäns, Cäsar
Frank (dagegen vermisse ich ebenfidls die
anderen oben ziti erten Orgelkomponisten).
Der I. Band ist der reichste in bezug auf
Anzahl der Nummern, aber nicht in bezug
auf Qualität der Kompositionen; es finden
sich zweistimmige Sätzchen darunter, die sich
unter den anderen Stücken mehr als bescheiden
ausnehmen. Dagegen bietet der II. Band
und besonders der III. Band eine glänzende
Auswahl von Werken aller Stilgattungen und
eine fast unerschöpfliche Quelle für den
Konzertorganisten. Besonders betont seien
hier die Kompositionen mit Begleitung von
Streichinstrumenten usw., die für manche fest¬
liche Gelegenheit hochwillkommen sein dürften.
Ausstattung und Preis lassen nichts zu
wünschen übrig; aufdringlich wirkt das jedem
Bande in großem Format vorgedruckte Emp-
fehlungs- und Anerkennungsschreiben.
So stellt die Gaußsche und Dieboldsche
Sammlung ein Monumentalwerk auf dem
Gebiete der Orgelliteratur dar, zu dem man
Herausgeber und Verleger in gleicher Weise
beglückwünschen kann, und das auf Jahr¬
zehnte Stoff bietet für Kirche und Konzert.
K* W.
II. Bücher und Schriften
ChoraUrächer
Die Arbeit des Berichtsjahres auf dem
Gebiete des Choraldruckes ist immer noch
durch das Vatikanische Graduale bestimmt
Zu den vollständigen Nachdrucken des ver¬
flossenen Jahres sind einige weitere hinzuge¬
kommen. Daneben beginnen Auszüge daraus
zu erscheinen, welche in handlichem Format
dasjenige Choralpensum darbieten, welches
für die gewöhnlichen Kirchen, die nicht das
tägliche gesungene Hochamt haben, in Be¬
tracht kommt Auch die ersten Ausgaben in
modernen Noten kommen auf den Markt
Der Übersicht halber wird es zweckmäßig
sein, die verschiedenen Gattungen von Bü¬
chern auseinanderzuhalten.
I. Von vollständigen Nachdrucken des
Graduale Vaticanum sind außer den im 22.
Jahrgang bereits besprochenen Ausgaben der
Firma Pustet—Regensburg und Schwann—
Düsseldorf noch zu nennen die zweibändige
Kkchenmurik. Jahrbuch. 23. Jahrs-
Ausgabe der Styria in Graz, das mit den
Mocquereau’schen rhythmischen Zeichen ver¬
sehene Graduale der Descläe’schen Offizin
ln Tournay und das Graduale von Dessain
in Mecheln. Die Styria veröffentlicht im ersten
Bande das Proprium de Tempore, im zweiten
das Proprium Sanctorum, Commune Sancto-
rum und Ordinarium Miss», zum Preise von
K 2,40 (Mk. 2.-), gebunden K. 4,50 (Mk. 3,80)
und K 3.— (Mk. 2,60), gebunden K 5^20
(Mk. 4,50). Beide Teile kosten in einem
Band broschiert K 5,40 (Mk. 4,60), und ge¬
bunden K 8.— (Mk. 6,80.) Ich kenne diese
Ausgabe nur aus der buchhändlerischen An¬
zeige der Firma.
Wie der unveränderte Nachdruck, den
Descläe herstellte, gleich in zwei Ausgaben
vorlag (Nr. 695 und 695 A des Kataloges),
die sich durch die Dicke des Papieres unter¬
scheiden, so auch das Graduale mit den rhyth¬
mischen Sonderzeichen (Nr. 696 und 696A);
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162
Kritiken und Referate
nur kostet diese Ausgabe im brochierten wie
gebundenen Exemplar, mit dem gewöhnlichen
Papier der Desclde’schen Offizin wie mit indi¬
schem Papier 50 Ct. mehr, als die ältere von
gleicher Qualität. Zum Lobe der Desclöe’schen
Choraldrucke ein Wort hinzuzufugen, wäre
überflüssig; sie sind seit langen Jahren in der
ganzen Welt überall da bekannt, wo man für
traditionellen Choral Verständnis hat, und
weder die Schönheit des Druckes noch die
äußere Ausstattung ihrer Choralwerke haben
eine Einbuße erfahren.
Die rhythmischen Spezialzeichen des Des-
döe’schen Graduale rollen ein interessantes
historisches Problem auf. Die Quadratschrift,
deren sich die Vatikanische Ausgabe des tra¬
ditionellen Chorals bedient, stammt aus dem
12. Jahrhundert. Wir besitzen Handschriften
dieser Zeit, welche die einzelnen Figuren der
Choralschrift fast genau so formen, wie die
Vaticana, so z. B. Cod. Regin. 529 der Vati¬
kanischen Bibliothek. Seit dem 12. Jahrhun¬
dert ist dann diese Schrift bald in alle roma¬
nischen Länder gedrungen, sie kann daher
mit Recht als die traditionelle lateinische Cho¬
ralschrift bezeichnet werden. Bis heute besitzt
sie das respektable Alter von 800 Jahren im
Dienste der Kirche. Choral- und Quadrat¬
schrift sind im Bewußtsein der kirchenmusi¬
kalischen Welt identisch. Die Vatikanische
Ausgabe des liturgischen Gesanges konnte an
dieser Tatsache nicht vorübergehen. Ebenso¬
wenig durfte darüber ein Zweifel obwalten,
welche der beiden Formen der Quadratschrift,
die in den neueren Choralbüchern auftreten,
den Vorzug verdiene. Bekanntlich hat die
Quadratschrift im Dienste des Chorals gegen
Ende des Mittelalters mensurale Elemente
in sich ausgenommen und um 1600 haben
römische Musiker, wie Guidetti u. a. ihre Zei¬
chen mensuraliter interpretiert. Faktisch hat
die Choralschrift der Reformbücher seither
Einwirkungen von seiten der mensuralen
Schrift prinzipiell nicht abgewiesen. Die Art
der Gruppennotierung in ihnen offenbart am
besten den Zusammenhang mit den mensu¬
ralen Ligaturen. Wenn der Liber Gradualis
des Dom Pothier seit 1880 die Quadratschrift
zum ersten Male ihrer traditionellen Form zu¬
rückgab und damit bis auf das 12. Jahrhundert
zurückgrifP, 1 ) also die Jugendzeit der mit Linien
verbundenen Quadratschrift, so war das eine
Großtat der Choralgeschichte. Sie ermög¬
lichte nicht nur die wissenschaftliche Erkennt¬
nis der Eigenart der Choralschrift von ihren
Anfängen an — Dom Pothier hat als Erster
den Choralisten wieder vorgehalten, daß Punk¬
tum und Virga, Podatus und Flexa, Torculus
usw. die wesentlichen Elemente der Choral¬
schrift seien — sondern auch für die leben¬
dige Choralpraxis den Anschluß an die im
17. Jahrhundert verlorene Überlieferung. Für
die Pianische Choralreform war somit die
Annahme dieser traditionellen Quadratschrift
von selbst gegeben.
Hier greift nun eine Verschiedenheit in
der Auffassung der gegenwärtigen Choralrestau¬
ration entscheidend ein. In der Idee des Ge¬
setzgebers der Choralreform, Papst Pius 3L,
soll diese nicht auf einseitig archäologische
Basis gestellt sein, also z. B. nicht die ältest-
erreichbare Fassung des gregorianischen Cho¬
rals zum Gegenstände haben, sondern mehr
traditionellen Charakter besitzen, auf die ge¬
samte Choralüberlieferung traditioneller Hal¬
tung Rücksicht nehmen, ohne spätere Lesarten
unter allen Umständen auszuschließen. Zuletzt
ist dieser Standpunkt in der von Sr. Heilig¬
keit besonders gutgeheißenen Vorrede zum
Graduale Vaticanum aufs Klarste zum Aus¬
druck gebracht worden. Für den Choralvor¬
trag folgt daraus, daß im Falle einer hi¬
storisch nachweisbaren Verschiedenheit in tra¬
ditioneller Zeit die gegenwärtige Praxis nicht
einseitig auf die älteste Vortragsweise zurück¬
geben müsse. Die Existenz einer Entwick¬
lung des Choralvortrages auch im Mittelalter
wird aber heute von keinem Choralforscher
mehr bestritten. Sie läßt sich den verschie¬
denen Phasen der Choralschrift entnehmen.
Die Quadratschrift ist für rhythmisch einfa¬
chere Verhältnisse gedacht, als einige Familien
der Accentneumen in ihrem ältesten Stadium
sie voraussetzen. So hat z. B. die St. Gal¬
lische Neumenüberlieferung eine Reihe von
Formen des Climacus mit rhythmisch ver¬
schiedenem Inhalt (vergl. meine Neumenkunde
S. 260), während die Quadratschrift nur mehr
einen einzigen Climacus kennt. Ganz allge¬
mein kann man sagen, daß im 11. und 12. Jahr¬
hundert eine rhythmische Vereinfachung des
Chorals stattgefunden hat, in den romani-
l ) Nur das Quüisma gehört nicht der Quadratschrift an, findet sich aber in den d eu tschen Codizes
bis ans Ende des Mittelalters. Seine Aufnahme in die Quadratschrift durch Dom Pothier ist eine Aner¬
kennung der Treue der d e utschen Cboralüberiieferung.
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Kritiken und Referate
scheu wie in den germanischen Ländern, wenn
sie auch in den letztem vielleicht nicht so
durchgreifend gewirkt hat. Im Einklang mit
diesem Thatbest&nde steht diejenige Auffas¬
sung, welche für die gegenwärtigen Reform¬
arbeiten die subtilere Rhythmik der archäi¬
schen Choralzeit ablehnt und sich mit der
einfachem, traditionelleren Weise einer wenig
späteren Zeit zufrieden gibt.
Eine andere Auffassung der Choralreform
erklärt den Choral seit dem 11. bis 12. Jahr¬
hundert für rhythmuslos, im Grunde für
rhythmisch ebenso verderbt, wie es die sog.
Reformbucher seit dem 17. Jahrhundert melo¬
disch sind. Sie erblickt das Fundament aller
Choralrestauration in der Nutzbarmachung
der ältesten Dokumente aus der Zeit der li¬
nienlosen Neumenschrift; das Aufkommen
der Quadratschrift eröffnet für diese Betrach¬
tung der Dinge ein bleiernes Zeitalter. Von
den Vertret e rn dieser wohl nicht anders als
traditionsfeindlich zu nennenden Richtung ha¬
ben die sog. Mensuralisten in der praktischen
Durchführung ihrer Ideen bemerkenswerte
Resultate noch nicht zu verzeichnen; nur
schüchtern haben sie bisher den Versuch ge¬
macht, die Vatikanischen Gesänge im Kleide
ihrer rhythmischen Ideen zu verbreiten. Un¬
gleich zielbewußter sind die Bestrebungen
des P. Dom Mocquereau von Solesmes, die
Choralschrift quadratischer Art nach dem Vor¬
bild der ältesten St. Gallischen Choralhand¬
schriften zu reformieren. Solange sie die va¬
tikanische Schrift alterierten oder ihr neue
Zeichen einverleibten, scheiterten sie am Wi¬
derstande der kirchlichen Behörden. Endlich
wurde das Mittel gefunden, die Notierung des
Graduale Vaticanum selbst intakt zu lassen
und sie doch für die neuen rhythmischen
Theorien gefügig zu machen. Es geschah dies
durch Striche und Punkte, die über, neben
und unter die Noten treten, so aber, daß keines
dieser Zusatzzeichen mit dem Quadratnoten¬
zeichen in eine graphische Einheit verschmilzt,
vielmehr immer als späterer unorganischer
Zusatz kenntlich bleibt. In dieser Form hat
die Ritenkongregation die choralschriftliche
Neuerung zugelassen durch Dekret vom 14. Fe¬
bruar 1906. Sie ist auch in dem anzuzeigen¬
den Graduale der Descläe’schen Druckerei
durchgeführt. Die Einleitung zum Graduale
p. XVII—XX. gibt über die Einzelheiten des
Mocquereau’schen Verfahrens kurze Rechen¬
schaft. („De Rhythmicis Soiesmensibus si-
gnis in hac present! editione usurpatis.“)
163
Danach soll der wagerechte Strich über einer
Note oder einer Gruppe die Verlängerung be¬
sagen, dasselbe der über oder neben einer Note
stehende Punkt; ein senkrechtes Strichlein
soll die rhythmische Einteilung so angeben,
daß die damit versehene Note einen mäßigen
Iktus erhält. Das Ictuszeichen findet sich auch
in syllabischen Stücken und zwar nicht selten
auch auf unbetonten Silben: wir lesen daher
im ersten Credo:
1- —
51 - '' — ,
_B *_fl_
1 " 1 1
Cre-do in u-num De-um. Patrem om-
8____
8
m m m m*
—9—!—8-■ « J
i i i
ni-po-ten-tem, fa-cto-rem cce-li et
0 - 1 -
ter-rae.
Hier entspricht der Punkt am Ende der
Melodieglieder dem Retardando der Bewegung.
Weniger offenkundig ist die Begründung der
Striche unter - do, -num, -trem, -po- usw.
Sie gehören in ein umfassendes, mit großem
Scharfsinn und seltener Konsequenz aufjgerich-
tetes System des Choralrhythmus, von dem
eine ausführliche Kritik hier nicht gegeben
werden kann. Ich beschränke mich auf ein
paar Feststellungen: diejenigen Dokumente,
aus denen die neue Theorie herausgeschöpft
sein will, die St. Gallischen, scheinen mir die
rhythmische Bewegung namentlich der Grup¬
penzeichen meist durch eine freie Verbindung
von langen und kurzen Werten zu ordnen,
nicht von akzentuierten und nichtakzentuier-
ten Silben. Wenn die ältesten Choraltheore¬
tiker auf diese Dinge zu sprechen kommen,
so operieren sie mit Ausdrücken, die der an¬
tiken Rhythmik und Metrik entnommen sind;
sie sprechen von Jamben, Daktylen, Trophäen
u. dergl., also von Verbindungen von Längen
und Kürzen. Obschon diese Auffassung eine
gute Dosis von theoretischer Systematisation
in sich biigt, weist sie eine auf die Akzentui-
rung gegründete Folge von Tonverbindungen
für die älteste Rhythmik zurück. Ich weiß
nicht, wie man diese Schwierigkeiten, die ge¬
rade die älteste Überlieferung gegen die neue
Rhythmik erhebt, zu beseitigen vermöchte.
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164
Kritiken und Referate
Einen ihrer Grundpfeiler bildet auch die
Lehre, daß der Wortakzent in der liturgischen
Choralmelodie als eine Kürze auffeefaßt sei
und demgemäß ausgeführt werden müsse.
Es gibt nun, wie jeder weiß, zahlreiche Stel¬
len in den alten Liedern, wo die Akzentsilbe
nur eine Note, die folgende oder vorhergehende
nichtakzentuierte mehrere erhalten haben. Sie
scheinen die Auffassung des Wortakzentes als
einer Kürze von seiten der Choralkomponisten
zu beweisen. Diese Argumentation wäre un¬
anfechtbar, wenn eine solche Silbenbehandlung
die gesamte Choralmusik oder wenigstens die
meisten Chorallieder beherrschte. Das Gegen¬
teil ist aber der Fall. Es lassen sich unschwer
zahllose Stellen namhaft machen, in denen der
Choralkomponist die Akzentsilben mit eben¬
soviel oder mehr Noten auszeichnete, als die
benachbarten akzentlosen Silben; sie könnten
zur Stütze des Irrtums der Choraltheorie seit
1600 dienen, die den Akzent mit einer Länge
identifizierte. Der Schluß, den das erwähnte
Verhalten der traditionellen Choralmelodie er¬
laubt, ist offenbar nur der, daß der Kompo¬
nist die prosodische Gestaltung der Worte
prinzipiell weder verleugnete noch auch beob¬
achtete; die melodische und rhythmische Ent¬
wicklung ist nicht sklavisch an die Betönungs-
und Quantitätsverhältnisse des Textes gebannt,
sondern die künstlerische Interpretation oder
Umkleidung tritt in vielen Fällen als gleich¬
berechtigte Potenz neben den Text und seine
grammatische Form. Die Formulierung des
daraus resultierenden Rhythmus ist eine de¬
likate Aufgabe, zu deren glücklichen Lösung
die Entwicklung der lateinischen Sprache von
der quanti tierend klassischen zur akzentierend-
rhythmischen Form die natürliche Handhabe
liefern dürfte.
Um zu der obigen Rhythmisierung zurück¬
zukehren, die dem gewöhnlichen, subtilem theo¬
retischen Raisonnement abholden Sänger wohl
unverständlich sein wird, da sie ihn verleiten
kann, selbst im syllabischen Gefüge Noten zu
akzentuieren, deren Silben tonlos sind — ihr
Urheber freilich warnt vor einem solchen
Mißverständnis, da seine rhythmischen Ikten
nichts mit dynamischen Dingen zu tun hätten, 1 )
— so möge man nicht glauben, daß Stellen,
wie der Anfang des Credo im Desclöe’scben
Graduale eine Seltenheit bilden. Das Ordi-
narium Miss® ist überreich daran. Selbst
wenn man ihre historische Berechtigung zu¬
geben könnte, so müßte man sie aus prakti¬
schen Erwägungen ablehnen. Eine Karrikatur
der naturgemäßen Aussprache des Lateins in
syllabisch-rezitativischen Gängen wird die
schwer zu vermeidende Konsequenz einer sol¬
chen Notierung sein. Ich schließe mich hier
der Meinung des P. de Santi an, der sie in
der Civiltä Cattolica vom 5. Dezember 1006,
p. 507 und vom 6. Februar 1000, p. 346, für
überflüssig oder gar für schädlich erklärte. 1 )
Die innerhalb der Gruppenzeichen ange¬
brachten Iktusstrichlein sollen auf die St. Gal¬
lischen Codizes zurückgehen, insofern das
Punktum z. B. des Climacus daselbst oft durch
einen liegenden Strich ersetzt, der letzte Ton
des Torculus mit einem ähnlichen Strich aus¬
gestattet ist usw. Der St. Gallische Strich
sowohl im Climacus, wie im Torculus und in
zahlreichen anderen Fällen ist aber nichts
anders als das Productazeichen, und entspricht
einem längeren Tone. Eine andere Erklärung
ist durch die ganz bestimmten Aussagen
alter Autoren (Anonymus Vaticanus und Monte-
cassinensis) und zahlreiche Tatsachen der
handschriftlichen Gesangbücher selbst (vergL
meine Darlegungen in der Tribüne de S. Ger¬
vais 1906, S. 122) unmöglich gemacht Wollte
man die Iktustheorie damit retten, daß man
der St. Gallischen Producta beide Funktionen
zuerteilte, die der Verlängerung und die der
Akzentuierung, so wäre das gewiß nur ein
Notbehelf, der das ungünstige Verhalten der
Quellen gegen die ganze Theorie nicht besei¬
tigt. Denn zahlreich sind die Verbindungen
mehrerer Product® hintereinander in den
Neumendenkmälern St. Gallischer Herkunft.
Hier mehrere Längen anzunehmen, macht
keine Schwierigkeit; wollte man aber auch da
mehrere unmittelbar aufeinander folgende Ik¬
ten hineininterpretieren? Führt nicht dies
zeitliche Zusammentreffen von Iktus und
Länge zu Folgerungen, die die Grundlagen
der neuen Rhythmik umstoßen?
Besitzen demnach nach meinem Dafür¬
halten wenigstens die Desclde’schen Iktus-
i) Allerdings ist sein Verhalten schwankend; im Ordinaire paroissial publfe sous la direction
des RR. PP. de Solesmes, Tournay 1906 lesen wir p. XX: toutes les notes qui portent l’ictus (Solvent etre
plus fortes que les autres.
*) P. de Santi sagt u. a.: Guai se agli ep is emi si desse fl valore di accento! L’esecuttone nandrebbe
rovinata (L c. p. 346).
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Kritiken und Referate
165
striche nicht die geschichtliche oder praktische
Begründung, die für sie angerufen wird, so
muß man, wenn man sich auf den Stand¬
punkt der iltesten St. Gallischen Oberliefe¬
rung stellt, die verlängernden Striche im
Prinzip wenigstens gutbeißen. Außer den
gewöhnlichen Formen des Podatus, der Clivia,
des Torculus usw. kennen die genannten Neu¬
menbücher besondere Formen, in denen bald
der erste, bald der letzte, bald mehrere Töne
verlängert erscheinen. D. Mocquereau ver¬
wendet in dieser Bedeutung das transversum
episema, wie er es nennt; es ist das aus der
Metrik bekannte Längezeichen. Es bedeutet
also in seinen Ausgaben g, daß der erste Ton
des Podatus zu verlängern ist; ähnlich sind
| ^ u. a. auszuführen. Erstreckt sich der
Strich über die ganze Figur der Gruppe, ft
lg u. a., so ist die ganze Figur zu dehnen.
In diese Kategorie hätten auch die Climaci
u. &. aufgenommen werden müssen, deren
Punkte durch die Producta ersetzt sind, also
längem Dauern entsprechen, wären diese Deh¬
nungszeichen nicht als rhythmische Ikten in¬
terpretiert. Konsequent ist also mit den ver¬
längernden Strichen nicht verfahren. Die In-
troitusps&lmodie des sechsten Kirchentones
beginnt in den St Gallischen Meßgesang¬
büchern so gut wie ausnahmslos mit einem
Podatus, dessen Bestandteile lang sind; unser
Graduale vermerkt diese Länge kein einziges
MaL Der eine Kürzung des rhythmischen
Wertes besagende St. Gallische Buchstabe c
(celeriter) ist ganz umgangen; ich habe wenig¬
stens keine Erinnerung daran ausfindig ge¬
macht. Die Nutzbarmachung der rhythmi¬
schen Zeichen der St. Gallischen Schule ist
demnach eine ziemlich wählerische. 1 )
Es ist bei Arbeiten dieser Art unver¬
meidlich, daß hier und da Unebenheiten un¬
terlaufen, oder bei der Korrektur unbemerkt
und unverbessert bleiben. Ich habe mir die
folgenden notiert: Seite 360, Zeile 6 fehlt in
dem Anfengspodatus subtripunctis, der Iktus-
strich, der an analoger Stelle der Seite (66),
Zeile 5 steht; ebenda hat der Podatus subtri¬
punctis zu Beginn des Jf. auf unguentom
und fl lia das eine Mal ein Morapunctum, das
andere Mal nicht; Seite 340 Zeile 5 am Ende
des Allelujaverses ist das letzte Iktuszeichen
eine Note nach links verschoben, wie die
identische Stelle Seite 361, Zeile 5, zweifellos
macht; Seite 54, Zeile 6 fehlt dem Schlußme-
lisma von justitiam ein Verlängerungsstrich,
der an der analogen Stelle, Seite 364, Zeile 2
steht; Seite 51, Zeile 4 hat der Torculus auf
lern die letzte Note verlängert, während
Seite 482, Zeile 1 der ganze Torculus ge¬
dehnt ist.
Sehr dankenswert sind im Ordinarium
Misse die Angaben der ältesten Oberlieferung
der verschiedenen Gesänge. Beanspruchen
sie auch keinen absoluten Wert, da sehr viele
Dokumente aus alter Zeit verloren gegangen
sind, so stellen sie doch das Fazit der Unter¬
suchung des umfangreichen, den Solesmenser
Mönchen zu Gebote stehenden handschriftlichen
Materials dar. (Liegt nicht Seite 370 Zeile 9
infolge der Aufhebung des Pausezeichens
durch den Bindebogen auf der letzten Silbe
von Jerusalem eine materielle Änderung der
Vaticana vor?)
Der Gradualnachdruck von Dessain in
Mecheln hat das Format 12° gewählt, bietet
somit die kleinste Ausgabe des vatikanischen
Buches. Die Ausgabe auf gewöhnlichem Pa¬
pier kostet 4 Fr., gebunden 6,20 Fr., diejenige
auf indischem Papier 2 Fr. mehr. Wegen
des handlichen Formates und des geringen
Preises hat auch dieser Druck viele Freunde
gefunden.
Von Nachdrucken des Jüngst herausgege¬
benen neuen typischen Totenoffiziums liegen
mir diejenigen der Firmen Pustet und Schwann
vor: Officium pro Defunctis cum Missa
et Absolutione nec non exsequiarum
ordine. Das geschmackvoll gebundene und
in Papier wie Druck gleich vornehm sich
präsentierende Exemplar der Firma Pustet
kostet 1,00 M. Der Schwann’sche Nachdruck
(TI) auf stärkerem Papier kostet 2,00 M. Prof.
Prill hat dem Bändchen die Anleitung zur
stilgerechten Ausführung der im Officium
vorkommenden Psalmodie beigefügt.
II. Außer den vollständigen Nachdrucken
der vatikanischen Vorlagen beginnen die Ver¬
leger, nunmehr auch Auszüge daraus zu ver¬
öffentlichen, die in der Auswahl und Anord-
x ) Es Ist mir unbekannt, dass das neue rhythmische System die Kürzung des Normalwertes aus-
schüesst und daher den Buchstaben c nicht auf ein einzelnes Notenzeichen, sondern auf einen ganzen Zeichen-
komplex wirken lässt Warum ich dieser Deutung nicht beipflichtca kann, habe ich in der Greg. Rund¬
schau 1900, S. 2 auseinandergesetzt
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166
Kritiken und Referate
nung des Stoffes sich vornehmlich an unsere
Pfarr- und ähnliche Kirchen wenden. Als erste
erschien die Firma Schwann in Düsseldorf
auf dem Plan, die im Berichtsjahre nicht we¬
niger als drei verschiedene Auszüge veran¬
staltete: Editio Schwann T in großem
Oktavformat mit dem kräftigen Papier ihrer
Ausgaben P und R, sowie die beiden Epi¬
tomen U und Ul, beide in kleinerem For¬
mat und kleineren Typen. Die Ed. T kostet
in Halbfranz mit Rotschnitt und Goldpressung
Mk. 5,60, die Ed. U und Ul jede in dersel¬
ben Ausstattung Mk. 4,80. Ed. U und Ul
sind derselbe Druck, nur hat Ul mit dem
Titel „Römisches Gradualbuch“ statt der la¬
teinischen deutsche Rubriken und am Fuße
der Seite die deutsche Obersetzung der Ge¬
sangstexte. Besonders U und U1 präsentie¬
ren sich vorteilhaft; sie verbinden mit be¬
quemem Format und solidem Einband die be¬
kannten Vorzüge der Schwann’schen Choral¬
werke. Eine dankenswerte Zugabe sind die
Formeln für das Amen nach den acht Ton¬
arten (Seite 113*) am Ende der Hymnen. Die
Redaktion von U1, Übersetzung der Rubriken
und des lateinischen Textes hat R. Borne¬
wasser, der Direktor des Aachener Gregorius-
hauses besorgt.
In dem Gradualbuch der Firma Pustet
(broschiert Mk. 3, gebunden Mk. 4, resp. 4,60)
hat sich der Redakteur, Dr. Karl Weinmann,
im Interesse der Popularisierung der piani-
schen Choralmelodien zu einem Kompromiß
zwischen choralischer und moderner Schrift
entschlossen, der der Hauptsache nach schon
an einer ähnlichen Ausgabe des medizäischen
Graduale seine Probe bestanden hat. Wein¬
mann schreibt die für die Pfarrkirche in Be¬
tracht kommenden Gesänge in traditionellen
Choralnoten auf ein System von fünf Linien,
in Violinschlüssel und geeigneter Transposi¬
tion. Texte und Rubriken sind ins Deutsche
übersetzt. Das Wesentliche an der traditio¬
nellen Choralschrift, die Gruppenbildung, ist
unverändert geblieben; nur die Form des Por-
rectus ist aufgelöst und als Verbindung von
Flexa und Punctum quadratum geschrieben.
Weinmann glaubte, diese Konzession an unsere
Choralsänger machen zu müssen, denen das
Zeichen aus den bisherigen Choralbüchern
nicht bekannt ist. Noch energischer offenbart
sich die popularisierende Tendenz des „Gra-
dualbuches“ in der Auswahl des Stoffes, Da
die Gesänge zwischen Epistel und Evangelium
bei uns meist nur rezitiert werden, sind von
allen Gradualresponsorien und den Tractus
nur die Texte gedruckt, in lateinischer und
deutscher Fassung. Die Sequenzen dagegen
sind aufgenommen, die Allelujaweisen nur an
Festtagen. Wer für das Alleluja eine melo¬
dischere Ausführung wünscht (anstatt der Re¬
zitation auf einem Tone), findet die dazu not¬
wendigen Vorbilder auf einem dem Buche
beigelegten Zettel; Weinmann hat für jede
der acht Tonarten eine Allelujaweise ausge¬
wählt, die dem zu rezitierenden Verse voran¬
geschickt und angehängt werden kann. Die
konsequente Rezitation der genannten Texte
bietet auch den Vorteil, daß sie die reicher
entwickelten Gesänge der Messe trifft, die
damit für die meisten Choralisten aus dem
Wege geräumt sind. Alles in allem genom¬
men, bedeutet Weinmanns Gradualbuch eine
Gabe, die ihre Bestimmung in wohl nicht zu
übertreffender Weise erreicht; es läßt alle
andern Versuche, das Vatikanische Graduale
den Kirchenchören in Stadt und Land mund¬
gerecht zu machen, hinter sich zurück. Stän¬
den der Choralreform nicht so unsäglich viel
Voreingenommenheit und böser Wille gegen¬
über, ein massenhafter Absatz wäre ihm
sicher. 1 )
Einen interessanten Versuch stellen die
bei der Styria in Graz und Wien verlegten
„Einzelausgaben“ dar, die Prof. Grune-
wald in Raab bearbeitet. Msgr. Gladisch,
Hausprälat Sr. H„ hat in hochherziger Weise
das Zustandekommen dieses Unternehmens
ermöglicht. Bisher erschien die erste Liefe¬
rung, die Missa pro defunctis. Das präch¬
tige Heft, das für deutsche und französische
Benutzer eingerichtet ist, stellt die vatikanische
Vorlage und die Grünewaldsehe Transskrip¬
tion in Punkten ohne und mit Strich, diese
die Verlängerung angebend, zusammen. Gra¬
duale und Tractus sind zu rezitieren. Ein
mit Wärme und Kenntnis geschriebenes Vor¬
wort verbreitet sich über die Grundsätze der
Obertragungen, die hauptsächlich den unleug¬
baren Mängeln der Umschrift in moderne
Noten begegnen will. In Anbetracht des sau¬
beren Stiches und der hervorragend schönen
l ) Die Separatausgabe der Gesinge für das Weihnachtsfest (11 Seiten, Preis 20 Pfjg.) hat, wie zu
hoffen ist, die praktische Anlage und anderen Vorzüge des „Gradualbuches“ in weiten Kreisen bekannt
gemacht.
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Kritiken und Referate
167
Ausstattung des Heftes ist der Preis von
75 h (64 Pfg.) nicht zu hoch.
In diesem Zusammenhänge darf zweier
Bändchen gleichen Inhaltes Erwähnung ge¬
schehen, welche die priesterlichen Altargesänge
nach der neuen typischen Fassung den Geist¬
lichen darbieten und erklären. Die Regens¬
burger Firma Pustet gab heraus: Cantus
ecclesiastici juxta ed. Vat. ad usum
Clericorum collecti et illustrati (Wein-
mannsche Sammlung „Kirchenmusik“) 146 S.,
Preis gebunden 1 Mk. P. Johner O. S. B.
ist Verfasser des Bändchens, welches alle
Stücke, Lesungen, Orationen und Gesänge,
die der Liturg am Altäre vorzutragen hat,
sachgemäß behandelt und zum Teile vollstän¬
dig (so die Pnefationen u. a.) aussetzt. Die¬
selbe Aufgabe sucht ein vom Schreiber dieses
bei Schwann in Düsseldorf herausgegebenes
Heftchen zu titeen: Intonationes et Toni
Communes Missae (Ed. Schwann J) 50 S.,
Preis 60 Pf. Laut Vorwort: continet ea omnia,
qtue a Missam celebrante canenda aut alta
voce legenda sunt; intonationum toni musici
integri traduntur, orationum autem, lectionum
etc. indoles ita exponitur et exemplis demon-
stratur, ut quemvis textum Missalis secun-
dum has normas enuntiare fiicile sit. Beide
Ausgaben beschränken sich naturgemäß auf
die Missa. Sobald das vatikanische Antipho-
nar oder Vesperale fertiggestellt sein wird,
werden auch die Toni des Offiziums in ähn¬
licher Weise vorgelegt werden.
III. Um für alle, auch die ungünstigsten
Verhältnisse gerüstet zu sein, haben sich die
Firmen Schwann und Pustet endlich noch
zur Herausgabe von Auszügen aus dem Gra-
duale in heutiger Notenschrift entschlossen.
In ganz modernem Gewände, ohne die cha¬
raktervolle Plastik der traditionellen Quadrat¬
schrift erscheinen also die Schwannsche Epi¬
tome e Graduali de Tempore et de
Sanctis, als Editio Schwann S recentio-
ribus musiese signis bezeichnet (Preis gebun-
pen Mk. 4.—) und die Pustetsche Epitome
ex editione Vaticana Gradualis Ro¬
mani, quod hodiern® musioe signis tradidit
Dr. F. X. Mathias (Preis broschiert Mk. 4.—,
geb. Mk. 5,60). Die Übertragungsprinzipien
sind der Hauptsache nach in beiden Büchern
die gleichen, diejenigen, welche die Benedikti¬
ner aufgestellt haben; nur bietet Pustet die voll¬
ständigen Gesänge, während Schwann manche
Gradualien, Alleluja und Traktus ganz oder
teüweise rezitieren läßt Auch macht die Pu¬
stet’sche Epitome einen ausgreifenden Gebrauch
vom Legatobogen bei den Melismen, während
die Schwann’sche denselben meist nur für die
Bestandteile eines und desselben zusammen¬
gesetzten Zeichens in Anwendung bringt, ohne
die großen rhythmischen Einheiten immer
äußerlich auszudrücken. Tonverbindungen
von mehr als drei Noten sind von Dr. Mathias
in Gruppen von je zwei oder drei Gliedern
aufgelöst, während der Bearbeiter der Schwann’-
schen Epitome viertonige Gruppen zuläßt.
Von andern Verschiedenheiten beider Über¬
tragungen sehe ich ab.
Eine Gefahr für Übertragungen von Cho¬
ralweisen in moderne Schrift erwächst aus
der Wiederholung derselben Melodie mit glei¬
chem oder verschiedenem Text und aus der
Verwandtschaft oder Identität melismatischer
Gänge in den Solostücken. Es gibt Melismen,
die von Gesang zu Gesang wandern; man
begegnet ihnen heute, aber auch nach Wochen
oder Monaten. Da ist es ein Gebot künst¬
lerischer Logik wie eine Forderung der Choral¬
praxis, daß die Übertragung sich gleich bleibt
Wenn selbst die rhythmischen Bearbeitungen
der Solesmenser Patres in diesen Dingen ei¬
nige Wünsche unerfüllt lassen (vergl. oben),
obschon sie durch den Umfang ihrer Choral¬
praxis wie die Zahl und Qualität der Hilfs¬
kräfte für solche Aufgaben ausgezeichnet vor¬
bereitet sind, so bedeutet es gewiß keinen
Tadel, wenn man feststellt, daß die Pustet 9 sehe
Epitome in unserer Angelegenheit nicht immer
konsequent verfährt. Eine zweite Auflage des
Buches wird die Gleichmäßigkeit überall her-
stellen. Die Schwann’sche Epitome hat die
Schwierigkeit durch die Rezitation vieler
Solostücke aus dem Wege geräumt. Das Pa¬
pier der Pustet’schen Ausgabe dürfte dicker
sein.
Zu guter Letzt beschert uns der Schwann¬
sche Verlag noch mit einem prächtigen Büch¬
lein: Gradualia, Versus alleluiatici et
Tr actus pro Dominicis et Festis diebus in
cantu simplici e cantu ecclesiarum ambro-
sianae, aquileiensis, grsecte et mozarabic® de-
sumpsit et novo usu accommodavit Julius Bas
(Preis Mk. 2.—, gebunden Mk. 2,40). Bas
hat einige Singweisen von einfacher, oft syl-
labischer Haltung aus dem Schatze der nicht¬
römischen Liturgien für eine melodische Re¬
zitation der Solostücke zwischen Epistel und
Evangelium bearbeitet. Manche darunter sind
von einer ausgezeichneten Schönheit, andere
überraschen durch Würde und Feierlichkeit
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Kritiken und Referate
Auch an Eigentümlichkeiten theoretischer Na¬
tur fehlt es nicht; ich denke hier namentlich
an die Schlüsse auf einem andern Tone als
der Tonika. Das Streben, solche der Verges¬
senheit anheimgefallene musikalische Perlen
für die Gegenwart und Zukunft zu retten,
verdiente selbst dann eifrige Unterstützung,
wenn sie nicht als Ersatzstücke für die rei¬
cheren Sololieder des Vatikanischen Graduate
gedacht wären. Eine Ausgabe in Choralschrift
wäre willkommen, ebenso genauere Angaben
über ihre Herkunft und das Verfahren des
Bearbeiters.
IV. Instruktive Zwecke verfolgt eine kleine
Schrift des P. Fidelis Böser O. S. B. Der
rhythmische Vortrag des gregoriani¬
schen Chorals (Schwann, Düsseldorf, 1910,
32 Seiten, Preis 40 Pf.). Sie ruht auf der
Mocquereau’schen Choralrhythmik, löst also
die Choralbewegung in eine obligate Verket¬
tung von zwei- und dreiteiligen Gliedern auf.
Scandicus und Salicus sind gleich behandelt.
Seite 27, Zeile 2 stehen die Noten von -ce-
lis Deo eine Stufe zu hoch.
Es sei erlaubt, zum Beschlüsse noch
einem Wunsche Ausdruck zu geben, der sich
auf den Druck des Allelujatextes in den neuen
popularisierenden Büchern bezieht. Es wäre
besser, das Alleluja mit seinem Verse nicht
unter dem Graduale, sondern mit eigenem
Titel zu drucken. Es ist ja kein Stück des
Gradualresponsorium, sondern in Text, Ton¬
art und Melodie von diesem unabhängig, eben¬
so wie der Tractus, der mit eigenem Titel
versehen wird. Ich weiß wohl, daß die Ver¬
mengung beider Gesangstücke alt ist. Man
entdeckt unschwer die ersten Ansätze dazu
in den Rubriken des Missale Romanum, in
älteren wie jüngeren Bestandteilen. Wenn
z. B. in den Rubricse generales Missalis XVI.
unter den clara voce vorzutragenden Meßteilen
genannt werden: Epistola, Graduale,
Versus, Tractus, Sequentia, Evange¬
lium, der Allelujagesang also nur in seinem
Versus besonders genannt ist, so liegt hier
offenbar die Vorstellung zu Grunde, daß das
Alleluja vor dem Verse ein Teil des Graduale
sei. Richtiger drückt sich Kap. VI. des Ritus
celebrandi Missam aus: . . . prosequitur
Graduale, Alleluja et Tractum ac Se-
quentiam. Hier ist der Versus des Alleluja
nicht besonders erwähnt; er ist in diesem
selbst eingeschlossen. Dagegen lesen wir
z. B. unter der Dom. III. Septembris am Feste
Septem Dolorum B. M. V.: et post Sequen-
tiam additur Alleluja, quod omitten-
dum erit in fine Gradualis. Das Alle¬
luja ist da wieder als Schlußstück des Gra¬
duale aufgefaßt. Diese und andere Dinge be¬
lehren uns, daß in der Zeit der Verfassung
des Tridentinischen Missale die Kenntnis der
liturgischen Gesangsformen zu schwinden
begann. Der Abschnitt De ritibus servan-
dis in cantu Misse der Einleitung zum
Graduale Vaticanum, der an Gesetzeskraft den
erwähnten Rubriken des Missale gleichkommt,
bedeutet in dieser Hinsicht eine hocherfreu-
liche Rückkehr zu einer genaueren und den
Eigenheiten der Gesangstücke entsprechenden
Formulierung.
Freibuig (Schweiz) Dr. Peter Wagner
Ritas Miss» Ecclesiaram Orients-
liam S. Roman» Ecclesi» ünita-
rum. Collegit, Latinitate Dona-
vit, Edidit Maximilianus Princeps
Reglas, Saxonam Dax, Presbyter
et Universitatis Catholicae Fri-
bargensis Professor P. 0. Ratis-
bon», Rom», Neo-Eborad et Cin¬
cinnati, Sumptibus et Typis Frede-
rid Pustet, S. Sedis Apost. et S. Rit
Congr. Typographi. Fasciculus L
Missa Syro-Maronitica. XVI,
64 pag. 1907. Preis 1 Mk. Fasci¬
culus II. Missa Chaldaica. XX,
67 pag. 1907. Preis 1 Mk. Fasci¬
culus m. Missa Gr&ca. XXIX,
103 p. 1908. Preis 1,20 Mk. Fasci¬
culus IV. Missa Armenica. XXII,
58 pag. 1908. Preis 0,80 Mk. Fa¬
sciculus V. Missa Syriaca-An-
tiochena. XIV, 54 pag. 1908.
Preis 0,80 Mk.
Die neuere Forschung hat die Blicke der
Liturgiker und der Freunde der kirchengesang¬
lichen Vergangenheit längst auf den Orient
gerichtet, und wie die Kunsthistorie neuer¬
dings aus dem Studium der baulichen Denk¬
mäler des kleinasiatischen Christentums die
fruchtbarsten Anregungen zur Aufdeckung
wichtiger Zusammenhänge der Kunstgeschichte
schöpfen konnte, so wendet sich in unseren
Tagen die gelehrte Arbeit mit einer gerecht¬
fertigten Vorliebe zum Kirchengesange der
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Kritiken und Referate
109
ni ch ti a ftnischen Riten. Hier liegen noch
wertvolle Tatsachen in tiefe Nacht gehüllt,
deren Erhellung vielleicht überraschende Ein¬
wirkungen der orientalischen Praxis auf die
lateinische offenbar machen wird. Wenn ich
an die Schriften Thibauts, Gastouds, Rebours*,
Gaissers über den orientalischen Kirchenge¬
sang erinnere, die alle in rascher Folge die
Öffentlichkeit erblickten, so will ich damit
nur die verhältnismäßig große Zahl von Ge¬
lehrten betonen, die der Gegenstand ange¬
zogen hat, wie die Energie, mit der die For¬
schung einsetzt, obschon er doch vom prak¬
tischen Betriebe der Gegenwart bei uns weit
abliegt. Sie bilden die beste Zurückweisung
der kuriosen Urteile, die kurzsichtigen Musi¬
kern leicht entschlüpfen, wenn sie ihr Weg
einmal in eine Kirche nichtlateinischer Li¬
turgie führt, und wie sie gelegentlich der Papst¬
messe beim Gregoriusfest in Rom (April 1904)
auch in einigen kirchenmusikalischen Zeitun¬
gen zu lesen waren. (Bekanntlich werden im
feierlichen Papstamt Epistel und Evangelium
auch in griechischer Sprache vorgetragen.)
Das Berichtsjahr hat sich der orientali¬
schen Musikforschung mit besonderem Eifer
angenommen; popularisierende, wie streng
wissenschaftliche Veröffentlichungen gemahnen
uns in gleicher Weise an die lebendigen Be¬
ziehungen zwischen Orient und Occident im
christlichen Altertum und Mittelalter.
Kirchengesangliche Absichten waren es
nicht, welche Se. Königl. Hoheit Prinz Max
von Sachsen zur Herausgabe dieser Bändchen
veranlaßten. Ihre Einrichtung würde in die¬
sem Falle anders ausgefallen sein. Auch
eine geschichtliche Darstellung der orientali¬
schen Meßliturgie wollte er nicht geben. Diese
liegt bekanntlich in A. Baumstarks „Messe
im Morgenland“ (Sammlung Kösel, Bändchen
Nr. 8) vor, wo ein ausgedehntes Wissen und
eindringende Forschung in eine leider schwer
zu genießende Darstellung zusammengedrängt
sind. Prinz Max übersetzt die Meßliturgie
von fünf Typen des orientalischen Ritus, die
bis zur Stunde existieren und sich der aus¬
drücklichen Billigung Roms erfreuen, in die
jedem Gebildeten, Kleriker und Laien ver¬
ständliche Sprache. Eine Einleitung schickt
alles Notige über Geschichte der Liturgien und
ihre Bekenner, über liturgische Bücher, Klei¬
dung, Feste, Kirchenjahr u. a. voraus. So¬
weit das ohne Kenntnis der betreffenden Idio¬
me überhaupt müglich ist, vermag sich jeder
an der Hand der Büchlein ein Bild von der
Orientalischen Messe zu machen und vorkom-
raenden Falls einer solchen mit Verständnis
zu folgen, ln unserer Zeit der Orientfahrten
und -Pilgerzüge ist der Nutzen einer solchen
Veröffentlichung in die Augen springend.
Auch der kirchenmusikalischen Wissen¬
schaft hat der hohe Verfasser einen Dienst
geleistet. Beschränken sich die gesanglichen
Angaben auch nur auf rubrikenhafte Andeu¬
tungen, so enthalten sie dankenswerte Finger¬
zeige. Die Structur des Meßgesanges ist der
Hauptsache nach in allen Liturgien die¬
selbe. Wie die rOmische Messe, so kennen
die alten orientalischen Meßordnungen in ge¬
hobenem Tone gesprochenes Gebet, Orationen,
Akklamationen der Anwesenden zu den Wor¬
ten des amtierenden Geistlichen, Lesungen
aus den Heil. Schriften, ebenfalls in mehr sin¬
gendem als sprechendem Ton, und echte Ge¬
sangstücke, die je nach der liturgischen Funk¬
tion bald von einem, bald von allen Sängern,
dem Gesangchore, ausgeführt werden. In
dieser Übereinstimmung liegt ohne Zweifel
ein Argument für den gemeinsamen Ursprung
der gesanglichen Meßeinrichtungen, und dieser
kann nur in der Liturgie des jüdischen Tem¬
pels und der Synagoge gesucht werden. Christ¬
licher Herkunft ist aber die Konsekration der
Gestalten und in bezug auf sie belehrt uns
das Studium der orientalischen Meßformu¬
lare, daß die Einsetzungsworte des Herrn im
Orient, wenigstens in der feierlichen Lituigie,
nicht wie bei uns leise gesprochen, sondern
vom Zelebranten mit weithin vernehmbarer
Stimme gesungen werden. In allen Liturgien
antwortet das Volk oder der Chorus mit
Amen.
Diejenigen Gesangstücke, welche von
den Historikern als die ältesten angesehen
werden, und bei denen die Wahrscheinlich¬
keit für getreue Überlieferung ihrer ursprüng¬
lichen Stilelemente spricht, die Gesänge zwi¬
schen Epistel und Evangelium, kehren in allen
Liturgien des Ostens wieder. Ihre rubrizi-
stische Bezeichnung verdient Beachtung. In
der syrisch-maronitischen Messe heißt der
Epistelpsalm: Psalmus glorificationis,
und wenn der Zelebrant dem Diakon zum
allelujatischen Gesang den Segen spendet,
sagt er: Deus suscipiat tuam jubilatio-
nem et Imtificet corda auditorum . . .
Diese Ausdrücke würden in trefflicher Weise
auch zu dem römischen Graduale und Alle¬
luja passen; sie lassen jedenfalls eine mdo-
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Kritiken und Referate
dische Verfassung vermuten, die der römisch«
gregorianischen Solomelodik entspricht
Die Übersetzung der griechischen Me߬
formulare, der Missa S. Joannis Chrysostomi,
der Missa S. Basilii und der Missa Prsesanc-
tißcatorum, wird den Freunden der liturgischen
und kirchenmusikalischen Vergangenheit be¬
sonders willkommen sein, weil die histori¬
schen Beziehungen zwischen Byzanz und Rom
neuerdings so greifbar hervortreten. Bekannt¬
lich hat Rebours in seinem Traitö de la Psal-
tique p. 140 ff. zahlreiche griechische Me߬
gesinge in originaler und moderner Tonschrift
veröffentlicht. Prinz Max liefert dazu den voll¬
ständigen liturgischen Rahmen, so daß man
nunmehr von der liturgischen und musikali¬
schen Eigenheit dieser Missa sich eine zu¬
treffende Vorstellung bilden kann, ohne den
Weg nach Griechenland oder in den Osten
an treten zu müssen.
Zum Schlüße sei noch dem Wunsche Aus¬
druck verliehen, der hochw. Herr Verfasser
möge die Sammlung durch eine Bearbeitung
der sehr wichtigen koptischen Messe ergänzen.
Freiburg (Schweiz) Dr. Peter Wagner
Riemann, Dr. Hugo, Die Byzan¬
tinische Notenschrift im 10.—15.
Jahrhundert. Palaeographische
Studie mit Übertragung von
70 Gesängen des Andreas von
Kreta, Johannes Damascenus,
Kosmos von Majuma, Johannes
Monachus u. a. Mit 8 photogra¬
phischen Faksimiles aus Handschrif¬
ten des 10. bis 13. Jahrh. Leipzig,
Breitkopf & Härtel. 1909. 98 Sei¬
ten. Preis 5 Mark.
Die Erforschung der Tonschriften des
griechischen Mittelalters hat eigentlich erst
mit Oskar Fleischer begonnen. (Neumenstu¬
dien III. Berlin, 1604.) Er hat zur quellen¬
gemißen Lösung ihrer Probleme nicht nur
als erster den Weg gewiesen, sondern ist des
Weges noch das bedeutendste Stück selbst
gegangen. Den Schlüssel der byzantinischen
Neumen fand er in den zahlreichen überlie¬
ferten und meist gleichlautenden Papadiken
(Schultraktaten), welche die Zeichen in ziem¬
licher Vollständigkeit behandeln und auch
sonst wertvolle Aufschlüsse über die Musik
ihrer Zeit bergen. Hier erfahren wir, daß die
byzantinische Tonschrift eine Intervallschrift
ist; die Zeichen entsprechen einem bestimmten
Schritt oder Sprung in die Höhe oder Tiefe.
Der Ausgangspunkt der melodischen Linie
ist durch die sog. Martyriai sichergestellt, die
demnach ähnlich wie die lateinischen Ton¬
schlüssel funktionieren. Das lateinische Ge¬
genbild zur byzantinischen Neumenschrift als
Ganzes liegt in der Intervall-(Buchstaben)-
Schrift des Hermannus Contractus vor, der
vielleicht die mittelgriechischen Neunten ge¬
kannt hat.
Eine Eigentümlichkeit dieser wird durch
gewisse Zeichenverbindungen gebildet, in de¬
nen ein Teil der Zeichen außer Kraft gesetzt,
aphon, klanglos wird. Dieser Erklärung der
Papadiken zufolge hat Fleischer in seinen
Übertragungen die aphon gewordenen Zeichen
unbeachtet gelassen; dasselbe taten die Ge¬
lehrten, die neben ihm sich mit den mittel¬
griechischen Neumen befaßten, Gaisser (Les
heirmoi de Piques dans l’Office grec, Rome
1905), Thibaut (Origine byzantine de la no-
tation neumatique, Paris 1907), und Gastouö
(Cataloque du manuscrits de musique by¬
zantine, Paris 1907).
Einen neuen Weg schlug Hugo Riemann
ein, der in einem Aufsatze: „Die Metrophonie
der Papadiken als Lösung der Rätsel der by¬
zantinischen Neumenschrift“ (Sammelbände
der Internationalen Musikgesellschaft IX. S. 1 ff.)
die aphonen Töne für vor- und nachschla¬
gende Ziertöne erklärte. Er erblickte in ihnen
die Fortsetzung eines antiken Gebrauches.
Als Träger melismatischer Figuren lassen sie
für Riemann „die vermisste Verwandtschaft
des Stils der byzantinischen Kirchengesänge
mit dem abendländischen“ deutlich hervor-
treten. Demgemäß übertrug er nunmehr die
byzantinischen Kirchenlieder und bittet, frühere
Übertragungen (Zeitschrift der I. M.-G. VII.
S. 18 ff. und Handbuch der Musikgeschichte
2. Halbband) „als nicht geschehen zu betrach¬
ten, sie vielmehr zu den sonstigen mißglück¬
ten Experimenten zu rechnen“.
Riemann ist seither der Materie nicht
ferngeblieben. Er hat in der neuen Richtung
weitergearbeitet und vermag heute seine Un¬
tersuchungen in Buchform der Öffentlichkeit
zu übergeben. (Vorwort der anzuzeigenden
Schrift.) Seine Aufstellungen über den tona¬
len Sinn der Neumen hält er aufrecht. Nur
bezüglich des Rhythmus seien seine früheren
Übertragungen noch nicht einwandfrei; er will
sie durch die neue Arbeit wesentlich ergän-
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Kritiken und Referate
171
zen. Am meisten liegt ihm, wie es scheint,
an der erwähnten Erklärung der tonlos ge¬
machten Zeichen, und er ist sehr unzufrieden,
daß ein Mitforscher „sich gegen einen so offen
zutage liegenden Fortschritt versteifen und
mutwillig die Augen zumachen kann“.
Das Anfangskapitel über die Nomenklatur
und die Tonlage der Tfyot erweitert die Dar¬
stellung in Riemanns Handbuch I, 2. S. 74
bis 81. Das Problem der Ableitung des mit¬
telgriechischen und lateinischen Achttonarten¬
systems vom altgriechischen erhält eine inter¬
essante Lösung, in deren Mittelpunkt die
von Pachymeres (13. Jahrh.) und Bryennius
(14. Jahrh.) überlieferte Nomenklatur der Ton¬
arten steht. Riemann transponiert dabei alle
Tonarten in die Oktave c—c*, nach ihm die
effektive Tonlage der ägiuwlat in der prakti¬
schen Musikübung der Alten. Demgemäß
sind auch die Obertragungen byzantinischer
Gesänge vorgenommen. Ihre Rhythmisierung
durch Riemann hat seine Theorie des zwei-
taktigen Schemas mit vier Hebungen zur Un¬
terlage, nach der er bekanntlich auch die la¬
teinischen Choräle rhythmisch bestimmt hat.
Während freilich diese Theorie für die gre¬
gorianischen Gesänge nur unter prinzipieller
Ablehnung der authentischen Quellen des
Choralrhythmus aufrecht erhalten werden kann
— die ältesten Neumen sind der rhythmischen
Angaben durchaus nicht in der Weise bar,
daß es nötig wäre, ihre Rhythmik lediglich
und immer nur aus dem Gesangstexte ab¬
zuleiten — mag sie für die byzantinischen
Gesänge eher zutreffen, die ja in der Regel
poetischen Text haben. Riemanns immer wie¬
derholte und alle Möglichkeiten umfassenden
Versuche, hier zu befriedigenden Resultaten
vorzudringen, fordern Bewunderung heraus.
Man darf aber, glaube ich, die Möglichkeit
eines ganz oder zum Teile selbständigen, vom
Texte unabhängigen musikalischen Rhythmus,
der in den großen Hypostasen der byzantini¬
schen Neumen seine Unterlage besitzt, nicht
von der Hand weisen. Also denke ich mir
diejenigen Partien rhythmisiert, in welchen
der Komponist die Neumenzeichen über einer
Silbe häuft. Die Darlegung der byzantinischen
Neumen selbst, die naturgemäß den Haupt¬
umfang der Schrift einnimmt (S. 33 ff.), schließt
das jüngste Stadium aus, welches zu Beginn
des 19. Jahrh. durch die Reform des Chry-
santhes von Madytos eröffnet wurde. Mit
Recht; denn die heutige liturgische Tonschrift
der Griechen hängt mit der älteren nur mehr
lose zusammen; sie ist eine Vereinfachung,
bei der zahlreiche Zeichen ausgemerzt wurden.
Wer ihren Organismus kennen lernen will,
findet ihn in der Reboursschen Schrift dar¬
gelegt. Riemanns Untersuchungen gehen viel¬
mehr von denjenigen Neumen aus, welche
durch die Papadiken erklärt sind und die
Handschriften vom 14. bis 18. Jahrhundert
beherrschen. Die älteren Notierungen bleiben
uns vorläufig noch verschlossen; theoretische
und lehrhafte Anweisungen, wie die Papadi¬
ken, fehlen hier und man muß sich der Haupt¬
sache nach mit Analogien und Kombinationen
behelfen. Riemanns Deutungen sind sehr
scharfsinnig, liefern auch Resultate, die nicht
unwahrscheinlich aussehen. Gerade diese äl¬
teren byzantinischen Neumen führen in den
Mittelpunkt der gesamten Neumenprobleme,
da sie die Wurzel oder aber wenigstens eine
Parallelbildung zu den lateinischen Neumen
sind. Man wird daraus ermessen, wie ver¬
dienstlich Riemanns Bemühungen sind, dieses
dunkle Gebiet aufzuhellen. Indem er von den
sicher lesbaren Neumierungen der Papadiken
in die frühere Zeit rückwärts schreitet, findet
er, daß manche Zeichen ihre Bedeutung ge¬
wechselt, andere aber sie behalten haben. Am
meisten haben mich die Schicksale der Bareia
interessiert, die, in den späteren Neumen ein
großes Zeichen ohne tonischen oder Intervall¬
sinn, ursprünglich die absteigende Sekunde
bedeutet haben muß. Diese Feststellung deckt
sich mit der Geschichte des analogen lateini¬
schen Zeichens, des Gravis; beide können ein¬
ander stützen. Die ältesten griechisch-byzan¬
tinischen Neumen sind diejenigen in Hand¬
schriften von Klöstern auf dem Berge Athos,
um das Jahr 1000 geschrieben. Auch sie
werden in einigen, leider nicht so trefflich wie
die anderen gelungenen Reproduktionen vor¬
gelegt und die darin notierten Stücke im
Text der Schrift übertragen. Vielleicht wird
die Entzifferung der athontischen Neumen auf
die lateinischen ein neues Licht werfen. Auch
der in diesen Dingen wenig vertraute Leser
wird unschwer auf den Riemannschen Photo¬
graphien die lateinischen Neumen der Virga,
Virga jacens, Bi virga, des Podatus, der Bi-
stropha u. a. wiedererkennen. Die Ähnlich¬
keit der Formen der Neumen ist in die Augen
springend. Solche Tatsachen verbieten es, in
Zukunft die lateinischen Neumen noch als
eine für sich alleinstehende Schrift zu be¬
trachten oder auch direkt aus den prosodiscben
Akzenten abzuleiten. Den Beschluß der neuen,
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172
Kritiken und Referate
hoch verdienstlichen Schrift Riemanns macht
eine Tabelle, die simtiicbe byzantinische Neu¬
nten noch einmal übersichtlich zusammen stellt.
Frei bürg (Schweiz) Dr. Peter Wagoer
Ambros August Wilhelm. Ge¬
schichte der Musik. IV. Band.
3. verb. Auflage, durchgesehen und
erweitert von H. Leichtentritt
Leipzig, Leuckart 1909. Ungeb.
M. 15.—, geb. M. 17.—
Mehr als dreißig Jahre sind seit dem
ersten Erscheinen des vierten Bandes der
Musikgeschichte von Ambros verflossen, ohne
daß dieser Teil des monumentalen Werkes
es wie die vorangehenden zu einer dritten
Auflage gebracht hätte. Das mußte um so
mehr wundernehmen, als die zweite Auflage
schon nach drei Jahren nötig wurde, und als
der Gegenstand des Bandes: die Vollendung
und Nachblüte des „Palestrinastils“; die Mor¬
genröte der dramatischen Musik; die Kind¬
heit des Musikstils, unter dessen Herrschaft
wir noch heute stehen, der lebendigsten Teil¬
nahme gewiß sein durfte. Von einem Ver¬
alten des Werkes konnte keine Rede sein: so
sehr die in jenen dreißig Jahren geleistete
Forscherarbeit es bereichert hat, so wenig An¬
laß besteht, seine so sicher gezeichneten
Grundlinien zu verändern; ja man muß be¬
kennen, daß gewissen Abschnitten die neuere
Forschung gar nichts hinzuzufugen hat.
Zu vielen andern freilich um so viel mehr,
daß es nicht mehr anging, das von Ambros
hinterlassene Fragment in dem ziemlich de¬
solaten Zustand, wie es vorlag, noch ein drittes
Mal abzudrucken; und diese notwendige Auf¬
gabe des Verbessems und Ergänzens hat H.
Leichtentritt mit Geschick gelöst.
Man muß ihm vor allem Dank wissen,
daß er den Text von Ambros mit größter
Pietät und Schonung behandelt hat. Das noch
in der zweiten Auflage ganz sinnlos einge¬
reihte Kapitel über den monodischen Stil in
Rom steht jetzt an passender Stelle; ein paar
unhaltbare biographische Angaben sind durch
die richtigen ersetzt: im übrigen aber findet
man Ambros’ Werk unverändert wieder und
bleibt überall im klaren, wo der Verfasser,
wo der Herausgeber spricht.
Der Gesichtspunkt, den Leichtentritt bei
der Ergänzung eingenommen hat, war der
möglicher Vollständigkeit Er bst ver¬
sucht, durch Verwertung aller ihm erreichbaren
Eigebnisse der neueren Forschung, und durch
Benutzung der Neudrucke das Werk auf die
„Höhe der Zeit“ zu bringen: im letzten Ab¬
schnitt hat er sogar eine selbständige Ent¬
deckungsfahrt in die terra incognita der Musik¬
literatur des 17. Jahrhunderts unternommen.
Dennoch meine ich, daß der Zusatz „Fragment“
auf dem Titel der beiden früheren Auflagen
auch noch für diese gültig ist, mag auch ihr
Umfang auf das Doppelte angeschwollen sein.
Zu einem organischen Ganzen hätte das Buch
auf dem von Leichtentritt gewählten Weg
nur werden können, wenn die Forschung der
letzten Jahrzehnte von einem systematischen
Plan geleitet worden wäre; sie war jedoch
eine zufällige und ist weit entfernt von einer
gleichmäßigen Obersicht. So ist es nicht
wunderbar, wenn in der Zusammenfassung
dieser Forschung sich erhebliche Lücken zei¬
gen: die Glieder des Torsos haben sich durch
die neuen Zusätze noch kolossaler ausge¬
wachsen, ohne daß ein Oiganismus, dem kein
notwendiges Glied fehlte, daraus geworden
wäre. Es ist klar, daß mit der Vermehrung
des Stoffes die Vermehrung der geschichtli¬
chen Einsicht Hand in Hand geht, aber durch
die Fülle des Details auch der Oberblick über
das Ganze erschwert wird: war es doch schon
für Ambros nicht leicht, in dem überreichen
Stoff die Entwicklungslinien festzubalten!
Doch mußte Leichtentritt dem Charakter des
großangelegten Ambrosschen Werkes treu
bleiben, alles in einem sein zu wollen: Ge¬
schichte, Quelle, Beispielsammlung, Biblio¬
graphie und Ästhetik: ich fürchte nur, daß
in kurzer Zeit der Überreichtum des Stoffes
eine Gebietsteilung und Beschränkung zur
Notwendigkeit machen wird.
Das Ziel, das Leichtentritt sich gestellt
hat: „die umfassendste und vollständigste
Darstellung der italienischen Musik von etwa
1550 bis 1650 darzubieten, die gegenwärtig
überhaupt vorhanden ist,“ hat er sicherlich
erreicht. Dabei hat er Gewandtheit, Ver¬
trautheit mit der in Betracht kommenden
Literatur; eine leichte Darstellungsgabe — sie
ist freilich von viel geringerem spezifischen
Gewicht als die von Ambros; — ein feines
Urteil zumal über die mehrstimmige a cappella-
Musik bewiesen. Besondere Freude wird je¬
dem Kenner der monodischen Musik der Früh¬
zeit die vortreffliche, für diese Art von Musik
allein angemessene, ja mögliche Ausführung
des Basso Continuo in den dargebotenen Bei•
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Kritiken und Referate
113
spielen machen; besondere Freude auch, daß
endlich so viele unbeachtete Neudrucke alter
Musik, zumal die trotz ihrer Mangel so
wertvollen von Torchi zu Ehren kommen.
Das beigegebene Register ist ausgezeichnet
Diesen Vorzügen stehen allerdings auch
starke Schwachen gegenüber.
Der Wert des Bandes als Quelle wird
noch immer beeinträchtigt durch die große
Anzahl von Druckfehlern, die sich besonders
in den italienischen Zitaten finden. Leichten-
tritt hat offenbar ganz unterlassen, sie mit
ihren Vorlagen zu vergleichen; so steckt z. B.
das Zitat aus Doni, S. 203, voll der ainn-
störendsten Fehler; so ist Anmerkung 3) auf
S. 314 ff. ein wahrer Rattenkönig von Druck¬
fehlern; und so steht es in mehr oder minder
hohem Grade mit allen Zitaten. Der Name
Winterfelds, Jacob Burckhardts ist ziemlich
konsequent falsch gedruckt; auch der Vor¬
name des Unterzeichneten ist von diesem
harten Schicksal betroffen. — Man kann also
auch aus dieser dritten Auflage nicht zitieren,
ohne sich einer Blamage auszusetzen.
Schlimmer ist, daß Leichtentritts Ober¬
setzungen aus dem Italienischen nicht recht
vertrauenswürdig sind. Seite 271 übersetzt
er spazzacamini mit Spaziergänger: Be¬
weis, daß er auch nicht verstanden hat, was
die spazzacamini in Banchieris Pazzia se¬
nile singen. Die Stelle aus Gio. Fr. Ane-
rios Teatro Spirituale: „che si cantassero
co$e volgori e devote“ gibt er S. 80 in einem
sehr wesentlichen Worte unrichtig wieder mit
„daß sowohl Weltliches wie auch Erbauliches
gesungen werde.“ Die Oratorien wurden ge¬
rade zur Bekämpfung des weltlichen Gesangs
begründet und gepflegt: volgare heißt auch
nicht weltlich, sondern gemeinverständ¬
lich, hier im Gegensatz zur lateinischen in
italienischer Sprache. 1 ) Doch scheinen mir
solche Verstöße weniger die Folge man¬
gelnder Sprachkenntnis, als einer etwas hand¬
werksmäßigen Eilfertigkeit, die der Grund¬
schaden von Leichtentritts Tätigkeit gewesen
ist und ihre Wirkungen im Kleinsten wie im
Größten äußert. So hat er auf S. 258 das
Mißgeschick, über genau die gleiche drama¬
tische Aufführung zu berichten, die Ambros
S. 413 (S. 300 der 2. Auflage) eingehend be¬
schreibt. Dieses Kapitel „Zur Vorgeschichte
der Oper“ ist es überhaupt, das besonders
den Eindruck einer willkürlich und wahllos
zusammengetragenen Materialsammlung macht
Wenn es hier schon so vielen Ballastes be¬
durfte, warum dann ist z. B. (S. 262) aus Vasa-
ris Werk nur die eine Schilderung eines Flo¬
rentiner Karnevalszuges zum Abdruck gewählt
worden? — und in wie schlechter Obertra¬
gung! In welch anderm Zusammenhang steht
dieser Maskenzug von ca. 1511 mit der Ge¬
schichte der Oper als im alleräußerlichsten und
allgemeinsten? An Stelle dieser seitenfinessen-
den Beschreibungen wäre eine Erörterung des
Anteils, den das Madrigal an der Entstehung
der Oper, des Oratoriums, der Kantate gehabt
hat, sehr wünschenswert gewesen. Neben
der Madrigalkomödie gibt es z. B. eine Gat¬
tung, die man Madrigaloratorium taufen
könnte und die wirklich der Mutterschoß des
weltlichen Oratoriums gewesen ist. Ich denke
an Kompositionen, wie etwa die von Giaches
de Wert im 8. Buch seiner Madrigale kom¬
ponierte Szene aus Tassos Gerusalemme li-
berata (XVI, 40 ff.), wo Armida dem ent¬
flohenen Geliebten nacheilt und ihn mit von
verhaltener Leidenschaft glühenden Beschwö¬
rungen zu halten sucht — ein Werk, das
zweifellos Monteverdi zu einer seiner
Kompositionen angeregt hat (Vgl. Vogel,
V. f. M. W. III, 381.) — Freilich reichen
hier die vorhandenen Neudrucke nicht ent¬
fernt aus, und man muß sich entschließen,
den ungehobenen Schatz an Madrigalen da
und dort zu heben: eine zeitraubende Arbeit,
von der Leichtentritt kein Freund zu sein
scheint. Er hat beispielshalber das achte Ma¬
drigalbuch Monteverdis in Händen; ganz naiv
bekennt er (S. 870), daß „man aus den Stim¬
menheften keine zulängliche Vorstellung von
der Beschaffenheit der mehrstimmigen Stücke
erlangen kann.“ Freilich, man muß sie, wenn
man nicht Mozart ist, in Partitur setzen!
Es ist dieser Gesichtspunkt der Bequem¬
lichkeit, die Rücksicht auf leichte Zugänglich¬
keit der Quellen, der dem selbständig hinzu¬
gefügten Kapitel, „der monodische Kammer¬
musikstil in Italien bis gegen 1650,“ in dem
Leichtentritt etwas Geschlossenes, Organi¬
sches zu liefern das Feld offen stand, Ab¬
bruch getan hat. Ich wiederhole, daß die
mitgeteilten Proben monodischer Musik höch¬
sten Dank, die Ausführung des Generalbasses
darin größtes Lob verdienen. Um so bedauer-
*) Und nicht Anerio hat 45 (nicht 40) Jahre die Oratorien besucht, sondern der Schreiber der
Vorrede, Orazk> Griff!.
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174
Kritiken und Referate
lieber ist es, daß dies ganze Kapitel im Sta¬
dium bibliographischer Vorarbeiten und meist
oberflächlicher Analyse der Musikstücke, die
Leichtentritt in alter oder neuerer Partitur in
Berlin und Breslau vorfand, stecken geblieben
ist. Da L. keinen systematischen Überblick über
diese Literatur hat, kann er auf die eigentlich
geschichtlichen Zusammenhänge auch
nicht eingehen; sein Urteil über die Werke jener
Zeit bleibt immer an ihren rein musikalischen
Qualitäten haften; er betrachtet sie nur iso¬
liert. Dazu kommt seine sehr geringe Ver¬
trautheit mit der italienischen Literatur, ohne
deren Kenntnis man jener Zeit überhaupt
nicht beikommen kann. Leichtentritt wartet
hier auf die Vorarbeit der Romanisten; die
Romanisten dagegen warten mit Recht auf
den Vorantritt der Musikforschung! Wir be¬
tonen doch sonst immer die Notwendigkeit
unserer Disziplin für die Literaturgeschichte!
— Ein Beispiel: Leichtentritt beurteilt das in
der Berliner Bibliothek liegende Werk Tar-
quinio Merulas „Satiro e Corisca.“ (1626.)
Er weiß nicht, daß es die wortgetreue Komposi¬
tion der sechsten Szene des zweiten Aktes von
Guarinis Pastor f ido ist, jenes berühmten Dia¬
logs „der Corisca mit dem Satyr, der ihr aufge¬
lauert, sie überfällt, bei den Haaren festhält und
— sie mag schreien, jammern, fußfällig flehen,
schmeicheln, ihm versprechen, was sein Sa¬
tyrherz nur wünschen mag — den um die
Faust gewickelten Schopf nicht loslißt, bis
sie sich, fluchend, schimpfend und tobend,
losreißt, den Schopf im Stich lassend, der so
falsch wie sie selbst“ 1 ) — ein Gegenstand der
Komposition, der gewiß verschieden ist von den
sonst aus dem Pastor fido von den Ton-
setzem gewählten monodischen und dialogi¬
schen Madrigalen, und dessen Wahl Merula be¬
rechtigte, in der Widmung zu sagen, sein Werk
sei „riguardevole per l’inventione, che ö nuo-
va,“ und es sei „musica di Satiro, al cui suo-
no non cosi facilmente sapranno tutti pre-
stare armonico concento.“ Es ist die erste
große komische Szene der dramatischen Mu¬
sik; es steckt in ihr eine Reihe historischer
und ästhetischer Probleme. Wie lautet Leich-
tentritts Urteil? (S. 880) „ • • . . ein unend¬
lich langes Rezitativ, 25 Seiten Partitur, dar¬
stellend den Streit des Satiro mit der ihm
untreuen Corisca. Lebhafter Dialog, eine
Stimme immer die andere ablösend, beide
*) Klein, Gesch. des Dramas V. 201.
Stimmen singen nicht zusammen, ariose Stel¬
len kommen überhaupt nicht vor. Das Rezi¬
tativ ist als Sprachgesang gut, die Harmonie
ist mit erheblicher Freiheit behandelt, in der
Art Monteverdis, an plötzlichen Übergängen
in ganz entfernten (sic!) Tonarten fehlt es
nicht (Beispiel). Frei einspringende Septimen
nach Monteverdischer Art sind sehr häufig.”
Wer, um ein weiteres Beispiel zu nennen,
die in den Varie musiche von 1609 (nicht
1608) von Peri komponierten Gedichte auf
ihre ästhetischen Qualitäten untersucht hat,
muß Leichten tri tts formale Analyse des Werks
auf S. 786 herzlich platt finden. Den Schnitzer
von Ambros auf S. 343, eines der bekannte¬
sten Sonette Petrarcas für einen Text aus „Flo¬
rentiner Kreisen“ zu halten, hätte ein lite¬
raturkundiger Herausgeber verbessert. Ein
ähnlicher Fall ist S. 440, wo Ambros bei
einem Madrigal von Capello bemerkt, daß
„augenscheinlich Poet und Musikus im Ein¬
verständnis gearbeitet haben;” es war leicht
festzustellen, daß Ambros schwerlich im Recht
ist, da das von Marino stammende Gedicht
schon 1602 erschien.
Noch ein paar Belege für den Vorwurf
allzu flüchtiger Arbeit. Enthalten Amante
Franzonis „Nuovi Fioretti“ von 1605 wirk¬
lich Monodien? (Seite 777). Vogel bemerkt
davon nichts. — Sind die auf S. 807 angeführ¬
ten „Varie Musiche“ Vitalis üb. V. nicht
dasselbe Werk, wie das später erwähnte
„V. Buch?“ — Monteverdis „Cruda Ama-
rilü“ sei im 19. Jahrhundert nicht mehr ge¬
druckt worden? (S. 544.) Bei Torchi IV. 30
steht es samt seinem Gegenstück aus dem
Pastor fido. — Enthalten Durantes „Arie
devote“ wirklich nur Monodien? (S. 834.)
Gleich das zweite Stück „Angelus ad Pastores“
ist zweistimmig. — Die von Torchi III. 245 mit¬
geteilte Fuge, angeblich von Frescobaldi, trägt
den Stempel der Entstehung im angehenden
18. Jahrhundert an der Stirn; schon Seif-
fert (Gesch. der Klaviermusik S. 181) spricht
sie Frescobaldi ab. (S. 740, Anmerkung.)
An leicht zugänglicher Literatur hat Leich¬
tentritt nicht alles verwertet. Über Loreto
Vittorijs „Le Zitelle Cantarine“ war bei
Klein, Gesch. des Dramas V. 745 eingehende
Auskunft zu holen (513). Bei Angabe der
Quellen über die Bedeutung Mantuas für die
Musikgeschichte hätte D*Anconas schöne
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Kritiken und Referate
175
Arbeit im Giern, atorico delk lett It. V.
(1885) nicht übergangen werden sollen (536).
Solertis Quellenwerke führt Leichtentritt
zwar an, aber es scheint, daß er weder die
„Origini del Melodramma,“ noch „Musica,
Bailo e Drammatica alle Corte Medicea (Flo¬
renz 1905) benützt hat; er hätte aus letzterem
Werk entnehmen können, daß Caccinis Euri-
dice in Florenz wirklich zur Aufführung ge¬
langte (354) und zwar am 5. Dezember 1602
im Palazzo Pitti; er hätte dort nähere Be¬
richte über den musikalischen Teil der Flo¬
rentiner Feste von 1608 (395), und für S. 397
wertvolle Ergänzungen zu Emil Vogels Dar¬
stellung gefunden. Dem ganzen Kapitel über
die Theoretiker hätte die Auffrischung durch
Riemanns treffliche Geschichte der Musik¬
theorie sehr wohlgetan. Ober die Angemes¬
senheit des Platzes, den Leichtentritt dem
Excurs über Verzierungskunst in diesem Ka¬
pitel gegeben hat, läßt sich streiten.
Zum Schluß erlaube man mir noch einige
ZiffäfTE,
S. 128. Von Ant. Cifra gibt es nicht
bloß vier Bücher „Scherzi.“ Fünf verzeich¬
net Vogel; das sechste von 1619 liegt in einem
handschriftlichen Dedikationsexemplar auf der
Biblioteca Nazionale in Florenz. — Auch An¬
tonio Brunellis erstes Buch der Arie,
Scherzi etc. (op. IX, 1613), ist erhalten, wie
so manches andere Werk, das Vogel nicht
verzeichnet; ich werde darüber an anderm
Ort berichten.
S. 134. Ober Giuseppe Corsis Leben
kann ich aus einem Bericht des kurbayri¬
schen Agenten Bartoli aus Loreto vom 14. Ju¬
ni 1681, einige Mitteilungen machen. 1 ) Der
Agent berichtet:
„Venerdl sera giunse qul da Narni Cittä
della Provincia delTUmbria il Signor Don
Gioseppe Celani, persona che doppo morto
in Roma il Carissimi, hä fama di teuere il
primo luogo sopra tutti li Mastri di Cap¬
pella, con la quäl carica se ne vä al servi-
tio del Serenissimo Ducs di Parma, et ha-
vendo pur per Mastro di Cappella servito
per lo spatio de 9 anni la santa Casa (di
Loreto), ä stato qul accolto communemente
con segni di stima, e d’aflbtto; portatosi
poi il giorno seguente ä riverire Monsignor
Govematore, si compiacque SS*« 111»« mo-
tivarli, che volentieri haverebbe sentito al-
cuna sua composirione, onde Domenica sul
tardi si tenne un Oratorio nella sala vecchia
del Palazzo, la quäle benche spatiosa si
vidde tutta ripiena ä quattro ordini di se-
die, e scabdli, oltre li Astanti in piedi, e
si cantö, durata un’hora, e mezza ä 3 voci
basso, contralto, e soprano in forma di
Dialogo r Historia, come nella sacra Scrit-
tura, di Abraham, che havendo contratto
un flgliuolo di nome Jsmaele con Agara
sua Ancilla, furono ambedue da lui scao-
ciati di Casa .... E dopo si nobile cotn-
positione riuscita gratissima, furono cantate
alcune ariette, altretanto piü belle. 11 giorno
seguente fermatosi detto Signor Celani in
Loreto ad istanza d’Amici, dovevasi cantare
ä 16 voci con diversi instromenti Y Historia
diSansone, tradito da Dalila sua Con-
cubina con la morte in fine di lui, e di
copiosissimo numero de Filistei, fu provata
in Casa di Cittadino, e riusci benissimo..
Ober Corsi vergl. außer Eitner auch
Busi (Il Padre G. B. Martini, S. 68, 101).
Von einem P. F. Corsi, der Maestro di Ca»
pella di Santa Luda del Confhlone war, be¬
findet sich in der Chisiana zu Rom eine
Oper In amor vince chi fugge.“
S. 153. Ambros sieht in der Vidchörig-
keit mit Recht einen Grund für die Notwen¬
digkeit der Entstehung des Basso continuo.
Die erste gedruckte Continuostimme findet sich
vielleicht in der Spartitura der achtstimmigen
Concerti Ecclesiastid von Adriano Ban-
chieri; wenn es nicht eine wirkliche Par¬
titur ist, wie man sie besonders in Mailän¬
der Drucken um 1600 häufig an trifft. Die
beiden andern von Riemann, Gesch. der Mu¬
siktheorie, S. 411, angeführten Werke von
Deering und Bianciardi gehen bibliogra¬
phisch auf zu trübe Quellen zurück, als daß
man an ihre Existenz glauben dürfte. Da¬
gegen enthalten die 5—12 stimmigen Concerti
Ecdesiastid von Giovanni Bassano, Lib. II„
Venedig 1599, die ich in S. Petronio zu Bo¬
logna sah, einen richtigen Basso Continuo;
(„Bassi (!) per l’Organo) und zwar nur die
7—12 stimmigen Stücke. Bassano bietet seine
Orgelstimme ohne ein einziges, die Neue¬
rung ankündigendes Wort dar: Beweis, daß
es sich um einen bekannten Behelf für mehr-
chörige Werke handelt.
Zu S. 720. Die handschriftlichen
Kompositionen Frescobaldis sind nicht alle
verloren. In der Chisiana zu Rom habe ich
1906 ein Mas. Sonate von Frescobakli in
Händen gehabt (Sign. Q. IV. 25), das kaum
die Abschrift eines gedruckten Werks des
großen Ferraresen ist; wenigstens wüßte ich
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116
Kritiken und Referate
in keinem Druckwerk Frescob&ldis von einer
„Partita sopra l’Aria di Fiorenza,“ mit der
die Handschrift beginnt. In der gleichen Bib¬
liothek noch weitere Orgeltabulaturen aus der
Zeit Frescobaldis. <Q. IV. 21.)
S. 716. Sonderbar ist Leichtentritts Be¬
merkung: „daß 1608 Frescobaldis „Primo libro
de’Madrigali a 5 voci“ bei Phalöse in Ant¬
werpen erschien, muß man Fötis aufs Wort
glauben, weil das einzige früher bekannte
Exemplar des Werkes gegenwärtig verschollen
ist.“ Vogel I. 250 verzeichnet vier Stimm¬
bücher davon in Oxford; und die Widmung
des Werkes hat Cametti (Riv. mus. ital.
1908) abgedruckt, durch dessen Studie Haberl
in vielen Punkten überholt ist. So ist jetzt
die unwahrscheinliche Angabe widerlegt, daß
Frescobaldi sein ruhmreiches Amt an St. Peter
verließ, um ein Jahr lang den Organisten an
dem Kirchlein S. Lorenzo ai Monti zu ma¬
chen; so wird als sein Sterbetag der 1. März
1643 mit Bestimmtheit erwiesen. Bei Er¬
wähnung der Monodien Frescobaldi’s wäre
die ergötzliche Schilderung Doni’s (opp. II, 105)
am Platz gewesen, wie der große Meister der
Oigpl bei der Komposition eines Vokalstückes
sich über jedes ihm dunkle Wort bei seiner
Frau Aufklärung holen muß. — In der Tat
scheinen Frescobaldi’s Werke im neuen Stil
gequälte, seiner nicht ganz würdige Erzeug¬
nisse zu sein.
München Dr. Alfred Einstein
Ctesari Gaetano. Die Entstehung
des Madrigals im 16. Jahrhun¬
dert (Münchener Dissertation.) Cre-
mona, 1908. Preis M. 5.—
Ein Buch, dessen allgemeinste Ergeb¬
nisse sicherlich nicht neu sind. Daß das Ma¬
drigal in Tonsätzen der Art wurzelt, wie sie
Petrucci in den neun Büchern Frottole ver¬
einigt hat; daß es aber auch zur Frottola
in Gegensatz steht; daß der aufkommende
Petrarchismus seinen Einfluß auch auf die
Gestaltung der musikalischen Lyrik äußerte;
daß an der Weiterbildung des Madrigals die
nordländischen Tonsetzer das größte Verdienst
haben: das alles sind der Musikgeschichte
geläufige Tatsachen. In so eingehender, jede
Einzelheit durchdringender Weise ist der merk¬
würdige und wichtige Prozeß jedoch noch nicht
dargestellt worden; und das Verdienst, das
sich Cesari damit um die Geschichte des Ma¬
drigals erworben hat, ist kein geringes.
Cesari geht aus von der formalen Seite
der Frage. Was ihren literarischen Teil be¬
triffit, so vertreten unter den alten Theoretikern
des Madrigals die einen mehr den histori¬
schen Standpunkt: sie wollen den Zusammen¬
hang des cinquecentistischen Madrigals mit
der klassischen Madrigalform nicht aufgeben,
während die andern, Bembo an der Spitze,
nur das erstere im Auge haben. Hier ist
nun die Verwandtschaft des Madrigals mit der
Ballata, und seine fast völlige Identität mit
der Ca n Zonen stanze deutlich. Unter dem
Namen der Canzone taucht denn auch in den
Musikdrucken zwischen 1510 und 1530 das
Madrigal auf; Marco Cara ist hauptsächlich
der Meister, der sich ihm mit offenbar be¬
wußter Vernachlässigung der Frottola und des
Strambotto gewidmet hat Der Name des
Madrigals findet sich dann zuerst (1533) im
Libro de la Serena Valerio Doricos, der
ersten in Stimmbüchern gedruckten Samm¬
lung mit Text in allen Stimmen. In den
Texten der bis 1539 folgenden Madrigal¬
drucke überwiegt bei weitem die neue Madri¬
galform : 144 von 193 Stücken weisen sie auf;
während das klassische Madrigal nur in
verschwindender Zahl vertreten ist, darunter
mit zweien der Madrigale Petrarcas.
Cesari geht dann auf die Beziehungen
zwischen Text und Musik ein. Dem freien
Bau im Motettenstil steht gegenüber die
architektonische Behandlung, in welcher Me¬
trik, Versrhythmus, Reim ihre formbildende
Wirkung äußern. — Hier scheint mir ein,
auch von Cesari bemerkter Widerspruch zu
bestehen. Warum fallen die Madrigalkompo¬
nisten, sobald der Text ihnen durch Korre¬
spondenzen Anlaß zu musikalischen Wieder
holungen bietet, in die frottolistische Manier
zurück, während in der Auswahl der Dichtun¬
gen die freie Madrigalform so stark überwiegt?
Auch das Sonett trägt die formalistischen
Eierschalen lange mit sich herum. Verdelot
setzt z. B. in einem Sonett Petrarcas zu den
beiden Vierzeilern die gleiche musikalische
Periode, obwohl die zweite Strophe eine
starke musikalische Steigerung erfordert:
Passer mai sditario in alcun tetto
Non fü quant’io, ne fera in alcun boeco
Lagrimar sempre l f l mio sommo düetto;
Jl ridcr doglia; ü cibo assenüo e tosco; . . .
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Kritiken und Referate
177
Also bei fortschrittlicher Auswahl des
Textes befangene Auffassung und Behandlung!
Ein Rätsel bleibt auch die Wahl des Na¬
mens Madrigal für die sich bildende Kunst¬
form, da doch weder ein pastoraler Inhalt
ihn rechtfertigt, noch die poetische Form an
das klassische Madrigal erinnert; noch rät¬
selhafter, wenn Biadene mit seiner bekannten
Erklärung der Bezeichnung matricale =
rozzo, popolare, spontaneo recht hat.
Das neue Madrigal kann wenigstens mit dem
Gegenteil dieser Begriffe charakterisiert wer¬
den.
Im entwicklungsgeschichtlichen Teil seiner
Arbeit zeigt Cesari, wie nach dem Verfall
von Frottola und Strambotto, die im Quattro
cento die Kunstlyrik überwuchert hatten, sich
am Beginn des 16. Jahrhunderts eine neue
literarische Geschmacksrichtung durchsetzt,
und wie dieser Umschwung das Madrigal her¬
aufführt. Daran schließt sich eine treffliche
Analyse der Kunstmittel der ersten Madriga-
listen, und eine feinsinnige Charakterisierung
der verschiedenen Madrigalschulen: der vene¬
zianischen, der florentinischen und römi¬
schen. — Da der Wert von Cesaris Arbeit, die
mit einer für einen Italiener ungewöhnlichen
Beherrschung der deutschen Sprache geschrie¬
ben ist, auf der sorgsamen, auf volle Kenntnis
des literarischen wie musikalischen Materials
sich gründenden Ausführung beruht, so
erlaube man mir, auf sie selber dringend zu
verweisen. Ich wüßte ihr im einzelnen nur
wenige Zusätze zu machen; so z. B., daß der
Textdichter von Arcadelt’s berühmtem Ma¬
drigal „II bianco e dolce cigno“ Giovanni
Guidiccioni ist, obwohl Anton Francesco
Doni es dem Cassola zuschreibt.
München Dr. Alfred Einstein
H. Leichtentritt. Geschichte der
Motette. Leipzig, Breitkopf & Har¬
tei. 1908. Preis 8 M.
Als zweiter Beitrag zu den von H. Kretzsch-
mar angeregten Handbüchern der Musikge¬
schichte erschien im vorletzten Jahr die Ge¬
schichte der Motette, bearbeitet von H. Leich¬
tentritt. Die Aufgabe war insofern nicht leicht,
als auf der einen Seite die klassische Mo¬
tette der Niederländer und Italiener bereits
durch Ambros, die deutsche Motette durch
Winterfeld eine glänzende Darstellung erfahren
hatte, auf der andern Seite aber das bis auf
KlrstMomwik. Jthrboofa. 2S. Jahrg.
die Gegenwart bin zu bewältigende Material
ein so ungeheueres ist, daß es einer beson¬
ders geschickt disponierenden Hand bedurfte,
um den nach allen Seiten ausbiegenden Strom
des Geschehens nicht über die Ufer fluten
zu lassen. Das Buch enthält eine ziemliche
Reihe Kapitel, von denen man sagen kann,
daß sie diese Aufgabe glücklich lösen und
eine hocherfreuliche Bereicherung der Litera¬
tur bilden. Andere stehen ihnen gegenüber,
bei denen die Größe des Stoffs und die Kraft
zu seiner Bewältigung sich nicht ganz ent¬
sprachen und wir die Erwartung hegen, daß
eine spätere Überarbeitung dies Mißverhält¬
nis aus der Welt schaffen wird.
Der Verfasser beginnt mit der frühen
französischen Motette, deren Wesen und Be¬
deutung er nach den gerade im letzten Jahr-
zent so zahlreich erschienenen Neudrucken
knapp und treffend charakterisiert, ohne dabei
schon die Aubrysche Prachtausgabe der Bam-
berger Motettenhandschrift heranziehen zu
können, die wohl erst nach Drucklegung des
Buches erschien. Es folgen dann die Motet¬
tentypen der niederländischen Schulen, wobei
Josquin und Clemens non papa ihrer über¬
ragenden Stellung gemäß mit ausführlicheren
Analysen bedacht sind, folgt Orlando di Lasso,
dessen Kapitel mit ganz besonderer Hinge¬
bung geschrieben ist und mit dem nächsten
über „Palestrina und die römische Schule“
wohl eins der besten des ganzen Buches aus¬
macht. Auch sucht der Verfasser mit treff¬
lichem Gelingen nicht nur die unzähligen Ar¬
ten und Abarten der nach-josquinschen Mo¬
tette ins Klare zu stellen, die verschiedenen
Techniken der einzelnen Meister zu sondern
und anzugeben, wo das Neue und Eigenartige
liegt, das sie hinzubrachten, er spürt auch
dem poetischen Gehalte der Schöpfungen mit
feinfühlender Hand nach, macht auf den
Reichtum an wundervollen Klangmischungen,
die Fülle inneren Lebens im Stimmenorga¬
nismus aufmerksam, geleitet und vielfach an¬
geregt durch sein großes Vorbild Ambros.
Nicht minder geschickt behandelt ist der Ab¬
schnitt über die venetianische Schule mit
ihren gewaltigen doppelchörigen Motetten, das
Kapitel über die konzertierende Motette in
Venedig und Rom, wobei deren Motetti a
voce sola als Pseudomotetten, alias geistlichen
Monodien, mit Recht nur im Vorübergehen
gedacht wird. Die deutsche Motette wird in
zwei Gruppen‘dargestellt: bis zum Jahre 1600,
und von Heinrich Schütz bis Bach. Abrisse
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178
Kritiken und Referate
über die zum Teil geschichtlich noch nicht
lückenlos zu überblickende Entwicklung der
spanischen, französischen und englischen Mo¬
tette des 15. bis 18. Jahrhunderts und ein
Epilog „Die Motette seit J. S. Bach“ be¬
schließen die an feinen Bemerkungen und
manchen neuen Beobachtungen reiche Dar¬
stellung.
Neben den bekannten Anthologien von
Commer, Proske, Rochlitz, Lück usw. und
den in der letzten Zeit fortgesetzten bezw. be¬
endeten großen Gesamtausgaben und Denk¬
mälerpublikationen bildeten vor allem K. v.
Winterfelds zahlreiche, in der kgl. Bibliothek
Berlin aufbewahrten Partiturkopien die Quellen
für die Arbeit des Verfassers. Ganze Ab¬
schnitte des Buches gründen sich fast aus-
schießlich auf die Kenntnis dieser Winterfeld-
schen Musica sacra. Mit Freude wird man
gewahr, wie damit ein in der Stille vollbrach¬
tes Stück Lebenswerk dieses großen Kenners
klassischer Kirchenmusik einer späteren Ge¬
neration in neuer Form zugute gekommen
und durch unablässiges Hinweisen auf die
von ihm zusammengetragenen Schätze ihm
ein neues Denkmal gesetzt ist. Man kann
geradezu sagen, daß nur auf Grund von Win¬
terfelds Vorarbeit eine Geschichte der klassi¬
schen Motette heute gewagt werden konnte,
da das Spartieren auch nur der Werke der
allerbedeutendsten Meister das halbe Leben*
eines einzelnen erfordern würde. Indessen,
wieviele neue Namen, neue Werke hat die
Forschung seit Winterfeld aufgedeckt, wieviel
neue Quellen sind erschlossen worden, die
uns Jüngeren die Pflicht einer fortdauernden,
ebenso emsigen Sammel- und Spartierarbeit
auferlegen! Soweit zu sehen, hat nun aber der
Verfasser unseres Buches hierin neue Vorstöße
nicht zu unternehmen versucht. „Da alle diese
wichtigen Quellenwerke (Förster, Rhaw, Mon-
tan-Neuber) in Partitur noch nicht vorliegen,
so ist über Walthers Motetten vorläufig nichts
zu sagen“ (S. 318). Das Promptuarium des
Schadäus, ein „für die Geschichte der Mo¬
tette ungemein wichtiges Quellenwerk, ist leider
mangels einer Partiturausgabe nicht benutz¬
bar“ (!) (218); „leider ist nichts davon (näm¬
lich von J. Meilands Motetten) gegenwärtig
in Partitur zugänglich“ (320); „dieses Haupt¬
werk der venetianischen Kunst (A. und G.
Gabrielis Concerti) kommt gegenwärtig man¬
gels einer Partiturausgabe für das Studium
leider noch nicht in Betracht“ (221). Diese
befremdenden „leider“ wiederholen sich leider
so oft (S. 143, 103, 280, 320), daß man fra¬
gen muß, warum hat der Verfasser diesen
Leiden nicht ein schnelles Ende gemacht, in¬
dem er, das Auge auf Winterfelds 130 starke
Partiturbände gerichtet, aus jedem der von
ihm selbst als hochwichtig angesehenen und
leicht zugänglichen Sammelwerke etwa zehn
oder zwölf Motetten in Partitur setzte, nament¬
lich wenn es sich um Aufklärung über einen
mit Neudrucken nicht bedachten Meister han¬
delt. Wo sich an solchen nichts vorfand, zog
sich der Verfasser mit einem seiner bösen
„leider“ aus der Affäre. So kommt es, daß
einige Sterne am Motettenhimmel ungenügend
oder gar nicht besprochen sind. Antonio Cifra
z. B. ist als Motettenkomponist sicherlich am
besten in Rom und Bologna zu studieren.
Donfrieds „Promptuarium“ (vollständig in der
Kgl. Bibliothek Berlin) bevorzugt aber gerade
Cifra mit mehr als 20 Motetten vor allen
andern so offen, daß — abgesehen von den
in andern inländischen Bibliotheken leicht zu
erreichenden Originaldrucken — kein Deut¬
scher sich über Mangel an Orientierungs¬
gelegenheit beklagen kann. Die Erwartungen,
die Ambros vor Jahren gerade bezüglich Ci-
fras Motettenschaffen rege machte, hätten
durch die kleine Mühe des Spartierens von
einem Dutzend seiner Stücke wohl bestätigt
werden können. Wie Cifra so ergeht es aus
gleichem Grunde andern Komponisten, na¬
mentlich oberitalienischen, die bei der vor 70
und mehr Jahren allenthalben durchbrechen¬
den Begeisterung für die römische Schule an
Neudrucken etwas zu kurz kamen, z. B. Matteo
Asola und seinem Landsmann Vinc. Ruffo,
Tib. Massaini und dem sehr beliebten und
geschätzten Leone Leoni, für die die Biblio¬
theken in Berlin, Augsburg, Breslau genügend
Stimmenmaterial zur Verfügung stellen. Bres¬
lau, das sehr reich ist gerade an Drucken
oberitalienischer Meister, hätte auch zu einer
tieferen Fundierung der Bologneser Kirchen¬
musikschule (Cazzati, Cossini) gern die Hand
geboten. Was mir im Archiv von S. Petronio
in Bologna an Vokalmusik Pertis unter die
Hand gekommen ist, deutet darauf hin, daß
nicht alle seine Motetten im Stile des bekann¬
ten Adoramus gesetzt sind, sondern die In¬
strumente fleißig mitkonzertieren lassen, wie
es bei Cazzati der Fall ist.
Nicht erschöpfend ist die Darstellung der
Motette der neapolitanischen Schule. Die we¬
nigen Worte, die (S. 203 ff.) über Scarlatti,
Durante, Jommelli, später über Leo und Hasse
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Kritiken und Referate
179
gesagt sind, entsprechen nicht der Quantität
des Produzierten, das hier freilich — wenn
man auf die Editionen von Porro, Latrobe
und Novello zu verzichten gezwungen ist, wie
es beim Verfasser anscheinend der Fall war
— schwerer zu erreichen ist als sonst. La¬
trobe hätte hier in manchen Punkten am be¬
sten aushelfen können. Daß der gefeierte
Pergolesi in der Motette wenig geleistet, hätte
angemerkt werden können. Nicht genannt
sind — um einige anzuführen — Porpora,
von dem manches in Deutschland vorhanden
ist, Galuppi, Saratelli, Furlanetto, Sarti, Sac-
chini, also jene Meister, die für die venetia-
nischen Mädchenkonversatorien sicherlich eine
ganze Anzahl lateinischer Motetten geschrie¬
ben haben. Manches davon hat sich in Dres¬
den erhalten. Wenn diese Literatur auch kei¬
neswegs auf der Höhe der alten polyphonen
Motette steht, so durfte doch das Unzuläng¬
liche, was in ihr geschichtliches Ereignis
wurde, nicht ignoriert werden, denn der Laie
ist versucht zu glauben, die italienische Mo¬
tette sei im 18. Jahrhundert plötzlich in der
Versenkung verschwunden. — Unter den Eng¬
ländern hätte noch Heinrich VIII. als Verfasser
der von Hawkins mitgeteilten Motette Quam
pulchra est, unter den Spaniern und Por¬
tugiesen Fernando de las Infantas (Victimse
paschali bei Dehn, Sammlung älterer Musik
usw.) und Damian a Goes (Ne lseteris nach
Glarean-Hawkins) erwähnt werden können.
Unter den Deutschen vermißt man un¬
gern Leonh. Paminger, über den erst vor weni¬
gen Jahren (1907) K. Weinmann in diesem Jahr¬
buch eine bibliographische Studie erscheinen
ließ, ferner Joachim a Burck, von dessen in
den Eitnerschen Publikationen erschienenen
deutschen Liedern (1575) einige ins Gebiet
der Motette fallen (außerdem seine Cantiones
sacrse!), desgleichen Barth. Gesius (Concen-
tus eccles. 1607) und der durch G. Göhlers
Dissertation wieder bekannter gewordene
Zwickauer Kantor Freund mit seinen Weih¬
nachtsmotetten. Hier war eine Benutzung der
Sammlungen von Schadäus, Bodenschatz,
Montanus-Neuber unbedingt notwendig, sollten
keine Lücken bleiben. Die bekannten Tabu¬
laturen Dübens in der Universitätsbibliothek
Upsala hätten für andere Meister aushelfen
können; besonders gut vertreten sind dort
Capricomus und Caspar Förster. Der deut¬
schen Motette des ausgehenden 16. und be¬
ginnenden 17. Jahrhunderts außer Gallus,
Hasler, Prätorius und Schütz hat der Verfasser
sichtlich weniger innere Wärme entgegenge¬
bracht; ihm klingen noch die lockenden Har¬
monien der Italiener im Ohr, wenn er von
den Meiland, Calvisius, Leonh. Schröter, Greg.
Lange, Melch. Franck spricht. Diese ziehen
dabei' natürlich den kürzeren, können aber
dadurch in unserer Schätzung doch nicht an
Selbständigkeit und Eigenart verlieren. Erst
bei Schütz und Hammerschmidt gerät die
Darstellung wieder in Fluß.
Auch die Geschichte der deutschen Mo¬
tette verläuft im vorliegenden Buche schon
am Anfang des 18. Jahrhunderts im Sande,
und auch hier muß gesagt werden, daß trotz
des Abstandes, den die Literatur des empfind¬
samen Zeitalters von der der Spätrenaissance
trennt, ihre Abfertigung auf drei Seiten unge¬
recht und irreführend ist. Um den Zeitraum
von Bach bis Hugo Wolf und Rieh. Strauß
auf acht Seiten zu erschöpfen, dazu gehört
schon ein ziemlicher Mut. Von Friedr. Schnei¬
der und Bernhard Klein erfährt man gar
nichts, und nur obenhin wird der Renaissance
der alten Vokalpolyphonie zur Zeit Thibauts
und Friedr. Wilhelms IV. gedacht. Die Na¬
men Neuthardt und E Nauman hätten in Ge¬
sellschaft Commers erwähnt werden müssen.
Bei sinnigen Köpfen aus späterer Zeit wie Kiel,
Richter, Herzogenburg, Rheinberger, vielleicht
*auch bei einigen aus der cäcilianischen Gruppe
verweilte mancher gewiß länger, ließe sich
wohl auch gern über vorzügliche Könner wie
Grell etwas näher unterrichten. Da der Leser
hierzu keine Gelegenheit findet und ihm die
Motettenpflege weder im heutigen Italien, noch
Frankreich, noch England als erheblich vor-
gestellt wird, so hinterläßt das letzte Kapitel
des Buches den Eindruck eines betrüblichen
Defizits im Haushalt des neueren a cappella-,
speziell des Motettengesangs. Hier muß also
bei einer späteren Auflage entschieden ein
übriges getan und ergänzend und vervoll¬
ständigend eingegriffen werden.
Daß freilich den Historiker, der nicht nur
Palestrinas und Orlandos Stücke sondern
auch den Schatz von Motetten kleinerer Mei¬
ster des 15. bis 17. Jahrhunderts durchgear¬
beitet hat, beim Anblick der neueren Kanto¬
renmotette ein gewisses Bedauern ergreift,
und er sich nur mit halbem Herzen dem zu¬
wendet, was der Musikalienmarkt von heute
manchmal an Motetten an den Tag bringt,
wer könnte ihm das verübeln? Man wünschte,
des Verfassers ausführliche und eindringliche
Kapitel über die niederländische, italienische
12 *
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
180
Kritiken und Referate
und deutsche Motette vor Bach kämen recht
vielen unserer der Historie noch nicht ent¬
fremdeten schaffenden Musikern unter die
Hand und regte sie an, die Distanz nach
Kräften zu verkleinern, die sich zwischen der
Motette von einst und jetzt selbst fürs Auge
des Laien auftut.
Leipzig Dr. A. Schering
Veröffentlichungen der Gregorian;
Akademie zu Freiburg (Schweiz),
herausgegeben von Professor Dr.
P. Wagner.
ID. Heft. Zur spätmittelalterl.
Ghoralgeschichte St. Gallens.
S. VI und 248 von Dr. Otto Marxer,
Professor am Kollegium Maria Hilf,
Schwyz. Druck der Buchdruckerei
„Ostschweiz“, St. Gallen, 1908. Preis
Mk. 4.80; Fr. 6.—
Im III. Heft der Gregorian. Akadamie
weist Dr. Marxer darauf hin, daß die St. Galli¬
sche Gesangspflege vom 9.—12. Jahrhundert
in einem gewissen Gegensatz zu den anderen
Kirchen des Abendlandes stand, indem sie in
schriftlicher Darstellung und Vortragsweise
des liturgischen Gesanges auf byzantinische
Vorbilder zurückging. Die Folge davon zeigte
sich in einem zunehmenden Rückgang und
schließlichen Untergang (S. 1—12) des rein¬
gregorianischen Gesanges. Da man in St.
Gallen die neumenreichen Jubilationen nicht
mehr zu schätzen wußte, belegte man in den
Sequenzen und Tropen jede Note mit einer
Textsilbe, obgleich von Zeit zu Zeit aus dem
Scriptorium der Abtei noch ein oder das an.
dere Graduale und Antiphonarium hervorging.
Mit dem kirchenmusikalischen Verfall ging
auch der wissenschaftliche und religiöse Hand
in Hand, bis endlich im 16. Jahrh. ein Um¬
schwung zum Besseren eintrat (S. 14), beson¬
ders unter Abt Franz Geisberg (1504—1529),
der die alten berühmten Sequenzen und Tro¬
pen abschreiben ließ und die Abfassung neuer
Kirchengesänge veranlaßte. Eine Sammlung
derselben ist uns im Kodex 546 erhalten
(S. 23), den Dr. Otto Marxer in der vorliegen¬
den Schrift bibliographisch und bibliologisch
behandelt und zum Abdruck bringt und zwar
(zur Ehre der Buchdruckerei sei es gesagt) in
schönen Typen und 10 prächtigen Licht¬
drucken.
IV. Heft. Das Graduale Junta 1611
Ein Beitrag zur Gioralgeschichte des
17. Jahrh. von Dr. C. H. Leineweber.
Freiburg (Schweiz). S. VH und 72.
Buchdruckerei des Werkes v. Heil
Paulus, 1909. Preis Mk. 2.—;
Fr. 2.50.
Im IV. Hefte der Gregorian. Akademie
beschreibt Dr. Leineweber ein Graduale, das
1611 in der Offizin der Junta zu Venedig er¬
schienen ist, und macht an zahlreichen Bei¬
spielen alle die Fehler namhaft, die wie den
Choraldrucken jener Zeit so auch diesem
Graduale eigen sind: Unregelmäßigkeit in allen
Gesangsformen, angefangen vom Rezitativ bis
zu den reichmelismatischen Gesängen, Unge¬
nauigkeit in der Textunterlage, fehlerhafte
Stellung der Schlüssel, Mängel in den Rubriken
und Gesangstexten, Willkür in der Kürzung
der Melodie und Psalmodie, Planlosigkeit in
der Änderung der Tonfiguren, Verwischung
von Chor- und Sologesang, Verletzung der ein¬
fachsten Kompositionsgesetze usw. Der Leser
der Schrift kommt zur Überzeugung, daß der
Choralreformator änderte, was er nicht ver¬
stand und in der II. Hälfte seines Graduale
kürzte, was er in der ersten gnädig hatte
stehen lassen.
Die zwei besprochenen Werke sind von
unverkennbarem Werte für die Musikgeschichte
und können den Interessenten warm em¬
pfohlen werden.
Seckau P. Cölestin Viveil O. S. B.
Sammlung „Kirchenmusik“. Heraus¬
gegeben von Karl Weinmann.
Verlag von Fr. Pustet, Regensburg
ä 1 M.
I. Bändchen: Karl Proske, der Re¬
staurator der klassischen Kirchen¬
musik, vom Herausgeber 1909.
In unserer alles popularisierenden Zeit ist
eine neue Sammlung volkstümlich gehaltener
Schriften, welche das Verständnis der „Kirchen¬
musik weiten Kreisen zugänglich machen
sollen, lebhaft zu begrüßen. Muß ja doch
durch Eindringen in die Schönheit der Musica
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Kritiken und Referate
181
sacra ein Wall gegen alles profane und un¬
kirchliche Element geschaffen, der Sinn und
Geschmack für eine der erhabenen Liturgie
würdige Musik geweckt und veredelt, aber
dann auch so die Liturgie selbst in ihrer ein*
drucksvollen Größe und Wahrheit dem Her¬
zen des Volkes näher gebracht werden. Dar¬
um wird jeder Freund einer echten Kirchen¬
musik dem Herausgeber wie dem Verlag Dank
wissen, daß sie ein derartiges Unternehmen
ins Leben riefen. Möge jedoch dieser Dank
nicht beim bloßen Gefühle stehen bleiben,
sondern auch durch eifrige Abnahme und Lek¬
türe der gebotenen Schriften die Lebenskraft
des Werkes fördern.
ln pietätvoller Weise hat nun der Heraus¬
geber dem Restaurator der klassischen Kirchen¬
musik, Karl Proske, das erste Bändchen ge¬
widmet. Damit führt er uns am besten in die
Erfassung des Ursprungs und Werdegangs der
kirchenmusikalischen Reform des 19. Jahr¬
hunderts und damit der Musica divina selbst
ein. Klar treten aus dem Lebens- und Cha¬
rakterbilde Proskes die treibenden Faktoren
der Liebe zur Liturgie, des Glaubenslebens
der Romantik und der Tradition hervor, wel¬
che zur Repristination des Palestrinastils in¬
nerhalb der katholischen Kirche führten. Ein
„Rückblick und Ausblick“ zeigt uns in ge¬
drängter Kürze das Wirken der bedeutendsten
Männer, die in Proskes Spuren gewandelt und
durch Arbeiten von bleibendem Werte frohe Zu-
kunftshoffhungen geweckt haben. Ein Anhang
stellt uns Proskes nie rastende, edle, begei¬
sterte Persönlichkeit durch Wiedergabe des
Tagebuches seiner ersten italienischen Reise
unmittelbar vor die Seele. Von allgemeinstem
Interesse sind besonders die Mitteilungen über
Entstehung und Anlage der einzigartigen sog.
Proskeschen Musikbibliothek in Regensburg,
welche nun durch die weitblickende Huld Sr.
Excellenz des Bischofes Dr. Antonius von Henle
allen Musikgelehrten erschlossen und dem
verdienten Verfasser dieses Schriftchens zur
Verwaltung übergeben worden ist. Vielleicht
wird uns letzterer bei einer zweiten Auflage
auch in den theoretischen Teil der Biblio¬
thek mehr einführen, der im vorliegenden
Bändchen verhältnismäßig zu kurz gekommen
ist und wird dann für die Periode des Pale-
strinastiles eine andere Benennung Anden als
die eines „Zurückgreifens auf das Mittelalter“,
dem doch weder der Meister von Praeneste
noch Orlandus angehört hat.
n. Bändchen: Elemente des grego¬
rianischen Gesanges von Dr.Peter
Wagner, o. Prof. a. d. Universität
Freibarg (Schweiz). 1909.
Die mächtige Stimme der Geschichte, die
das großartige wissenschaftliche Forschen des
19. Jahrhunderts so sehr geweckt hat, ist nun
auch im Heiligtum der Musica divina erschol¬
len und fordert gebieterisch ihren Tribut, mag
auch der Gehorsam liebgewordenen Gewohn¬
heiten von Dezennien nur schmerzlich ent¬
sagen. Aber die Kirche, als Hüterin der
Wahrheit und unverfälschten Tradition hat
sich niemals den wahren Ergebnissen wissen¬
schaftlicher Arbeit verschlossen; sie fordert
durch den Mund ihres Oberhauptes Rückkehr zu
den geheiligten Oberlieferungen, denen das
größere Recht der Geschichte zukommt und
die, um so unmittelbarer aus dem Geiste der
Kirche geboren, am reinsten und ursprüng¬
lichsten im kirchlichen Choral verkörpert sind.
Zeigt uns daher das erste Bändchen in Leben
und Wirken Proskes die Rückkehr zum über¬
lieferten polyphonen Gesang — so führt uns
die vorliegende Schrift in die Elemente des
überlieferten einstimmigen Chorals bei der hei¬
ligen Liturgie der Kirche ein. Der Verfasser
klärt uns in der Einleitung über Begriff, Wesen
und Eigenschaften, sowie über Notwendigkeit
und Nutzen des Studiums des Chorals auf
und geht sodann im I. Kapitel zur Betrach¬
tung der Choralgeschichte über. Ein weiteres
Kapitel erläutert die Ausführung des Chorals
nach Tonbestand, Notenschrift, Vortrag, wo¬
bei namentlich für die Orgelbegleitung höchst
beachtenswerte Winke gegeben werden. Im
dritten Kapitel ist die Theorie des gregoriani¬
schen Gesanges behandelt, so besonders Ton¬
system, Tonarten, Melodiebildung und Rhyth¬
mus, während ein Abriß der Formenlehre das
Ganze abschließt. Der reichhaltige Inhalt ver¬
rät überall den genauen Kenner, sowie den
warmbegeisterten Verteidiger der unverfälsch¬
ten Tradition und der würdigen Feier der Li¬
turgie. Fast immer tritt der historische Stand¬
punkt der Betrachtung hervor, so daß wir bei
der lebensvollen Darstellung vor unserem gei¬
stigen Auge gewissermaßen die einzelnen Stufen
des Chorals sich aufs neue entwickeln und
Leben gewinnen sehen. Würde das Bändchen
in einer neuen Auflage noch mehr das prak¬
tische Moment berücksichtigen, so würde es
für Chorallehrende und Lernende wohl eine
noch größere Bedeutung gewinnen.
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182
Kritiken und Referate
m. Bändchen: Cantus Ecclesiastici
juxta Editionem Vaticanam, quos ad
usum Clericorum collegit et illustravit
P. Dominicus Johner 0. S. B.
Fast gleichzeitig mit der Schrift Professor
Dr. Wagners über die Elemente des gregoria¬
nischen Gesanges ist als deren willkommene
Ergänzung eine rein praktische Zusammen¬
stellung der bei den heiligen Verrichtungen
gewöhnlich vorkommenden Gesangesweisen
erschienen. Das Büchlein vermittelt bei ge¬
ringem Umfang und bequemem Taschenformat
eine vorzügliche Übersicht der betreffenden
Choralpartien aus Missale, Officium und Pon-
tiflcale. Zum Verständnis der Choralschrift
ist überall, wo es notwendig erscheint, die
neuzeitliche Schreibweise der Noten beigefügt,
außerdem die am häufigsten sich einstellenden
Fehler bei der gesanglichen Wiedergabe des
Chorals gekennzeichnet und richtiggestellt
Der lateinische Erklärungstext läßt die Schrift
auch über die deutsche Sprachgrenze hinaus,
besonders für Priesterseminarien, als höchst
empfehlenswert erscheinen, um den Choral
nach der Vorschrift der Encyclica Plana sin¬
gen zu lernen.
Regensbuig Dr. Wilhelm Scherer
Bachjahrbuch 1008. Im Aufträge der
neuen Bachgesellschaft herausgege¬
ben von Arnold Schering. Leip¬
zig, Breitkopf & Härtel. Preis M. 4.
Zum fünften Male geht heuer diese von j
den Bachfreunden nun schon als vertraute
Bekannte begrüßte Publikation in die Welt.
„Will man heute unsere Stellung zu Bach
charakterisieren, so wäre dies etwa mit zwei
Worten gesagt: Aufdeckung des Gefühhls- !
gehaltes und Deutung der Absichten Bachs,
die die Physiognomik seiner Werke bestim¬
men“ Dieses treffende Wort, das A. Heuß
in seiner hermeneutischen Studie über die
Matthäuspassion geprägt hat, scheint nach
und nach auch seitens des Bachjahrbuchs als
Leitmotiv erkoren zu werden. So wird der
neue Jahrgang durch eine umfassende „Aus¬
drucksstudie“ von W. Voigt über die drei
ersten Teile des Weibnachtsoratoriums einge¬
leitet, der sich weiterhin ein ähnlicher klei¬
nerer Beitrag von Heuß über die Textauf¬
fassung des Kantatenchors „Brich den Hung¬
rigen dein Brot“ anschließt. Das damit be¬
rührte Forschungsgebiet, sowie praktische An¬
regungen in der Art von R. Buchmayers
nur leider sehr unangenehm polemischen
Studie „Cembalo oder Pianoforte“ oder Max
Schneiders Ausführungen über „Bearbei¬
tung Bachscher Kantaten“ haben jedenfalls
das Hauptarbeitsfeld einer Publikation wie
das „Bachjahrbuch“ zu bilden. Daneben sind
dann auch bio-bibliographische Beiträge (B. Fr.
Richter: „Über S. Bachs Kantaten mit ob¬
ligater Orgel“) und reinbiographische Studien
(R. Buchmayer: „Nachrichten über das
Leben Georg Böhms mit spezieller Berück¬
sichtigung seiner Beziehungen zur Bachseben
Familie.“) willkommen. Das meiste Interesse
in katholisch kirchenmusikalischen Kreisen
wird das diesmalige Bachjahrbuch aber durch
den darin teilweise abgedruckten Vortrag Ed¬
gar Tinels „Pie X. et la musique sacröe“
erregen, der die sicherlich vielen unerwartete
These aufetellt, daß nicht ein Zurückgehen
auf Palestrina, sondern auf Bach jene Reform
der kirchlichen, spezifisch katholischen Figu-
ralmusik zu erreichen sei, wie sie Pius X.
im Motu proprio dringend fordert. Stellung
zu dieser Anschauung zu nehmen, geht im
Rahmen einer kurzen Buchanzeige natürlich
nicht an; jedenfalls aber wird Tinel als einer
der einflußreichsten Musiker katholischer
Konfession durch seine Anregung auf die
weitesten Kreise nicht nur seines Landes,
sondern der gesamten Musikwelt wirken.
Starnberg Dr. Engen Schmitz
Jahrbuch der Musikbibliothek Peters
1908. XV. Jahrgang. Herausgegeben
von Rudolf Schwartz, Leipzig, C.
F. Peters, 1909. Preis M. 4.—
Der Herausgeber versteht es seinen Lesern
Wein in goldenen Schalen zu bieten: Guido
Adler eröffnet das Jahrbuch mit einem hoch*
interessanten Aufsatz über Heterophonie;
ihm folgt H. Abert mit: J. G. Noverre und
sein Einfluß auf die dramatische Balletkompo¬
sition; daran schließt sich H. Kretzschmar:
„Zwei Opern Nicolo Logroscinos“ (mit
einer Musikbeilage) und „Die Jugendsin¬
fonien Joseph Haydns“; den Abschluß
bildet das mühevolle, aber äußerst schätzens¬
werte „Verzeichnis der in allen Kul.
turländern imjahre 1908 erschienenen
Bücher und Schriften über Musik.“
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Kritiken und Referate
183
Eine Empfehlung des wertvollen Buches er¬
übrigt sich; die Namen der Verfasser der
einzelnen Aufeitze bürgen für die Gediegen¬
heit des Inhalts, wenn man auch zuweilen
ein Fragezeichen — z. B. zum Einleitungs¬
auhatz — setzen wird.
K. W.
Jahrbuch der Zeit- und Kulturge¬
schichte 1908. H. Jahrgang. Heraus¬
gegeben von Franz Schnürer. Frei¬
burg i. Br. Herder. 1909. Preis geb.
M. 7m
Bei der Besprechung des 1. Jahrgangs
dieses wertvollen Jahrbuches haben wir ein
Referat des Leipziger Musikgelehrten Alfred
Heuß angeführt, das die stiefmütterliche Be¬
handlung der Musik und die gänzliche Aus¬
schaltung der Kirchenmusik bedauerte. Die¬
sem Mangel hat nun der umsichtige Heraus¬
geber abgeholfen und wir können mit Freuden
ein Urteil des gleichen Referenten über den
vorliegenden 2. Jahrgang zitieren: (Zeitschrift
der Internationalen Musikgesellschaft X, 11/12»
S. 370): „Sehr zu begrüßen ist es, daß der
Anteil der Musik ein ganz anderer wie im
letzten Jahrgang geworden ist. An erster Stelle
findet man einen Aufsatz über „Kirchliche
Musik“ ... ferner über Oper und Konzert.
Gegenüber den paar Seiten im letzten Jahr¬
gang präsentiert sich jetzt die Musik mit über
20 Seiten quantitativ und qualitativ in ganz
anderer, sehr vorteilhafter Weise.“ Möge
dem 3. Jahrgang eine ebenso günstige Auf¬
nahme beschieden sein!
Mühler-Gattss, Kompendium der ka¬
tholischen Kirchenmusik. Ravens¬
burg, F. Alber, 1909. Preis geb.
M. 5m.
Das Kompendium besteht aus 3 Teilen.
Der l.Teil enthält „Geschichte und Ästhetik“,
der 2. Teil „Theorie und Praxis“, der 3. Teil
„Orgel- und Glockenkunde“. Man muß den
Verfassern nachrühmen, daß sie ihren Stoff
wohl beherrschen und in gefllliger Form zur
Darstellung gebracht haben; freilich wird bei
einem solchen Werke in einer Neuauf¬
lage manches berichtigt, manches ergänzt
werden müssen. Vielleicht entschließen sich
die Verfasser auch bei dieser Gelegenheit den
2. und 3. Teil, der allzuviel Detail enthält,
etwas zusammenzuziehen, damit das Kompen¬
dium an Einheitlichkeit gewinnt, einen etwas
niedrigeren Preis erhält und so jene weite
Verbreitung erlangt, die dem praktischen
Buche in allen Interessentenkreisen vollauf
gebührt.
Springer Max, The art of accom-
panying plain chant. Translated
from the German by the benedictine
fathers. New York, J. Fischer & Bro.
Der Verfasser hat mit seiner „Kunst der
Choralbegleitung“ und „Der liturgische Choral¬
gesang“ (Regensburg, H. Paweleck) zwei
Bücher geschaffen, die mit zu dem Besten ge¬
hören, was die neueste Literatur auf dem
Choralgebiete aufeuweisen hat: überall zeigt
sich der erprobte Fachmann, dem es nicht
nur um eine richtige, sondern auch um eine
künstlerisch wertvolle Choralbegleitung
zu tun ist, ein Moment, das in unserer Kir¬
chenmusik vielfach gar sehr im Hintergrund
steht. Das obige Buch ist die englische Über¬
setzung von Springers deutschem Werk. Dem¬
selben empfehlende Briefe voranzudrucken,
hat der amerikanische Verleger natürlich noch
weniger unterlassen können, wie der deutsche,
— eine Praxis, die man bei wissenschaftlichen
Werken für gewöhnlich nicht gewohnt ist.
K. W.
Missale Romanum in 480. EditioXTV.
post alteram typicam. Regensburg,
Fr. Pustet, 1909. Preis ungebunden
M. 4.50.
Das Messbuch der hl. Kirche. La¬
teinisch und deutsch mit liturgischen
Erklärungen bearbeitet vonP. Anselm
Schott. 12. Auflage. Freiburg, Her¬
der. Preis geb. M. 3.50.
Das Missale Romanum der Firma
Pustet enthält als typische Ausgabe, wie sie
der Priester am Altäre gebraucht, alle Meß-
formulare des ganzen Kirchenjahres; für die
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
184
Kritiken und Referate
acht bayerischen Diözesen ist ein gemeinsames
Proprium erschienen. Die vorliegende Edition
bildet ein Novum in der liturgischen Fach¬
literatur und ist in ihrer äußerst gefälligen,
kleinen Form bestimmt, das Gebetbuch für die
lateinkundigen, speziell für unsere akademisch
gebildeten Laien zu werden.
Das Schottsche Meßbuch wendet sich
an einen anderen Kreis der Kirchenbesucher,
an die des Lateins unkundigen Gläubigen. Es
ist kein Zweifel, daß ein solches Gebetbuch
ein innigeres Mitleben und Mitfuhlen mit
unserer wundersamen kirchlichen Liturgie —
im engsten Anschluß an dieselbe — ermög¬
licht und besonders Kirchensängern und
-Sängerinnen gute Dienste leistet, zumal auf
Kirchenchören, wo kein Choral gesungen wird.
K. W.
Weber Wilhelm, Beethovens Missa
solemnis. Nene durch einen Anhang
erweiterte Ausgabe. Leipzig, F. E. C.
Leuckart Preis M. 1.50.
Beethovens unvergängliches Meisterwerk
hat in Prof. Weber einen begeisterten Inter¬
preten gefunden. Beruht auch diese Interpre¬
tation auf subjektivster Gefühls- und Gedan¬
kenarbeit — deren Gipfelpunkt jedenfalls die
Exegese der Meßteile S. 79 ff. bildet — so
müssen wir doch gestehen, daß der Verfasser
mit feinem psychologischen Verständnis dem
Menschen und Künstler Beethoven nachge¬
gangen ist. Die Frage nach der „Kirchlichkeit“
der Messe hält Weber für eine „müßige“: „Die
Missa solemnis ist viel zu subjektiv, um
objektiv kirchlich zu sein“ (S. 63); und damit
hat er auch das Richtige getroffen. Außer der
ungarischen Stadt Pest, wo die Messe meines
Wissens alljährlich zur Aufführung kommt,
wird es wohl kaum mehr einen größeren ka¬
tholischen Kirchenchor geben, der in gänzlicher
Verkennung der katholischen Liturgie, das
Riesenwerk in den Rahmen derselben zwingen
möchte. Für Konzertaufführungen aber dürfte
die Studie des Verfassers — besonders die
treffliche musikalische Analyse (Kap. IX.) —
ein sicherer Führer zum geistigen Erfassen
und Miterleben sein.
K. W.
Moesmang Max, Geschichte der Alt-
öttinger Stifts- und KapeUmaslk.
Ein Beitrag zur Geschichte der Kir¬
chenmusik in Bayern. Altötting, L.
Steiner, 1909.
Die größeren bayrischen Städte, besonders
wenn Klöster und Stifte dort bestanden, haben
eine reiche musikalische Vergangenheit hinter
sich; ich erinnere an Regensburg, dem der
t Dr. Dominikus Mettenleiter eine heute noch
geschätzte „Musikgeschichte“ widmete (Regens¬
burg 1865k Augsburg und Nürnberg, die
den Brennpunkt des musikalischei^Mittelalters
bildeten (vgl. Sandberger, Denkmäler Bayer.
Tonkunst Jahrg. V, 1), an München, wo ein
Orlando und seine großen Nachfolger wirk¬
ten usw. Auch der berühmte Wallfahrtsort
Altötting kann sich einer regen musikalischen
Tätigkeit rühmen. Ist es auch nur eine be¬
scheidene Studie, die uns der Verfasser bietet,
so beruht sie doch auf zuverlässigem Quellen¬
material. Beginnend mit dem Ende des
15. Jahrhunderts entrollt uns M. ein bewegtes
Bild voll interessanter Einzelheiten bis herauf
in unsere Tage. (Vgl. auch Kirchenmusikal.
Jahrbuch 1897.) „Ad multos annos“ ruft der
Verfasser dem jüngsten Kapellmeister L. Mu-
ckenthaler, der seit 1900 eine neue glück¬
liche Periode der Altöttinger Kapellmusik in¬
augurierte, am Schlüsse seiner Geschichte zu
— an Weihnachten hat man den unermüd¬
lichen 38jährigen Kirchenmusiker zu Grabe
getragen, — eine wehmutsvolle Ergänzung der
kleinen Studie. K. W.
Franke, W. F., Theorie and Praxis
des harmonischen Tonsatzes. Hand-
und Lehrbuch für den Unterricht
und das Studium der Theorie der
Musik. 2.neubearb. Auflage. Leipzig,
F. E. G. Leuckart, 1909. Preis3Mk.
Eine Harmonielehre, — um den lang¬
atmigen Titel kurz auszudrücken — die den
Stoff in klarer und übersichtlicher Weise und
namentlich in einer ausreichenden Anzahl von
Obungsbeispielen zur Darstellung bringt.
Wenn in einem neuhinzugefügten Kapitel die
Harmonisation des „Chorals“ behandelt wird,
so ist darunter nicht der „gregorianische“
Choral, sondern der Choral der evangelischen
Kirche zu verstehen. K. W.
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Kritiken und Referate
185
Riemann Hugo, Musiklexikon. 7., voll¬
ständig umgearbeitete Aufl. Leipzig,
M. Hesse, 1909. Preis geb. M. 10.50.
Ober die Gediegenheit dieses Musiklexi¬
kons ausführlich zu sprechen, hieße Wasser
in die Donau tragen; es genügt zu sagen: das
Riemannsche Musiklexikon ist das beste,
das wir besitzen. Wenn ich speziell die Km
chenmusiker wiederholt auf das Werk aufmerk¬
sam mache, so geschieht es deshalb, weil
vielfach die irrige Meinung besteht, das Lexi¬
kon behandle nur die weltliche Musik und
lasse die Kirchenmusik abseits liegen. Nichts
ist unrichtiger als das; freilich soll damit nicht
gesagt sein, daß die einzelnen Teilgebiete der
Musica sacra die gleich sichere Bearbei¬
tung erfahren haben. Wo das musikhisto¬
rische Moment in Frage kommt, ist jeder
Artikel ein Beweis für die peinlich-genaue
Arbeitsweise des Herausgebers — ich ver¬
weise z. B. nur auf die Komponisten-Namen
der klassischen Polyphonie; — wo aber der
Verfasser das liturgische Gebiet betritt, da
beginnt der Boden unter seinen Füßen zu
wanken. Zum Beweise hierfür greife ich
z. B. den Artikel „Messe“ heraus, der unter
anderem folgenden Satz enthält: „Weiter
unterscheidet man stille Messen, bei denen
nur der zelebrierende Priester und die Mini¬
stranten singen, und Ämter, bei denen auch
Diakon und Subdiakon außer dem Chor sin¬
gen, für welch letzteren allein auch mehr¬
stimmiger Gesang mit oder ohne Instrumental¬
musik zur Anwendung kommen kann. Missae
breves sind nur bezüglich der Ausdehnung
und der angewandten Kunstmittel einfachere
Formen der Missae solemnes.“ Von dem
Leipziger Musikgelehrten wird gewiß nie¬
mand die liturgischen Kenntnisse eines
katholischen Theologen fordern, aber diese
heiklen Gebiete verlangen eben einen Fach¬
mann; musterhafte Beispiele, wie diese
Artikel ungefähr abgefaßt werden sollen,
gibt z. B. das treffliche „Kirchliche Hand¬
lexikon“ von M. Buchberger (Allgemeine
Verlagsgesellschaft, München-Berlin). Wir
zweifeln nicht, daß dieser kurze, sachgemäße
Hinweis für den hochverehrten Herausgeber
Veranlassung sein wird, bei einer Neuauflage
die betreffenden Artikel durch einen Fachge¬
lehrten um- oder wenigstens überarbeiten zu
lassen, damit sein Musiklexikon auch in dieser
Sparte über alles Lob erhaben sei. K. W.
Riemann-Festschrift. Gesammelte
Studien. Hugo Riemann zum sech¬
zigsten Geburtstage überreicht von
Freunden und Schülern. Leipzig,
Max Hesses Verlag, 1909. Preis
M. 8.—
Eine ungemein vielseitige und darum
natürlich nicht ganz gleichwertige Sammlung,
die aber immerhin manchen beachtenswerten
Baustein zur Ästhetik, Theorie und Geschichte
bringt Von kirchenmusikalischen Beiträgen
seien hervorgehoben: Mocquerau und Beys-
sac: „De la transcription sur lignes des no-
tations neumatique et alphabötique ä propos
du R&pons Tua sunt;“ H. A. Gaisser, „Die
Antiphon Nativitas tua und ihr griechisches
Vorbild;“ Fr. Ludwig, Die liturgischen Or¬
gana Leonins und Perotins; Hermann Müller,
„Der Musiktraktat in dem Werke des Bar-
tholomseus Anglicus De proprietatibus rerum;“
P. Runge, Maria muter reinü malt; K. Wein¬
mann, „Ein unbekannter Traktat des Johan¬
nes Tinctoris;“ M. Brenet, „Notes sur l’in-
troduction des instruments dans les öglises
de France.“ Es ist natürlich ausgeschlossen,
hier auf diese, wie man sieht, meist Detail-
fragen aus der mittelalterlichen Musikge¬
schichte behandelnden Studien näher einzu¬
gehen; so möge die Konstatierung genügen,
daß sie in ihrer Gesamtheit eine Fülle inter¬
essanter neuer Gesichtspunkte erschließen.
Die verhältnismäßig weitesten Linien spannt
der Aufsatz von Friedrich Ludwig, „Die Or¬
gana von Leonin und Perotin,“ der eine sehr
interessante, an historischen Schlaglichtern
reiche Perspektive auf die Musikentwicklung
des 13. Jahrhunderts, in deren Brennpunkt
diese Werke stehen, eröffnet.
Starnberg Dr. Eugen Schmitz
Joseph Haydns handschriftliches
Tagebuch ans der Zeit seines zwei¬
ten Aufenthaltes in London. Her¬
ausgegeben von J. E. Engl.
Leipzig, 1909; Breitkopf & Härtel
Preis M. 3.—
Mit der vorliegenden Publikation hat das
Salzburger Mozarteum eine dankenswerte Gabe
zum Haydngedächtnisjahr beigesteuert. Das
aus den handschriftlichen Schätzen der Anstalt
von Archivar J. E. Engl veröffentlichte Tage¬
buch Haydns, das der Meister auf seiner
zweiten Londoner Reise (4. Februar 1794 bis
12 **
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
186
Kritiken und Referate
15. August 1795) führte, ist ja an sich kein
bahnbrechendes historisches Dokument; es
bietet nicht etwa eine zusammenhängende
autobiographische Schilderung jenes für Haydn
so erfolgreichen Aufenthalts in der gastlichen
Themsestadt, dessen Anregungen wir „Schöp¬
fung“ und »Jahreszeiten“ verdanken, sondern
besteht nur aus zusammenhanglosen kurzen
Notizen über künstlerische Erlebnisse, Schil¬
derungen von Reiseeindrücken, Anekdoten
usw. Allein fehlt so dem Inhalt auch die or¬
ganische Einheit, so bietet das Ganze doch
einen in seiner Art aufschlußreichen neuen
Beitrag zur Erkenntnis der liebenswürdigen
Künstler- und Menschennatur Haydns und
wird schon aus diesem Grunde allen Freunden
des Altmeisters eine liebe, werte Gabe sein.
Ganz abgesehen davon aber enthält es auch
manche kunst- und kulturgeschichtlich sehr
interessante Aufschlüsse; Haydn war in Le¬
ben und Kunst ein scharfer Beobachter und
bei aller Einfachheit und Bescheidenheit zur
rechten Zeit auch ein schlagfertiger Kritiker.
So überliefert uns sein Tagebuch u. a. eine
Reihe köstlicher Glossen aus dem Musikleben
und -treiben der vornehmen Londoner Welt;
interessante Volkssitten und -bräuche werden
gestreift, und auch manche politische Schlag¬
lichter fallen herein, so daß uns aus diesen
schlichten, vergilbten Tagebuchblättern ein
buntfarbiges, vielseitiges Bild entgegentritt,
das seinen eigenartigsten Reiz durch die ge¬
niale Künstlerpersönlichkeit des Schreibers
erhält. Die Textkritik erscheint, soweit sich
dies ohne Kenntnis des Originals beurteilen
läßt, vom Herausgeber mit Sorgfalt behan¬
delt Da auch die äußere Ausstattung des
Büchleins, die ein gutes Porträt des Meisters
und einige Faksimiles der Originalhandschrift
bringt, sich sehr vorteilhaft gibt, wird es dem
hübschen „Tagebuch“ am Beifall der Haydn¬
freunde nicht fehlen.
Starnberg Dr. Eugen Schmitz
Joseph Haydn und das Verlags¬
haus Artaria. Von Franz Artaria
und Hugo Botstiber. Artaria &
Co. Wien 1909.
Joseph Haydn und Breitkopf & Här¬
tel. Von Hermann v. Hase. Breit¬
kopf & Härtel. Leipzig 1909. Preis
M. 2.50.
Es sind zwei musik- und kulturhistorisch
interessante Beiträge, die die beiden Verlags¬
häuser mit vorstehenden Schriften zur heu¬
rigen Haydn-Zentenarfeier geboten haben. Na¬
mentlich die Publikation von Artaria bringt
neben der Zusammenstellung des bereits in
Nohls „Musikerbriefen“ und Pohls Haydn¬
biographie Veröffentlichtem manches seither
noch unbekannte Briefmaterial des Meisters
ans Tageslicht. Es kommt dabei neben dem
originellen Gesamtbild auch viel neues, wenn¬
gleich nicht eben epochemachendes Detail zu¬
tage. Mit Artaria stand Haydn von 1779
an bis zu seinem Tode (1809) in Geschäfts¬
verbindung. In den letzten zehn Jahren, als
Österreich seit 1797 unter den Wirren der
Napoleonischen Kriege litt, und infolgedessen
natürlich auch der Musikalienhandel starke
Einbuße erfuhr, hatten freilich die Beziehun¬
gen zu der Wiener Musikfirma die frühere
Bedeutung verloren. Nun wurden Breitkopf
& Härtel in Leipzig, mit denen Haydn erst¬
malig 1789 in geschäftliche Verbindung trat,
Hauptverleger des Meisters. Diese Firma
schickte nicht nur die populärsten Früchte
von Haydns schaffensfrohem Alter, die „Schöp¬
fung“ und die „Jahreszeiten“ in die Welt,
sondern betrieb damals bereits den Plan jener
Gesamtausgabe der Haydnschen Werke, die
nunmehr hundert Jahre später endlich zur
Tat geworden ist. Auch die Breitkopf & Här-
telsche Publikation bringt neues briefliches
und sonstiges dokumentarisches Material, er¬
scheint somit als schätzbarer Quellenbeitrag
zur Haydnbiographie. Man trifft dabei auf so
manche zeitgeschichtlich interessante Notiz;
wenn z. B. Haydn mit dem Verleger wegen
des Honorars für sechs Sonaten „mit Akkom¬
pagnement“ unterhandelt, so erscheint diese
Bezeichnung „mit Akkompagnement“ als eine
deutliche und merkwürdige Erinnerung an
das Generalbaßzeitalter, wo man auch bei
Pianofortekompositionen oft nur Baß und Me¬
lodie notierte und die Ausfüllung der Mittel¬
stimmen — eben das „Akkompagnement“ —
der Improvisation des Spielers überließ. Gegen
Ende des 18. Jahrhunderts freilich waren diese
Traditionen schon im Aussterben begriffen,
und im Generalbaßspiel die Musikliebhaber
nicht mehr so ferm wie ihre Väter und
Urgroßväter: daher Hayndns Angebot von
Sonaten mit „Akkompagnement.“ — Beide
Schriften sind im übrigen auch mit reichem
Bilder- und Faksimileschmuck versehen, re¬
präsentieren sich also äußerlich wie inhaltlich
gleich vorteilhaft.
Starnberg Dr. Eugen Schmitz
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Kritiken und Referate
187
Mozart als achtjähriger Komponist.
Ein Notenbuch Wolf gangs. Zum
ersten Male vollständig und kritisch
herausgegeben von Dr. Georg Schfi-
nemann. Durchgesehene, verbesserte
Ausgabe. Leipzig, Breitkopf & Här¬
tel. Preis M. 3.—
Ein interessanter Quellenbeitrag zur viel¬
erörterten „Wunderkindsepoche“ des Gro߬
meisters hat das aus der Zeit von Mozarts
Londoner Aufenthalt im Jahre 1764 stam¬
mende Skizzenheftchen bezüglich dieser seiner
Bedeutung sehr stark abweichende Wertun¬
gen erfahren. Während der Herausgeber in
der Vorrede meint, es kündige sich in den
kleinen Tonstücken, die es enthält, schon der
„fertige Mozart“ an, kommt ein, im übrigen
sehr sachlich gehaltenes Referat der Zeitschr.
der Intern. Musikgesch. Jahrg. X., Seite 181 f.
zu dem entgegengesetzten Resultat, daß diese
Publikation infolge der satztechnischen Un¬
sicherheit, die sie auf Schritt und Tritt ver¬
rät, ganz dazu angetan sei, die Tradition von
Mozart, dem selbtschaffenden Wunderkind,
zu zerstören. Beide Ansichten dürften wohl
über das Ziel hinausgehen; die schroffe Ab¬
lehnung namentlich hat doch zu wenig berück¬
sichtigt, daß es sich bei den vorliegenden
Stücken nicht um fertig ausgefeilte Kompo¬
sitionen, sondern größtenteils um ganz flüch¬
tig hingeworfene Skizzen handelt, worauf
schon der Charakter der Handschrift hin¬
deutet. Daraus erklärt sich auch die große
Ungleichwertigkeit des Ganzen, das höchst
mangelhafte mit durchaus korrekten Stücken
paart; die letzteren sind eben augenscheinlich
sorgfältig ausgearbeitete Studien. Daß manche
Stücke, wie z. B. namentlich die vom Her¬
ausgeber ziemlich ungerechtfertigt hervorge¬
hobene „Fuge“ noch starke Lücken in der
satztechnischen Fertigkeit des jugendlichen
Künstlers erkennen lassen, wird niemand be¬
streiten, aber bei einem achtjährigen Kind
muß eben doch ein relativer Wertmaßstab
angelegt werden. So manche Härten und
Leerheiten des Satzes werden übrigens ver¬
schwinden, wenn man berücksichtigt, daß die
Kompositionen noch dem Continuozeit-
alter angehören, mithin auf improvisa¬
torische Ausfüllung derMittelstimmen
gerechnet ist. Manchmal tritt neben dem
klaviertechnischen auch ein ausgesprochen
orchestraler Charakter zutage, so z. B.
zu Anfang von Nr. 28. Von den knappen,
an der Spitze der Publikation stehenden Stück¬
chen sind im übrigen manche in Erfindung
und Ausführung so anmutig und reizvoll,
daß sie, etwas bearbeitet, wohl als dankbare
Unterhaltungsstückchen im jugendlichen Kla¬
vierunterricht Verwendung finden könnten.
— Um die Editionstechnik zu beurteilen,
müßte man das Original zur Hand haben;
immerhin gewinnt man den Eindruck, als ob
der Herausgeber in der Freude über seinen
Fund manchmal es etwas an der nötigen kri¬
tischen Vorsicht habe mangeln lassen. Trotz¬
dem verdient er unseren Dank für die Ver¬
mittlung des Neudrucks, der, mag man über
seinen speziell künstlerischen Wert denken
wie man will, jedenfalls für alle Mozartfreunde
von großem Interesse ist
Starnberg Dr. Eugen Schmitz
Cahn-Speyer Rudolf, Franz Seydel-
mann als dramatischer Komponist
301 Seiten. Leipzig, Breitkopf & Här¬
tel, 1909. Mk. 7.50
Seydelmanns Name lebte vornehmlich in
seinen Kirchenkompositionen fort. Nur ein
Teil derselben ist auf uns gekommen, den
das „chronologisch-bibliographische Verzeich¬
nis“ des vorliegenden Buches mit Angabe der
Fundorte nennt. Der Verfasser macht jedoch
nicht Seydelmanns Kirchenstücke, sondern
dessen dramatische Musik zum Gegenstand
seiner Forschungen.
Zuerst bietet das Buch eine aktenmäßige
„Lebensbeschreibung Seydelmanns“, wobei die
Werke des Künstlers festgestellt werden. Der
Verfasser bringt hierzu zahlreiches, neues
Material bei und vermag auch auf das Dres¬
dener Musikleben jener Zeit, auf Naumann,
Schuster und Paer interessante Streiflichter zu
werfen. Hierauf erfahren die Singspiele und
Opern Seydelmanns (die schöne Arsene, der
lahme Husar, la serva scaltra, il capriccio cor-
retto, la villanella di Misnia, il mostro ossia
la gratitudine amore, il Turco in Italia, Amor
per oro, Circ6) eine ausführliche Besprechung
sowie Einstellung in die Operngeschichte.
Hierbei unterscheidet aber der Verfasser zu
wenig zwischen den einzelnen Richtungen der
neapolitanischen Schulen (z. B. S. 51, 94/5)
und hebt deren verschiedenartige Bestre¬
bungen nicht deutlich genug hervor, wie er
auch mit den Traetta, Teratella, Jommelli zu
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
188
Kritiken und Referate
wenig vertraut scheint. Darunter leiden
manchmal etwas die Urteile. Nach Cahn-
Speyers Darlegungen läßt die „Arsene“ eine
„Verschmelzung deutscher und italienischer
Stilelemente“ erkennen und gehört zu jenen
deutschen Singspielen, die zur „Entstehung
einer ernsten deutschen Oper beigetragen
haben“ (S. 87/68). Der „lahme Husar“ nähert
sich der „reinen Gattung des Singspiels“,
wenngleich auch er sich nicht ganz den ita¬
lienischen Einflüssen entziehen kann (S. 69).
In diesem Stücke interessiert die Romanze
Michels („Im Schwabenland im Dorfe Styr“),
in der die Begleitung mit Rücksicht auf den
wechselnden Inhalt der einzelnen Strophen
Wandlungen erfährt. Die „Serva scaltra“, die
der Entstehung nach vor diese beiden Singspiele
anzusetzen ist und als Frucht der italienischen
Eindrücke gelten kann, zeigt keine persönlichen
Züge. Ein hübsches Beispiel zur Geschichte
des Leitmotivs findet sich bei den Urteilsaus¬
sprüchen der Magd (S. 75). Nur wenig kam
in „il Capriccio corretto“ das Libretto dem
Musiker entgegen. Wo aber dies der Fall
war, da taute Seydelmann auf und schrieb
„bedeutende und charakteristische Musik“
(S. 78). In bemerkenswerter Weise leitet hier
die Ouvertüre in das 1. Rezitativ über und
nimmt nach diesem wieder seinen Fortgang,
wozu m. E. die Ouvertüre von Jommellis
„Fetonte“ hätte in Vergleich gesetzt werden
können. Im Accompagnato Anden reichere
instrumentale Mittel Verwendung; „von dra¬
matischer Wucht“ ist das Rezitativ und die
Arie Dilicatis erfüllt. Hübsche komische Wir¬
kungen, an denen auch das Orchester (Soli
einer Violine und eines Kontrabasses) Anteil
hat, treffen wir in den Partien Narcissos. Wie
in dieser Oper, so übte auch in der „Villa-
nella di Misnia“ der minderwertige Text auf
die Komposition eine lähmende Wirkung aus.
Auf einer ganz anderen Stufe stehen „il
mostro“ und „il Turco in Italia“ hinsichtlich
der Szenenkomposition, der Instrumentierung
(Bläser) und der Chorbehandlung (S. 82).
Während „Amor per oro“, in der wir eine
Steigerung der Orchestertechnik bemerken,
gegenüber diesen Stücken zurücktritt, erregen
in der Solokantate „Circö“ die Accompagnati
unser besonderes Interesse (S. 95).
Nach den Opern behandelt der Verfasser
Seydelmanns Lieder und Oratorien (la Betulia
liberata, Gioas, Rö di Giuda, la morte d’Abele)
von denen er ,4a morte d’Abele“ nicht tyir
als das bedeutendste Werk, das der Künstler
geschrieben, sondern auch als „eines der be¬
deutendsten Werke, die von der ganzen Hasse¬
seben Schule nach Hasses Tode hervorge¬
bracht worden sind“, erklärt (S. 99). In der
„Zusammenfassung“ sucht der Verfasser ein
Gesamtbild des Opernkomponisten Seydelmann
zu entwerfen undmit besonderem Nachdruck des¬
sen Ausnahmestellung in Dresden hinsichtlich
des deutschen Charakters der Opern darzutun.
Im Anschluß an das bereits erwähnte
„chronologisch - bibliographische Verzeichnis“
macht der Verfasser in diplomatisch getreuer
Weise von einer Reihe von Aktenstücken aus
dem Kgl. Hauptstaatsarchive in Dresden Mit¬
teilung. Von Seite 130 bis 301 reicht dann
der gestochene Notenteil. Es wird vielleicht
nicht an Stimmen fehlen, die sich gegen diesen
überreichen Notenteil wenden werden. Gewiß
könnte manche mitgeteilte Stelle in Wegfall
kommen. Im Ganzen genommen aber müßte
man m. E dem Verfasser Dank wissen, daß
er Mühe und Opfer nicht gescheut hat, uns
mit einem so umfangreichen, unbekannten
Notenmaterial bekannt zu machen, das in den
Stand setzt, uns auch selbst ein Urteil über
Seydelmann zu bilden. Leider hat es der
Verfasser unterlassen, der Buchausgabe seiner
Arbeit ein Register beizugeben.
Das Buch, das durch Theodor Kroyer an¬
geregt worden ist, hat als Dissertation gedient,
und zeigt die Vorzüge der Münchener musik¬
wissenschaftlichen Schule.
Marburg a. L. Dr. L. Schiedermalr
Georg Böhm, Kantate „Mein Freund
ist mein, und ich bin sein“. Bearbeitet
von Rieh. Buchmayer. Leipzig, Breit¬
kopf & Härtel.
Die von R. Buchmayer aufjgefundene
Kantate hat auf dem letzten Bachfest in Chem¬
nitz ihre erste Neuaufführung erlebt und all¬
gemeines Entzücken hervorgerufen. Vier Solo¬
stimmen (Sopran, Alt, Baß, Tenor) singen in
vier köstlichen Solostücken mit geradezu
schwärmerischer Hingebung ihren Seelenbräu¬
tigam an; zwei prachtvolle Chöre mit Instru¬
mentalbegleitung rahmen ihre Sätze ein. Nun
liegt endlich diese Perle alter Kantatenkunst
in ausgezeichneter Bearbeitung und Einrich¬
tung fürs moderne Konzert vor.
Leipzig Dr. A. Schering
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Inhaltsverzeichnis
Aufsätze
Agostino Steffani. Biographische Seite
Skizze von Dr. Alfred Einstein—
München. 1
Beiträge zur Geschichte des
französischen Orgelspiels von
Direktor Ernst v. Werra—Beuron. 37
Surgit in hac die. Liturgisch-musi-
kalische Studie zur Auferstehungs¬
feier in Böhmen von Prof. D. Orel—
Prag. 50
Kleine Beiträge
Choralgesang und Kunstgesang
von Dr. H. Löbmann—Leipzig. 05
Die Sektion für Kirchenmusik
auf dem 111. Kongreß der Inter¬
nationalen Musikgesellschaft
in Wien 1909. 104
Alte und moderne Kirchenmu¬
sik. Historisch-kritische Bemerk¬
ungen zur Theorie und Praxis vom
Herausgeber. 107
Zur Urgeschichte des deutschen
Kirchenliedes von Professor Dr.
H. Müller—Paderborn. 113
Ober gregorian. Choralgesang. 117
Zur Geschichtedes altrussischen
Kirchengesanges von Professor
Dr. P. Wagner—Freiburg (Schw.). 123
Ein musikalischer Besuch in
deutschen Lehrerseminarien
von Dr. A. Möhler—Steinhausen. 130
Die Generalversammlungen des
Cäcilienvereins von P. R.Johandl
—Göttweig. 139
Was tut unserer Kirchenmusik
vor allem not? (Wiener „Kongress-
Bericht“). 144
Der kirchenmusikalische In¬
struktions-Kurs in Pilsen 1909
von P. V. Vacek—Tepl. 145
Papst Gregor der Große ein Ire?
von Dr. Grattan Flood—Enniscorthy
(Irland). 147
Kritiken und Referate
I. Musik-Werke
Denkmäler deutscher Tonkunst. Erste
Folge, Band XXXIV. — Neve
Deudsche Geistliche Gesenge
für die gemeinen Schulen.
Herausgegeben von Johannes
Wolf. (Univ.-Doz. Dr. Schering-
Leipzig). 148
Denkmäler der Tonkunst in Österreich.
XVI. Jahrgang.Erster Teil. Heinrich
Isaac,Choralis ConstantinusII.
Herausgegeben v. Anton v. Webern.
Denkmäler der Tonkunst in Österreich. 149
XVI. Jahrgang. Zweiter Teil. Johann
Albrechtsberger, Instrumen¬
talwerke. Herausgegeben von Oskar
Kapp. (Univ.-Doz. Dr. Schmitz-
Starnberg). 150
Orlando di Lasso. Sämtliche Werke.
19. Band. Herausgegeben von F. X.
Haberl. 152
Werke von Jakob Obrecht 1.&2.
Heft Herausgegeben von Johannes
Wolf. 154
Heinrich Schütz. Historia von
der Geburt Jesu Christi. He¬
rausgegeben von Arnold Schering.
(Dr. Leichtentritt—Berlin). 157
P. Hartmann von An der Lan-
Hochbrunn. Septem ultima
verba Christi in cruce. Ora¬
torium in zwei Teilen. (Univ.-Doz.
Dr. Schmitz—Starnberg). 150
Gauss Otto. Orgelkompositionen
aus alter undneuer Zeit. I.—111.
Band. 159
Diebold Johannes. Orgelstücke
moderner Meister. I.—III. Band.
(Der Herausgeber). 150
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
(90
Inhaltsverzeichnis
U. Bücher und Schrift*«
Cboralbücber.
Ritus Miss« ecclesiarunt orien-
taiium ed. Maximilianus, Prioc.
Reg, Saxonum Dux I.—V. Fase;
Riemenn Hugo, Dte byzantinische
Notenschrift im 10 —15. Jahrhundert.
(Univ>Prof. Dr- Wagner — Freibure
SehwJ
A tnbros-Ceiehren«»».. Geschichte
der Musik IV- Band-
Cesarl/Gaefanb» Die Entstehung
dSsMftdrigsisira 10. (Dr. Ein-
stem-MSneheo).
Lejehientritt H., Geschichte der
Motette;. '(yniv.-tte®, Dr. Schering—
Leipzig).
der Gregor.
Aksdeffiia in Fr ei borg (Schw.)
III. Heft, Dr, Mgrxeiri Zur Spät-
mittelalterlichen Choralgeschichte
St. Gallerts.
IV. Heft, Dr. Leineweber, Das Gra¬
duate Junta 1611. (P. ViveJI 0,S. B.
Seckau).
Sammlung Kirchenmusik.
I. Öd 0 Weidmann, Karl Proste.
11. „ W a g ner, EJeroentedes gregor.
Gesanges.
III. Bd., Johner 0. S. B., Cantus ee-
etesiasttej (Prof. Dr. Scherer^-
RegensbUrg).
Bach-Jahrbuch 1808. (Dr, Schmit 2 —
Starnberg). '
Jahrbuch der Musikbibliothek
Peters 1908 .
Jahrbuch der Zeit- und Kultur¬
geschichte I9C®.
Möbler-Gaus», Kompendium der
kÄÖihi, KifCbenmasik.
Springer The art ofaccompanying
plaia eftant. -/ ’.y V.v‘ : .
Missa)* Roman um.
Schote, Das Meßbuch der bl. Kirche.
Wehef> Bectöovetts Missa solemnis.
M oe s ma n ^ Geschichte der Altöufnger
Stifts- and Kapellmusik. . . ;
Franke, Theorie und Praxis des har¬
monischen Torieatzes,
Riemaan, MuHktexikp». (DerHeraus¬
geber).
R icm an r,. Festschrift
Engl, jös. Haydns haiateehriftl. Tage¬
buch.
Ärtan'a-Botstiber, Job; Haydn und
das Veriagshaus Arten».
Hase v-, Jos. Haydn und Breitkopf &
Härtel.
Sch üoemantt, Mozart als achtjähriger
Komponist. (Dr. Schmitz—Starnberg).
Gähn-Speyer, Franz Seydeltnanu als
dramatischer Komponist. (Univ.-Doz.
Dr. Schiederaiatr -Marburg}.
Böhm, Kantate. (L’oiv.-Doz. Dr. Sche¬
ring--Leipzig).
An die H. H. Mitarbeiter
Einsendungen (Aufsätze. Kleine Beitrage, Kritiken und Referate) für
den 24. Jahrgang 1911 mögen bis l. Oktober 1910 erfolgen:
An die Redaktion des Kircheumusikaiischen Jahrbuchs
Dr. Kart Wefmitänn, Regenaburg, Aibertstra&e TI.
Co gli
Anzeigen zum Kirchenmusikalischen Jahrbuch
Verlag von Friedrich Pustet in Regensburg:
PIUS X.
Ein Lebensbild
nach der italienischen Originalausgabe
von Dr. Luigi Daelli.
Übersetzt und fortgeführt
von Dr. Gottfried Brunner,
Professor am Kollegium der Propaganda in Rom.
In reich koloriertem Umschlag geheftet JH 6.—
In Original-Kaliko-Einband mit Reliefpressung M 8.—
An Stelle jeder weiteren Anpreisung dieses Papstbuches
bringt die Verlagshandlung nachstehend die empfehlenden Worte
Sr. Exzellenz des Hochwürdigsten Herrn Bisohofs von Regens¬
burg zum Abdruck, mit denen Hochderselbe das Buch einzuführen
die Gnade hatte:
Die Verlagsanstalt Pustet hat mich gebeten, dem Buche einige
empfehlende Worte mit auf den Weg zu geben. Es soll mir nicht schwer
fallen.
Es hat einmal jemand gesagt, immer habe er gefunden, daß ein Buch sich
am besten und ganz vorzugsweise zum Geschenke eigne; denn immer wieder
kehre man, und zwar in besonders guter Stunde, zu ihm zurück und immer
wieder erinnere man sich mit besonderer Freude des freundlichen Gebers.
Dies kann nun freilich nicht von jedem Buche gesagt werden, sondern nur
vom guten Buche. Das Buch muß einen wirklich edlen seelischen Genuß
bereiten. Es muß in uns das Gefühl eines seligen Momentes zurücklassen.
Ein solches Buch ist das vorliegende Papstbuch. Was uns an dem
Bache besonders anspricht, ist die Naturtreue und die Frische der Darstellung.
Alles ist mit weicher, warmer Feder geschrieben. Der Verfasser nennt es
ein Lebensbild. Das trifft auf jedem Blatte zu. Zug um Zug ist es dem
Leben abgelauscht. Nichts Überschwengliches, nichts Aufdringliches, nichts
die Bescheidenheit Verletzendes, kein Hauch von bloßer Phantasie findet sich
in ihm. Der Verfasser will nur schildern, was er, was andere, was Bekannte,
Verwandte, Freunde, Altersgenossen des Gefeierten als kostbare Erinnerungen
aus dem Leben mit sich herumtragen. Und darum ist die Schüderung so
unmittelbar und partienweise so rührend und ergreifend, daß das Herz sich
unwillkürlich dem Manne zuneigt, der selbst alle Herzen elektrisiert.
Wir werden deshalb nicht fehlgehen, wenn wir das Buch zu dem
Besten zählen, was bisher über das Leben des Heiligen Vaters erschienen
ist. Was dann seinen Wert noch besonders erhöht, ist der überaus reiche
Bilderschmuck. Wir zählen über 200 Illustrationen, ein wahres Panorama
für alt und jung.
So liegt denn der WunBch nahe und ihm sei hiemit lebhaft Aufdruck
Verehrung hat es geschaffen, Liebe und Verehrung möge es wecken allüber¬
all, wo die Hand des Heiligen Vaters segnend ruht!
Regensburg, den 28. Oktober 1908.
f Antonius, Bischof von Regensburg.
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Go gle
Original from
UNIVERSETY OF MICHIGAN
Vorzügliche Orgelliteratur.
In ttnserm Verlage erschien:
Klassisches Prima-Vista-Album. MÄSÄ
Orgel oder Harmonium von W. Wilden, op. 7. 5 M.
„Ein praktisches Werk für jeden Orgelspieler, insbesondere für jene, denen
die Gabe des freien Phantasierens nur in geringem Maße beschieden ist, und denen
technische Fertigkeit noch abgeht.“ („Schles. Volksztg.“)
4A Tnnc+ftrl/ö in den gebräuchlichsten Dur- und Moll-
OU IvIUliw 1 UU 0 IUWK.C tonarten für Orgel oder Harmonium von
J. Spanke. 2.40 M.
„Äußerst empfehlenswerte kurze Tonstückchen zum Abspielen. Würdig,
ernst und lieblich zum Anhören, sind sehr würdig.“ („Cäcilia“, Straßburg.)
PlPYlA Or^flA 68 Festvor- und -nachspiele für die Orgel ge-
I IvllU V/I gäUU« sammelt und heraisgegeben von A. Jos. Monar,
op. 15. 6.50 M.
„Diese Sammlung längerer, feierlicher Orgelstücke, von lebenden, rühmlichst
bekannten Kirchenkomponisten, gehört zum Besten, was die kath. Orgelliteratur
besitzt . . . tt („Nord-Amerika.“)
= Verzeichnis wertvoller Kirchenmusikalien =
gratis und franko.
Jnnlermaimsctie Bncbhandlnng, Paderborn.
figt Die wirkungsvollsten Festspiele S3
zur Auffahrung mit lebenden Bildern
sind Domkapitular H. F. Müllers
Oratorien und geistlichen Festspiele.
jfG* Bereits in über 8000 Städten mit großartigem Erfolge aufgeführt.
Klavierauszüge bereitwilligst znr Ansicht.
Fulda. Alois Maier
Königl. Hof - Musikverlagshandlung.
In jedem Klause, wo gute Musik gepflegt wird, sollte auch eine
= HAUS-ORGEL ==
(Harmonium, amerik. Saugsystem) zu finden sein.
Herrlicher Orgelton. Prächtige Ausstattung.
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von großer Bedeutung.
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sa Sammlung ss
ausgezeichneter Kompositionen für die Kirche
von Stephan Lück, Domkapitular.
Neu herausgegeben von Michael Hermesdorff und Heinrich Oberhoffer.
Vier Bände. Kl.-Quart in prachtvoller Ausstattung.
Band I enthaltend 0 vierstimmige Messen. 160 & Mk. 2.40.
„ 11 enthaltend 9 drek vier- und sechsstimmige Messen. 184 S. Mk. 2.40.
„ UI enthaltend 44 drei-, vier-, fünf-, sechs-, acht- und neunstimmige Motetten. 192 S. Mk. 2.40.
„ IV enthaltend 47 vier-, fünf- und sechsstimmige Motetten. 232 5. Mk. 2.40.
Das ganze Werk in 2 Bände gebunden Mk. 12.—. & Jeder Band ist auch apart zu haben, ff
Die ersten 2 Auflagen dieser herrlichen Sammlung waten in auffallend kurzer Zeit ver¬
griffen, wozu die warme Empfehlung vieler Hochw. Herren Bischöfe beigetragen hat.
Von den früheren durch Herrn Dr. F. X. Haberl
herausgegebenen, hochinteressanten Jahrgängen des
Kirchenmusikalischen Jahrbuches sind noch vorhanden
und werden zu den nachstehenden antiquarischen
Preisen verkauft:
Die Jahrgänge
1876 bis 1883 und
1885
für Mk.
5.50
tt ft
1886 „ 1889
n
n
4.50
tt rt
1893 „ 1897
ft
rt
6-
ff ff
1898 „ 1901
v
tt
6.—
ft ff
1902 „ 1905 und
- OHO —-
1907
tt
rt
7.50
Die Jahrgänge 1908 (XXI. Jahrg.) und 1909 (XXII. Jahrg.),
herausgegeben von Dr. K. Wein mann werden geneigter Ab¬
nahme empfohlen.
Preis jeden Jahrganges Mk. 3.40, in Leinwandband Mk. 4.—
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Original fro-m
UNIVERSETY OF MICHIGAN
Neue römische Choralbücher
(Editio Vaticana)
und darauf bezügliche Literatur aus dem Verlage von
Friedrich Pustet in Regensburg.
Qraduale S. Roman« Ecclesia? SS. D. N. Pii X. Pont Max.
jussu restitutum et editum. Edit. Ratisbon. juxta Vaticanam. 928 S.
in 8°. ln solidem Halbfranzband mit Rotschnitt Mk. 6.—
Kyriale seu Ordinarium Missae cum Missa pro Defunctis
juxta ed. Vaticanam. Ed. VI. 8®. rv und 124 S. In Leinwandband 1.30
Kyriale parvum sive Ordinarium Missae ex ed. Vaticana a SS. D. N.
Pio PP. X. evulgata excerptum. 48 S. in 12°. In Leinwandband —.50
Commune Sanctorum juxta ed. Vaticanam a SS. D. N. Pio PP. X.
evulgatam. 82 Seiten in 8 °. In Leinwandband 0.90
Missa pro Defunctis, Toni Communes Missae necnon Modus can-
tandi Alleluja tempore Paschali secundum octo Tonos juxta ed. Vati¬
canam a SS. D. N. Pio PP. X. evulgatam. IV und 36 Seiten in 8*.
In Leinwand kartoniert 0.45
Organum comitans ad Kyriale seu Ordinarium Missae
etad Missam pro Defunctis, quod juxta ed.Vaticanam harmon. omavit
Dr. Fr. X. Mathias. 152 Seiten in Hoch-Quart. In Halbfranzband 6.30
Organum comitans ad Commune Sanctorum, auctore
Dr. Fr. X. Mathias. 124 S. in Hoch-Quart In Halbfranzband 4.70
Gradualbuch. Auszug aus der Editio Vaticana mit Choralnoten,
Violinschlüssel, geeigneter Transposition, Übersetzung der Texte und
Rubriken, herausgegeben von Dr. K. Weinmann. IV und 658 Seiten
in 8°. In Doppelleinwandband mit Rotschnitt 4.—
In Halbchagrinband „ „ 4.60
Epitome ex Editione Vaticana Gradualis Romani von
Dr. Fr. X. Mathias. Ausgabe auf 5 Linien in moderner Notation.
XXIV und 1098 Seiten in 12®. In Halbfranzband 5.60
Kyriale seu Ordinarium Miss« et Missa pro Defunctis. (Mit
moderner Notation.) Ed. VII. 140 Seiten. Von Dr. Fr. X. Mathias.
In Leinwandband 1.10
-Dasselbe. Komplette Volksausgabe. 248 Seiten in Taschen¬
format (32°). In Leinwand kartoniert —.50
Officium pro Defunctis cum Missa et Absolutione nec non Exse-
quiarum ördine. Ed. Ratisb. juxta Vatic. 96 S. in 8°. In Leinwandb. 1.-
-Dasselbe. Ausgabe in moderner Notation von Dr. Fr. X. Mathias.
In Leinwandband 1.—
Johner P. Dom. O. S. B., Neue Schule des gregorianischen Choral¬
gesanges. 314 Seiten in 8°. In Leinwandband 2.65
Französische, englische, italienische Ausgabe sum gleichen Preis.
-Cantus Ecclesiastid juxta editionem Vaticanam.
In Leinen kartoniert Mk. 0.80; in Original-Leinwandband 1.—
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
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Ein neues Verlags-Unternehmen
der Firma Friedrich Pustet in Regensburg:
Sammlung „Kirchenmusik“
herausgegeben von Dr. Earl Weinmann.
Die Sammlung „Kirchenmusik“ will bei der Überproduktion auf kompo¬
sitorischem Gebiete durch kurzgefaßte, billige Handbücher einfuhren in Theorie
und Praxis der Kirchenmusik und so die hohen Ideale verwirklichen helfen,
die Papst Pius X. in seinem Motu proprio vom 22. November 1903 vorgezeichnet
hat Was man sonst nur mühsam und zerstreut findet, soll in der S. K. durch
erprobte Fachmänner nach einheitlichem Plan zusammengestellt werden. Die
8. IL wird demgemäß enthalten: Lehrbücher für Theorie und Praxis, Einführung
in die Schönheit kirchlicher Liturgie und Kunst, Biographien hervorragender
Kirchenmusiker zur Nachahmung und Begeisterung.
Was die Eigenart der S. K. richtunggebend bestimmt, ist: praktisch¬
handlicher Charakter, wissenschaftliche, der neuesten Forschung entsprechende
Korrektheit, prägnante Kürze und lebensvolle, populäre Darstellung. Jedes
Bändchen ist in sich abgeschlossen: alle vereint sollen eine erschöpfende
„Kirchenmusikalische Handbibliothek* 4 bilden.
Bereits erschienen sind:
Karl Proske, der Restaurator der klassischen Kirchenmusik.
Vom Herausgeber.
Mit diesem Bändchen eröffnet© der bekannte Regensburger Musikgelehrte
Dr. Weinmann die vielversprechende Sammlung „Kirchenmusik“. Wir begrüßen
es mit ganz besonderer Freude, daß gerade eine Aufzeichnung des so reich be¬
wegten Lebens des in den Annalen der Geschichte der Kirchenmusik epoche¬
machenden Kanonikus Dr. Proske (1794—1861) an der Spitze steht. Trotz der
bereits veröffentlichten Biographien ist die vorliegende, von Meisterhand ge¬
schriebene und von jedem trockenen Gelehrten staub freie Arbeit keineswegs
überflüssig. Die noble Ausstattung und die sehr fein ausgeführten Bilder und
Faksimiles erhöhen den Wert des Ganzen. Vivant sequentes.
K. Walter, Montabaur, im Gregoriusblatt, Düsseldorf.
Elemente des Gregorianischen Gesanges. Zur Ein-
führung in die Vatikanische Choralausgabe. Von Universitätspro¬
fessor Dr. Peter Wagner, Freiburg (Schweiz).
In diesem billigen Büchlein gibt der bekannte Choralforscher und -Schrift¬
steller, Dr. Wagner, Professor an der katholischen Universität zu Freiburg in
der Schweiz, in aller Kürze dem Lernbegierigen das Notwendige und Wissens¬
werte über den Gesang der Kirche zum Studium. Ich wüßte nichts Besseres
und Kurzgefaßteres auf diesem Gebiete in solcher Vollständigkeit und Klarheit
bei Vermeidung jeder Weitschweifigkeit, als diese „Elemente des gregorianischen
Gesanges“. H. Tappert in Ohio Waisenfreund, Columbus, 1909.
Cantus Ecclesiastici juxta editionem Vaticanam quod ad
usum Clericorum collegit et illustravit P. Dom. John er 0. S. B.
Monachus Beuronensis.
Kompendium der Notenschriftkunde von Dr. phii. et
' mus. Hugo Biemann t Prof. d. Musikwissenschaft a. d. Univer¬
sität Leipzig. Mit 20 Übungsbeispielen zum Übertragen.
(Doppelb&ndchen, Preis geb. 2 Jt.)
Preis eines Einzel-Bändchens gebunden 1 Mark.
. Weitere Bändchen sind in Vorbereitung.
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